Alice Schwarzer schreibt

Alice Schwarzer contra Esther Vilar

Alice contra Esther.
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Januar 1975. Noch bin ich keine „öffentliche Person“ (wie heute von manchen Autoren fälschlicherweise angenommen), sondern nur die Verfasserin zweier Bücher in einer Intellektuellen-Reihe und etlicher Artikel, sowie die nicht öffentliche Initiatorin einiger Aktionen, aber eben nicht die „Star-Feministin“. Die werde ich erst am 6. Februar 1975, und zwar mit einem Schlag.

Mit Frauen lege ich mich selten an.
Das habe ich nur zweimal getan…

An diesem Tag wird mein am 14. Januar im WDR aufgezeichnetes Streitgespräch mit Esther Vilar im Nachmittagsprogramm der ARD ausgestrahlt, an Weiberfastnacht. Der WDR hält das anscheinend für witzig. Allerdings wird das Datum überhaupt nur im karnevalsseligen Rheinland vermerkt. Noch nicht einmal mir war das von Berlin aus aufgefallen.

Trotz dieser ungünstigen Sendezeit beherrscht das TV-Duell über Tage, ja Wochen die Schlagzeilen. Waschkörbe von Briefen, ja ganze Petitionen, die um das Transkript des Rededuells bitten und eine Wiederholung fordern, gehen beim Sender ein. Vergeblich. Die ARD  wird diese Sendung, die bis heute als eine der spektakulärsten der Fernsehgeschichte gilt, nie mehr im bundesweiten oder gar Abendprogramm senden.

Mit Frauen lege ich mich selten an, schon gar nicht öffentlich. In den vergangenen 40 Jahren habe ich das im Fernsehen nur zwei Mal getan, das zweite Mal 2001 mit Verona Feldbusch. Das wird ähnlich hohe Wellen schlagen. Jedoch meine Gegnerin kämpft zeitgemäß eher mit den „Waffen einer Frau“, genauer: durch körperliche Entblößung, statt verbal, wie Vilar noch anno 1975. Es scheint mir durchaus bemerkenswert, dass über die Tatsache, dass ich meine berühmtesten öffentlichen Fights nicht mit Männern, sondern mit Frauen ausgetragen habe, noch nie ein Wort verloren wurde. Schon gar nicht von all jenen, die mir so gerne blinde Frauensolidarität - gepaart mit blindem Männerhass - unterstellen.

Für Vilar wa-
ren die Frauen 
parasitäre Luxusgeschöpfe

Doch wie kam es überhaupt zu der Konfrontation mit Esther Vilar? Von ihrem Buch, „Der dressierte Mann“, hatte ich bereits 1973 in Paris gehört; Die Zeit hatte mich um eine Besprechung gebeten. Mir aber schien die Schrift zu läppisch. Vilar war punktgenau als „feminine Antwort“ auf die Frauenbewegung erschienen und durch eine Talkshow bekannt geworden. Ihre Thesen und Methoden allerdings waren arg plump. Sie redete ganz einfach den emanzipationsgestressten Männern nach dem Maul und lieferte griffige Parolen für die Stammtische. Stil: Die Frauen sind eh an allem schuld, wer erzieht schließlich die Kinder! Die Männer sind die eigentlich Ausgebeuteten! Die Frauen machen sich einen faulen Lenz auf Kosten der Männer, liegen den ganzen lieben langen Tag auf dem Sofa und futtern Pralinen! Zum genaueren Verständnis hier zwei Original-Zitate aus Vilars Buch:

„Die Frauen können wählen, und das ist es, was sie den Männern so unendlich überlegen macht. Jede von ihnen hat die Wahl zwischen der Lebensform eines Mannes und der eines dummen, parasitären Luxusgeschöpfes – so gut wie jede wählt für sich die zweite Möglichkeit. Der Mann hat diese Wahl nicht (…). Wie ist es nur möglich, dass die Männer nicht bemerken, dass an den Frauen außer zwei Brüsten und ein paar Lochkarten mit dummen, stereotypen Redensarten nichts, aber auch wirklich nichts ist?“

