Alice Schwarzer über das Attentat
Charlie Hebdo ist das Kind der legendären Hara-Kiri. Als das von den 68ern vergötterte Anarcho-Satire-Blatt Anfang der 70er Jahre mal wieder zensiert und verboten wurde, machte die Hara-Kiri-Redaktion einfach unter einem neuen Namen weiter: Charlie Hebdo. Und erschien von nun an einmal in der Woche statt einmal im Monat. Die Versuche der Einschüchterung und Zensur haben das unabhängige Satireblatt also eigentlich immer nur stärker gemacht. Doch diesmal hatten sie keine Chance. Die Gegner richteten ihre Kalaschnikows auf die Meinungsfreiheit.
Mit Kalaschnikows gegen die Meinungsfreiheit
Amateurvideos zeigen, wie hoch professionell die Killer an diesem Vormittag des 7. Januar vorgingen. Zwei schwarz gekleidete Männer, die aussahen wie Soldaten einer Anti-Terror-Truppe, stürmten durch die ruhige Wohnstraße in den zweiten Stock des Gebäudes. Dort tagt immer mittwochs die gesamte Redaktion von Charlie Hebdo, auch die freien Zeichner sind präsent.
Die Killer richteten ihre Kalaschnikows gezielt auf die Redaktion und die beiden Polizisten, die Chefredakteur Charb bewachten. Der steht seit 2006 unter Personenschutz, seit Charlie Hebdo als einzige Zeitung in Frankreich die dänische Karikatur über Mohammed veröffentlichte (in Deutschland hat das damals auch EMMA getan).
„Allahu akbar. Wir haben den Propheten gerächt“
Jetzt aber hat niemand mehr eine Chance. Nach Sekunden liegen mehrere Schwerverletzte und zwölf Tote auf dem Schlachtfeld; darunter zwei Polizisten, Chefredakteur Charb sowie die in Frankreich berühmten und beliebten Karikaturisten Wolinski und Cabu.
Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Radiosender und Fernsehstationen unterbrechen ihre Programme und senden den ganzen Tag live vom Ort des Geschehens. Im Internet ist ein erstes Amateurvideo zu sehen - und zu hören. Die Killer verlassen den Ort mit den Rufen: "Allahu akbar! Wir haben den Propheten gerächt! Wir haben Charlie Hebdo getötet."
Frankreich hat jetzt seinen 11. September
Stunden später gehen über hunderttausend Menschen in ganz Frankreich auf die Straße, sie halten Schilder in den Händen, auf denen steht: "Ich bin Charlie". Heute gehen die Demonstrationen weiter. Der Präsident hat "nationale Trauertage" ausgerufen. Das hat ein Präsident zum letzten Mal am 11. September 2001 getan. Und 1970, zum Tod von de Gaulle. Die Staatschefs aller Nationen bekunden ihr Mitgefühl und ihre Solidarität, von Merkel bis Obama.
Frankreich hat seinen 11. September. Europa hat seinen 11. September. Denn hier sind nicht nur Menschen getötet worden. Eine ganze Zeitschrift ist ausgelöscht worden. Mehr noch: Frankreichs antiautoritärste, respektloseste, unabhängigste Stimme ist zum Verstummen gebracht worden. Hara-Kiri/Charlie Hebdo waren ein Symbol für Freiheit. Sie kannten keine Tabus. Sie zogen über alle her: Päpste, Staatschefs, Wichtigtuer – und eben auch Mohammed. Mit ihrem tiefschwarzen Humor und ihrer satirischen Zuspitzung legten sie ihre Pranken in die Wunde. Niemand ging in Frankreich gegen Kitsch und Doppelmoral so provokant vor wie sie.
Die respektlose Charlie Hebdo kannte keine Tabus
Jetzt sind diese Unerschrockensten ins Verstummen geballert worden. Und das nicht von radikalisierten Einzeltätern, sondern von hochprofessionellen Kriegern mit Netzwerk. Die sind bis jetzt zwar nicht gefasst, aber man weiß, wer sie sind. Denn die Profis haben einen Fehler gemacht: Sie haben ihre Pässe im Fluchtauto liegengelassen. Es handelt sich um die beiden Brüder Said und Cherif Kouachie, die 32 und 34 Jahre alten Söhne algerischer Eltern, beide in Frankreich geboren und im Besitz der französischen Staatsangehörigkeit. Der Polizei sind sie schon seit vielen Jahren als militante Islamisten bekannt.
