Alice Schwarzer schreibt

Abschied von Margarete Mitscherlich

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Es war mein xtes Interview mit ihr und der vorletzte Besuch in ihrer so modernen, hellen, heiteren Wohnung im Herzen von Frankfurt. Beim letzten Besuch, Mitte Mai, habe ich für sie gekocht. Spargel. Denn Margarete interessierte sich nicht die Bohne fürs Kochen – aber umso mehr fürs gute Essen.

Wir haben ein paar Stunden lang geschwatzt, geklatscht und gelacht. Wie immer. Ja, es stimmt: Margarete konnte sehr scharf sein in ihrem Urteil über Menschen, wie jetzt in einigen Nachrufen beklagt wird. Aber sie blieb immer voller Verständnis, selbst für GegnerInnen.

In den fast 40 Jahren, in denen wir befreundet waren, habe ich niemals erlebt, dass Margarete Mitscherlich mich oder einen anderen Menschen psychoanalytisch interpretiert hätte. Im privaten Kontext hat sie gänzlich auf die Macht des Verstehens, ja Durchschauens verzichtet. Ließ man sich doch einmal dazu hinreißen zu sagen: Margarete, ich hatte da so einen bizarren Traum, was soll das bedeuten? - lachte sie und antwortete: Das musst du schon selber wissen.

Wie sie überhaupt gerne lachte. Aus Lebensfreude oder aber auch aus Menschenkenntnis. So sind sie, die Menschen... Hierarchien und Machtverhältnisse waren ihr ein Gräuel. Schließlich war die kleine Margarete Nielsen in Dänemark aufgewachsen, wo der König Fahrrad fuhr und ihr irgendwann auch mal am Briefkasten begegnet war. Diese Begegnung hat sie jahrelang amüsiert. König? Na und!

Margarete war das sehr geliebte Kind eines einfühlsamen dänischen Landarztes und seiner Frau, eine stolze deutsche Lehrerin. Die Mutter hat die kleine wilde Tochter bis zum Alter von acht zuhause unterrichtet. Wir dürfen davon ausgehen, dass dies mit wenig Disziplin und viel Empathie geschah.

Dennoch blieb die Mutter für die Tochter lebenslang ein Rätsel. „Ich bin Psychoanalytikerin geworden, um meine Mutter zu verstehen“, hat Margarete einmal zu mir gesagt in einem der zahlreichen Interviews, die ich über die Jahre mit ihr gemacht habe. Diese Mutter hatte der Tochter zwei „Aufträge“, wie es in der Psychologie heißt, mit auf den Weg gegeben: 1. Liebe Deutschland! 2. Sei emanzipiert!

Die Mutter, eine geborene Leopold, war die Tochter von Pelzhändlern, die ihre vermutlich jüdische Herkunft verschleiert hatten, um weniger Ärger zu haben. Sie hatte spät geheiratet, eine Vernunftehe nach einer ewig betrauerten „großen Liebe“, und lebenslang ihre frauenrechtlerisch bewegten Freundinnen zu Besuch. An allen dänischen Nationalfeiertagen litt die Mutter hinter zugezogenen Vorhängen an Migräne, an den deutschen flaggte sie fröhlich.

Aus den beiden Aufträgen der Mutter hat die Tochter wirklich etwas gemacht! Margarete, die in Heidelberg studierte, hasste die Nazis, aber liebte Deutschland. Und sie holte nach dem Krieg und einer Ausbildung bei den Exilanten in London die Psychoanalyse zurück. Ohne sie wäre Deutschland vermutlich viel länger verbrannte Erde geblieben, auch in psychoanalytischer Hinsicht.

Hinzu kam der persönliche wie politische Glücksfall ihrer Begegnung mit Alexander Mitscherlich. Der Großbürger hatte sich mit seinem Buch über die Kollaboration seines Berufsstandes mit den KZ-Folterern, "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" (1949), aus der eigenen Klasse katapultiert. Er war vor allem an der Gesellschaftsanalyse interessiert. Das war sie auch. Aber bei ihr kam das individualanalytische Interesse hinzu. Und auf dem Gebiet der persönlichen Analyse, auf ihrem Stuhl neben der Patientenliege war sie von einer raren, vielleicht einzigartigen Begabung. Hunderten, ja tausenden Menschen hat sie die Augen geöffnet.