Und in diesem zynischen Ton geht es munter weiter. Über Sexualität zum Beispiel schreibt Vilar: „Von sexueller Ausbeutung kann keine Rede sein, die durchschnittliche Koitus-Frequenz liegt zum Beispiel in den USA laut Kinsey bei 2 mal wöchentlich. Selbst für eine frigide Frau – und bei anderen könnte es sich ja nicht um Ausbeutung handeln – ist das keine sonderlich große Strapaze.“

Vilar schreibt das zu einer Zeit, in der eine Ehefrau ihren Mann noch quasi um Erlaubnis bitten muss, wenn sie berufstätig sein will; die „eheliche Pflicht“ Gesetz ist (die Vergewaltigung in der Ehe wird erst 1997 strafbar!); sexuelle Gewalt noch kein Thema und weibliches Begehren tabu. Sicher, es handelt sich um eine gezielte Provokation, präzise auf den Zeitgeist zugeschnitten. Aber hätte Esther Vilar solche Töne über eine andere Gruppe von Menschen verbreitet – über Schwarze zum Beispiel oder Juden – ihr Buch wäre rasch auf dem Index gelandet. Und hätte ein Mann das geschrieben, wäre es vermutlich gar nicht erst gedruckt worden.

Doch ein weiblicher Autor, der macht eine solche Hetzschrift über Frauen pikant. Tja, wenn selbst eine Frau so über Frauen schreibt, dann muss doch was dran sein, oder? So zumindest läuft zu meiner eigenen Überraschung die öffentliche Debatte in Deutschland. Die Thesen vom „Dressierten Mann“ werden für nicht wenige Männer zum willkommenen Anlass, sich über die zu der Zeit noch ziemlich recht- und ratlosen Frauen auch noch lustig zu machen, über Feministinnen sowieso… Und viele Frauen fühlen sich verständlicherweise einfach nur gedemütigt von diesem Pamphlet.

Es handelte sich um eine gezielte Pro-
vokation, ganz im Zeitgeist

Das ist der Grund, warum ich im Dezember 1974 die Einladung der Frauenredaktion des WDR zu einem Streitgespräch mit Esther Vilar annehme. Ich bin entschlossen, die Sache ernst zu nehmen, so wie viele Frauen das tun. Und ich beschließe vorab, dieses Gespräch nicht als Journalistin zu führen – also objektiv und cool mit Fakten und Argumenten hantierend –, sondern als Frau: betroffen. Ich breche in diesem Gespräch also sehr bewusst die journalistischen Spielregeln. Und genau das ist, glaube ich, das Geheimnis der Brisanz und des Erfolgs der Sendung: Mein Ernst in dieser Begegnung, mit dem sich Millionen Frauen identifizieren.

Die mir an diesem 14. Januar 1975 im beigen Schalensessel scheinbar gelassen gegenüber sitzende, ein paar Jahre ältere Esther Vilar bleibt 45 Minuten lang stoisch ruhig, trotz meiner Attacken. Nur einmal scheint sie fast aus der Reserve zu kippen, nämlich als ich sage: „Sie sind nicht nur eine Sexistin, Sie sind auch eine Faschistin.“ Ich spiele damit auf die Parallelen Sexismus/Rassismus an. Im Nachhinein frage ich mich übrigens, ob Vilar vor der Sendung eine gute Portion Tranquilizer geschluckt hatte – ganz so wirkte sie.