Heute Morgen hat die marokkanischstämmige Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem einen Brief an alle Lehrerinnen und Lehrer der Nation geschrieben. Sie fordert darin auf, mit den Schülerinnen und Schülern über das Attentat zu reden und die „Werte der Republik“ zu verteidigen.
Mit ihrem Ruf „Allahu akbar“ wollen die islamistischen Killer den ganzen Islam für ihr blutiges Geschäft vereinnahmen. Das scheint ihnen jedoch nicht zu gelingen. Selbst die rechtspopulistische Marine le Pen unterscheidet explizit zwischen „dem Islam“ und „den Islamisten“. Doch sie fordert einen „Krieg gegen die Islamisten“ und nutzt die Gunst der Stunde, für ein Referendum über die Todesstrafe zu plädieren. Es ist zu befürchten, dass sie nicht nur bei den Ewiggestrigen offene Türen damit einrennt.
Was tut die schweigende Mehrheit der Muslime?
Eine überwältigende Mehrheit der französischen PolitikerInnen und JournalistInnen argumentiert allerdings sehr differenziert, auch und gerade nach dem Attentat. Sie warnen vor einer Vermischung der Minderheit radikaler Islamisten mit der Mehrheit der friedlichen und demokratischen Muslime. Aber auch sie fordern ein entschiedeneres staatliches Vorgehen gegen die Agitation und Gewalt von Islamisten mitten in Frankreich.
Und die Muslime? Der als liberal geltende Imam der Großen Moschee von Paris hat sich umgehend von dem Attentat distanziert und es als „unislamisch“ verurteilt. Auch zahlreiche andere muslimische Stimmen haben sich zu Wort gemeldet. Aber was wird die bisher schweigende Mehrheit der Millionen Musliminnen und Muslime in Frankreich nun tun? Werden sie es endlich wagen, sich offen gegen die Terroristen zu richten, die ihren Glauben missbrauchen?
Am 7. Januar habe ich auch zwei Freunde verloren
Ein persönliches Wort sei mir zum Schluss noch erlaubt. Ich war in meiner Zeit als Korrespondentin in Paris, in den späten 60er und frühen 70er Jahren, eng befreundet mit der Equipe von Hara-Kiri. Auch damals traf man sich immer am Mittwoch, um die nächste Ausgabe fertig zu machen. Am frühen Abend kamen dann wir Freunde und Freundinnen dazu. Es wurde gegessen, getrunken, diskutiert und gelacht, sehr viel gelacht.
Wir Freundinnen mussten allerdings immer wieder mal diese oder jene Hand, die sich dreist auf unseren Hintern legte oder unserem Busen näherte, energisch wegschieben. Doch wir hatten das im Griff. Denn diese scheinbar so rauen Jungs waren in Wahrheit alle feinfühlig und hochsensibel. Allen voran der so früh gestorbene Jean-Marc Reiser, aber auch der verträumte Cabu und der rotzfreche Wolinski. Am 7. Januar habe ich also nicht nur hochgeschätzte Kollegen, sondern auch zwei ganz persönliche Freunde verloren. Hätte mir damals jemand gesagt, dass Wolinski und Cabu eines Tages am Redaktionstisch abgeknallt werden wie die räudigen Hunde – ich hätte es für eine besonders makabre Übertreibung von Hara-Kiri gehalten.
Alice Schwarzer
Aktualisierung, Freitag, 9.1.2015, 18 Uhr: 90.000 Polizisten haben die Killer von Charlie Hebdo gejagt. Sie wurden aufgespürt in einer Druckerei in der Nähe vom Flughafen Charles de Gaulle, vor den Toren von Paris. Die Geisel, die sie entführt hatten, eine 24-jährige Frau, hat überlebt. Die Brüder Kouachi nicht. Sie wurden bei der Geiselbefreiung erschossen. Gleichzeitig starben vier von fünf Geiseln in einem jüdischen Supermarkt in Paris. Ein Sympathisant der Charlie-Mörder hatte heute Morgen auf der Straße eine Polizistin erschossen und fünf Geiseln genommen. Auch er überlebte nicht.