Ägypten 2: Eskalation
In Ägypten eskaliert die Stimmung. Teile der entmachteten Muslimbrüder rufen zur „Intifada“, also dem permanenten Widerstand, oder gar zum Dschihad, dem „heiligen Krieg“ im eigenen Land auf. Doch im ZDF-Morgenmagazin darf der Journalist und Politikwissenschaftler Michael Lüders erklären, die Muslimbrüder und die Nur-Partei der Salafisten hätten bei den letzten Wahlen immerhin mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen. Es helfe also nicht weiter, die Hälfte der Bevölkerung zu dämonisieren. Was er nicht sagt, ist: Die Stimmung hat sich seither radikal gewandelt. Die Menschen sind von den Islamisten, die ihnen das Blaue vom Himmel versprochen hatten, aber nur noch mehr Elend und Unfreiheit brachten, längst ernüchtert. Und es gehört kein Hellsehertum dazu, zu vermuten, dass wirklich freie Wahlen heute anders ausgehen würden.
Dass der ehemalige Zeit-Journalist Lüders das anders sieht, ist allerdings keine Überraschung: Schließlich war Lüders, der in Damaskus zwei Semester Islamwissenschaften studiert hat, über Jahrzehnte einer der dezidiertesten Sympathisanten der Islamisten – und ist es anscheinend noch. Was aber ist wirklich zu halten von dem auch von der Politik so gerne angeführten Argument, Mursi sei schließlich demokratisch gewählt?
Die Algerierin Khalida Messaoudi-Toumi, die fünf Jahre lang mit einer Fatwa bedroht wurde, im Untergrund leben musste und heute Ministerin ihres Landes ist, hatte auf dieses westliche Argument schon vor zehn Jahren eine frappante Antwort: Hitler ist auch demokratisch gewählt worden.
In Algerien hatte die Militärregierung 1991 die demokratischen Wahlen abgebrochen, als klar wurde, dass die fundamentalistischen Fanatiker des FIS gewinnen würden. Daraufhin rissen die Islamisten das Land in einen Konflikt, den man kaum Bürgerkrieg nennen kann, denn eine Minderheit bewaffneter Terroristen tyrannisierten die Mehrheit der Bevölkerung. Das Drama hat in den 1990er Jahren über 200.000 Menschenleben gekostet – und die Weltöffentlichkeit hat weggeschaut.
Die AlgerierInnen nennen diese Jahre nur „les années noires“, die schwarzen Jahre. Ein ganzes Land blieb tief verwundet und traumatisiert zurück. Es ist nicht anzunehmen, dass die Islamisten in Algerien noch mal Wahlen gewinnen könnten. Und es ist kein Zufall, dass Algerien sich aus dem „arabischen Frühling“, der so rasch zum Winter wurde, rausgehalten hat.
Auch in Algerien versuchten die Islamisten, den Zwang zum Kopftuchtragen durchzusetzen. Und sie vergewaltigten systematisch Frauen, nicht nur um sie einzuschüchtern – wie jetzt auch in Kairo auf dem Tahrir-Platz –, sondern sie entführten junge Frauen als „Bräute der Revolution“ in die Wälder, in denen sie sich versteckten. Dort wurden die Frauen so lange vergewaltigt, bis sie schwanger wurden – und dann „liquidiert“. Bis heute ist dieses Grauen nicht wirklich aufgearbeitet.
1999 erklärte Khalida Messaoudi anlässlich eines vom FrauenMediaTurm in Köln organisierten Kongresses: „Der Abbruch der Wahlen nach dem ersten Durchgang 1991 war in der Tat absolut undemokratisch. Doch seit 1991 werde ich nicht müde zu erklären, dass auch Hitler damals gewählt wurde und nicht durch einen Staatsstreich an die Macht kam.“ Wieviel Leid wäre der Welt erspart geblieben, hätte Deutschland 1933 „undemokratisch“ gehandelt.
Nun bleibt nur zu hoffen, dass die Menschen in Ägypten die Kraft haben, die Fanatiker, die seit Jahrzehnten im Untergrund auf ihre Chance gelauert haben, in ihre Schranken zu weisen – und den verblendeten, gutgläubigen Menschen die Augen zu öffnen.
Dazu müssten allerdings nicht nur die Ägypter klarsichtig sein, sondern auch das Ausland. Und der Westen müsste endlich aufhören, immer und immer wieder die Falschen zu unterstützen. Das Schicksal der Menschen in Afghanistan, Iran und Tunesien sollten uns eigentlich Warnung genug sein.
Weiterlesen
Khalida Messaoudi: Menschenrechte sind unteilbar
Gihan Abou Zeid: Eine Frauenstimme aus Ägypten (Mai 2013)
Der arabische Frühling - ein Herbst für die Frauen? (EMMA 3/2011)