Das dramaturgische Konzept der Sendung war gut: kein Moderator, sondern Begegnung und Aufeinanderprallen pur. „So entstand eine Fernsehsendung, deren Informationsgehalt Dutzende abgewiegelter Magazinbeiträge ersetzte, deren Show-Wert das gängige Moderato der Talk-Shows blamierte, deren schonungslose Direktheit noch in der Aufzeichnung high-live war“, schrieb Hellmuth Karasek im Spiegel. Doch nicht alle Journalisten sehen es so. In der FAZ klagt eine Journalistin über die „sehr langweilige, eintönige Sendung“, und im Münchner Merkur konstatiert ebenfalls eine Frau einen „Hauch von Tragik“ über dem „eher komischen Duell“, das nichts als ein „unergiebiges Viperngezisch“ gewesen sei.

Bild allerdings titelt, ganz die Hand am Puls des Volkes, mit der „Fernsehschlacht des Jahres“ und kürt mich bei der Gelegenheit zum „Blaustrumpf“, ja mehr noch: zur Hexe. „Alice mit hohen Stiefeln, schwarzem Rock und unter dem Pony den stechenden Blick durch die große Brille. So hat früher im Märchen die böse Hexe ausgesehen“. Im Gegensatz zu Esther, dem „Streichelkätzchen“. Kleine Pointe am Rande: Der Bild-Reporter, ein gewisser Herr Schmidt, hatte die Sendung gar nicht gesehen, er hatte nur danach freundlich mit mir telefoniert.

Seit dieser Sendung bin ich die Hexe mit 
stechendem Blick

Von nun an wird das Hexen-Szenario x-fach mit mir durchgespielt werden. Bis heute. Was daran liegt, dass ich seit dieser Sendung in Deutschland als die Verkörperung eines kämpferischen Feminismus gelte. „Die Frauen sind für Alice – die Männer für Esther“, schreibt HörZu und trifft damit (fast) den Nagel auf den Kopf. Selbstverständlich gibt es von Anbeginn an auch Frauen, die gegen mich und Männer, die für mich sind. Das zeigen nicht zuletzt die Briefe, die nach der Sendung via WDR bergeweise bei mir landen (Hinter mir stehen heute mehrere Aktenordner, in denen sie abgeheftet sind). Doch mein Duell mit Vilar ist der erste öffentlich ausgetragene Geschlechterkampf – unter Frauen.

Dabei ist die Mehrheit der Frauen auf meiner Seite. „Liebe Frau Schwarzer“, schreibt zum Beispiel Martha Meuffels aus München. „Sie haben der Vilar all das gesagt, was ich ihr schon lange mitteilen wollte. Nur hätte ich nicht so ruhig und gefasst bleiben können wie Sie. Ich möchte Ihnen danken.“ Und Frau K. aus Geislingen lässt mich wissen: „Ich schreibe wahrscheinlich für viele Frauen, die infolge des ewigen Kindergeschreis, Spülen, Kochen, Putzen usw. nicht dazu kommen. Ich komme auch nur jetzt zu den paar Zeilen, weil mein Mann (kein Unmensch, aber eben ein Mann) sich die Zeitung am Kiosk holt.“ Knapp jeder dritte Brief kommt von einem Mann. Etwa die Hälfte dieser Männer stimmt mir zu. Auch sie sind empört über die Klischees, die Frauen und Männer zu Wesen von unterschiedlichen Sternen stempeln und sie aufeinander hetzen.

Auszug aus Alice Schwarzers „Lebenslauf“ (Kiepenheuer & Witsch, TB 12.99 €) - Die Sendung ansehen.

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Alice Schwarzer erzählt ihr Leben

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"Der Motor meines ganzen Handelns ist die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit in meinem persönlichen Leben; in dem Land, in dem ich lebe; in der ganzen Welt. Ein Leben, in dem ich nicht alles in meiner Macht Stehende getan hätte, um dieses Ideal zu verwirklichen, wäre für mich ein verpasstes Leben.“

Diese leidenschaftlichen Worte schreibe ich am 4. Mai 1968 an Bruno. Auslöser ist ein Telefonat über die aktuellen Unruhen in Paris, bei denen die Polizei die Protestierenden zusammengeschlagen und verhaftet hatte. Bruno, gerade dem Militär entkommen und wieder in sein Jura-Studium vertieft, bereitet seine Promotion vor und reagiert reserviert. Das seien überhaupt „nur die Studenten der Geisteswissenschaften“, die da auf die Straße gingen. Aber er könne ja „mal gucken gehen“.