Die Aufsätze in dem deutschen Schlüsselbuch der Mitscherlichs, „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967), waren von beiden, der Titelaufsatz von ihr. Sie, die Deutsch-Dänin, hatte gleichzeitig eine Leidenschaft für und eine Distanz zu Deutschland. Sie war so in der Lage, mehr und klarer zu sehen als diejenigen, die mittendrin steckten.

Sie war es auch, die als erste den Protest der 68er Generation und deren Kritik am „imperialistischen Israel“ durchschaute als Kontinuität dieser Söhne & Töchter ihrer Väter & Mütter. Da war es wieder: dieses ihr so verhasste Schwarz/Weiß-Denken und diese deutsche Selbstgerechtigkeit (Im Namen der gerechten Sache ist alles erlaubt).

Es ergab sich quasi naturgegeben, dass Margarete Mitscherlich-Nielsen bei ihrem Aufenthalt mit Alexander, dem so innig wie ironisch geliebten Gefährten, Ende der 60er-Jahre in Amerika spontan mit der aufbrechenden Frauenbewegung sympathisierte. Und auch zwischen uns war die Sache ab der ersten Begegnung im Jahre 1974 klar. Zu den politischen Gemeinsamkeiten kamen die persönlichen. Wir wurden rasch Freundinnen.

Als Margarete 1977 für die erste Ausgabe der EMMA einen Kommentar schrieb mit dem Titel „Ich bin Feministin“, da war sie sich durchaus der Provokation bewusst. Doch hat sie sich weder einschüchtern noch reduzieren lassen auf ein kleinkariertes Verständnis vom Feminismus. Sie ist lebenslang Feministin & freie Denkerin geblieben. Ihr Buch „Die friedfertige Frau“ (1985) wurde eines ihrer erfolgreichsten. Und es stellte erneut diese so undeutsche Qualität der großen Analytikerin unter Beweis: ihre Ambivalenzfähigkeit.

Du wirst nicht nur mir schmerzlich fehlen, Margarete.

Alice Schwarzer

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100 Jahre Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich im Mai 2010. Foto © Bettina Flitner
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Die 1917 in Dänemark geborene Tochter einer deutschen Lehrerin und eines dänischen Landarztes ist in den ersten Jahren nicht zur Schule gegangen, sondern zu Hause unterrichtet worden. Der normale Anpassungsprozess blieb ihr also erspart. Das hat sich ein Leben lang gehalten.

Ihre anarchische Lebendigkeit war bis zu ihrem Tod mit 94 Jahren ungebremst. Wofür viele Menschen sie liebten, manche aber sie auch fürchteten. Denn Margarete war unberechenbar. Und im Zweifelsfall immer auf der anderen Seite des Establishments.

Zusammen mit ihrem Mann Alexander hatte Margarete die Psychoanalyse in den 1960er Jahren aus dem Exil zurück nach Deutschland geholt, das Freud-Institut in Frankfurt gegründet und ab Mitte der 70er Jahre zahlreiche feministische Bestseller geschrieben.

Mit der 1967 veröffentlichten „Unfähigkeit zu trauern“, die Margarete und Alexander Mitscherlich zusammen geschrieben haben, stieß das Paar eine Debatte zur deutschen Vergangenheitsbewältigung an, die bis heute andauert. Alexander Mitscherlich starb 1982 – was sie nun ungeschützt der Häme ewig Gestriger und der Anti-FeministInnen dazu auslieferte.

Aber Margarete Mitscherlich stand es durch; lebte, lernte, dachte, arbeitete weiter. Noch kurz vor ihrem Tod plante sie ein Buch über die Liebe.

Margarete Mitscherlich war von der ersten Ausgabe 1977 an bis zu ihrem Tod eine treue Begleiterin von EMMA und eine inspirierende Autorin. Nachfolgend das letzte Interview, das ich im Jahr 2010 für EMMA mit ihr führte.

Und gerade plane ich, zusammen mit ihrem Sohn Matthias Mitscherlich, zwei Gedenktage am 4. und 5. November 2017, an denen WeggefährtInnen, KollegInnen und weitere Persönlichkeiten erzählen werden, warum das Werk von Margarete Mitscherlich weiterlebt.

Alice Schwarzer

www.margarete-mitscherlich.de
 

 

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