Ich bin aufrichtig empört. „Bisher hast du mich mit deinen ‚vernünftigen‘ Argumenten beruhigen können“, schreibe ich. „Aber jetzt frage ich mich, ob sich hinter dieser Vernunft nicht Gleichgültigkeit verbirgt. Das würde ich nicht ertragen! Ich könnte das niemals akzeptieren. Denn es genügt nicht, dass du mir ‚meine Freiheit lässt‘. In Bezug auf diese fundamentalen Überzeugungen muss ich mich einig wissen mit dir. Ich will keine rosarote Brille. Um zu lieben, brauche ich das nicht. Ich liebe dich, so wie du bist. Aber ich weiß, dass ich auf Dauer niemals der gleichgültig ist. Und auch mich kann auf Dauer niemand lieben, der gleichgültig ist…“

Ich verstehe die Entwicklung so: „Diese Welle der Wut, die die französischen Studenten erfasst hat, wird im Grunde dieselben Motive haben wie die der Jugend in Rom, Berlin, Prag, Warschau oder Madrid. Sie sind zutiefst unzufrieden mit den etablierten Regimen und deren Selbstgerechtigkeit. Sie protestieren gegen eine politische Fatalität, dagegen, dass Autorität blind akzeptiert wird.“ Und ich fahre fort: „Nein, davon würde ich mich niemals distanzieren können. Daneben stehen. Im Gegenteil. Selbst wenn sie Ziele verfolgen würden, die ich nicht akzeptiere, selbst dann würde ich es nicht zulassen, dass man sie unterdrückt.“ Und ich betone: „Ich meine es ernst.“ Den Fünf-Seiten-Brief schicke ich per Eilboten ab.

Bruno wird sehr bald selbst ein Sympathisant der 68er-Bewegung werden, auch aus eigenem Antrieb. Aber es besteht kein Zweifel: Er tendiert eher dazu, sich bedeckt zu halten. Und ich? Ich bin jetzt 25 Jahre alt und scheine entschlossener denn je, mein Leben in die Hand zu nehmen und mich einzumischen in der Welt. Mein Start in mein neues Leben verläuft allerdings nicht ganz so wie erhofft. Am 8. Juli ist mein letzter Tag bei den Düsseldorfer Nachrichten, adieu. Noch habe ich keinen neuen Job. Mitte September werde ich weder beim Spiegel noch beim Stern, sondern – bei Film und Frau im Hamburger Vierjahreszeiten-Verlag anfangen. Das war so eine edle Hochglanz-Frauenzeitschrift, also nicht unbedingt das, wovon ich träumte. Doch ich bin immerhin als Reporterin für das Ressort Film und Fernsehen angestellt. Und davon verstehe ich etwas. Wir werden sehen.

Mitte September ziehe ich mit Sack und Pack und einer „Mitfahrgelegenheit“ (nur 26 Mark!, juble ich) nach Hamburg. Zunächst in eine Pension in der Nähe des Verlages an der Außenalster, eine Woche später in ein kleines Appartment unter dem Dach eines Einfamilienhauses in Lokstedt. In meinen ersten Hamburg - tagen regnet es. Erwartungsgemäß. In der Redaktion arbeiten überwiegend Frauen. Sie betrachten die Neue „mit gelangweilter Neugierde“ (berichte ich Bruno). Zunächst gibt es kaum etwas zu tun für mich. Das bin ich gar nicht gewohnt. Mir wird erklärt, die Zeitschrift würde gerade umgestellt und die Ausgabe im alten Format sei schon voll, das neue Format jedoch noch nicht in Arbeit. Ich warte ab. Und stürze mich erst einmal in das Leben in der Stadt.

An einem Abend höre ich „Fidelio“ in der Oper, am nächsten „The Mothers of Invention“ im Top Ten und am übernächsten gehe ich zum Happening in die Kunstakademie. So ganz ist der 68er-Aufbruch offensichtlich auch an Hamburg nicht vorbei gegangen. Aber die Hamburger … Die sind mir in ihrer Zugeknöpftheit doch arg fremd. Ich bin recht einsam in Hamburg.

Meist streife ich allein durch die Stadt. Mein Lieblingsort wird die im Spätherbst leicht melancholische Vereinskneipe eines Ruderklubs am Ende der Außenalster. Da ist Hamburg wirklich schön. Und noch einen Ort entdecke ich auf der Flucht vor den Hamburgern: die Kneipe „Fick“ im Hafen. Aber davon erzähle ich Bruno lieber nichts. Es könnte ihn beunruhigen, dass ich da ganze Abende im Gespräch mit Prostituierten verbringe.

Eigenartig: Schon lange, bevor ich die öffentliche Feministin wurde, hatten Prostituierte, in Deutschland wie Frankreich, die Neigung, mir aus dem Stand ihr Leben zu erzählen. Mit Obdachlosen geht es mir nicht anders. Und bis heute begrüßt mich jeder Penner in Köln wie seinesgleichen und hat auch gerne schon mal ein Anliegen: „Alice, du hast doch Beziehungen. Kannst du nicht mal …“

In meiner Hamburger Redaktion wird formell gesiezt. Klar. Hauptgesprächsthema an, aber geht auch an mir nicht spurlos vorüber. In meinem kleinen weißen Taschenkalender „für die Dame“ (dessen launige Texte übrigens die spätere Feministin Susanne von Paczensky schreibt) finde ich unter dem 1. Oktober eine Notiz zu meinen Maßen: Ich wiege 65 Kilo, habe einen Brustumfang von 94 und einen Hüftumfang von 98 Zentimetern. Bei einer Größe von 1,70 Meter sind das Traummaße, würde ich heute sagen.

Doch einen Monat später steht in meinem Damenkalender ein „Diätplan“ mit detaillierten Rezepten für Artischocken, Blumenkohl, Gurken etc. und dem Hinweis: Viel Wasser trinken! (Übrigens: Die Diättipps von vor 40 Jahren sind absolut identisch mit den „Wunderdiäten“ von heute.) Eine Woche darauf notiere ich ein Mittel gegen Cellulitis. Bruno grüße ich mit „deine immer noch dicke Alice“ und verspreche, immerhin nicht ganz ohne Selbstironie, „twiggylike“ zu werden. Gleichzeitig berichte ich von Magenkrämpfen, und dass ich mich andauernd übergebe … Es ist also kein Zufall, dass der Diätwahn sehr früh mein Thema werden wird. Bereits 1984 wird EMMA einen Sonderband über die „Hungersucht“ herausgeben, und ich werde schreiben: „Während Männer Raum einnehmen, machen Frauen sich dünne.“

In meiner Frauenredaktion geht es in diesem eigentlich aufregenden Herbst 1968 wie immer. Am 20. Oktober schreibe ich an Bruno: „Die Arbeit ist nichts für mich. Diese Konzeption eines vie en rose ist stupide und verantwortungslos. Ich bin schließlich nicht Journalistin geworden, um Märchen zu erzählen.“

Wenige Tage darauf fliege ich zu einer Reportage über Dreharbeiten zu den „Drei Musketieren“ nach Sarlat in der Dordogne. Das macht mir Spaß, und vor allem genieße ich das Essen in dieser Region, die die beste Küche Frankreichs haben soll. Auf dem Rückflug kann ich gar einen Zwischenstopp in Paris machen. Dennoch: Diese Arbeit macht für mich keinen Sinn.

Inzwischen mache ich sogar Quarkmasken am Wochenende, gegen Falten. Mit 25! Also fange ich wieder an, mich zu bewerben. Und ich schreibe ein zweites Mal an pardon, das Monatsmagazin, das journalistische Berichterstattung mit provokanten Polit-Aktionen und Satire mischt und neben konkret jetzt als eines der beiden Sprachrohre der 68er-Bewegung gilt. Hans Nikel schreibt zurück. Der Gründer, Verleger und Chefredakteur von pardon will mich kennenlernen.

Ich sause nach Frankfurt – und kriege die Stelle! Ab Januar 1969 werde ich als Reporterin bei pardon arbeiten, als Nachfolgerin von Günter Wallraff (der vor mir dort die Rollenreportage erprobt hatte). Zwei Tage später kündige ich meine Stelle bei Film und Frau. Und an Bruno schreibe ich: „Ihre Art, über Frauen zu reden, ist schlicht kriminell. Das ist sicher: Eines Tages werde ich über die Frauenzeitschriften in Deutschland schreiben.“ – Da scheine ich noch die Illusion zu haben, dass diese Art von Frauenverdummung durch Frauenzeitschriften eine deutsche Spezialität sei.

Am 18. Dezember ist mein letzter Arbeitstag. Bruno holt mich mit der Ente ab, und wir fahren direkt nach Frankfurt, zum Renovieren meiner kleinen Wohnung. Sie liegt im 3. Stock eines Neubaus in der Jahnstraße, mitten in der Stadt und nur fünf Fußminuten von pardon entfernt. Ich verspreche mir viel, sehr viel von meiner neuen Stelle. Bin ich endlich angekommen?

***

Der Wechsel hätte extremer nicht sein können: von der bürgerlichen Hochglanzpresse in Hamburg zum alternativen Protestblatt in Frankfurt. Von Film und Frau zu pardon.

Das Team bei pardon ist nett: fünf Redakteure, drei Redaktionsassistentinnen sowie ein Verleger und Chefredakteur in Personalunion. Ich bin bei der 1962 gegründeten pardon die erste Frau mit dem Status einer Redakteurin bzw. Reporterin. Fast alle begegnen mir offen, und die meisten sind witziger als ihr Blatt. Gearbeitet wird mit Leidenschaft, in der Regel bis 21 Uhr (und dafür pünktlich morgens um 10 Uhr angefangen). An meinem ersten Abend geht es gleich bis 2 Uhr nachts. Wir bereiten eine Aktion vor. Denn das ist die Spezialität von pardon: neben Satire und inszenierten Reportagen pflegt das Magazin provokante Protestaktionen.

Die erste, bei der ich dabei bin, finde ich allerdings eher beklemmend. Am 4. Januar fährt die gesamte Redaktion nach Dachau, in das ehemalige Konzentrationslager, das heute eine Gedenkstätte ist. Mit Protestschildern wie „Jedem das Seine“ und einer satirischen Ansprache von Hans Nikel wollen wir gegen die von der Großen Koalition geplante „Vorbeugehaft“ demonstrieren und die Parallelen eines solchen Gesetzes zur Justiz der Nazizeit aufzeigen. Mir kommt das Ganze etwas forciert und leicht geschmacklos vor.

Doch ich sage nichts. Ich bin eingeschüchtert. War ich vorher unterfordert, so bin ich jetzt eher überfordert. Es wird viel von mir erwartet – gleichzeitig ist mir nur zu klar, dass ich noch viel lernen muss. Mein erster Auftrag ist eine Reportage über die Emanzipation der Frauen im SDS.

Es war für mich selbstverständlich, aus der Ferne mit großer Sympathie den Tomatenwurf vom 13. September 1968 auf dem Frankfurter SDS-Kongress gegen den Obergenossen Krahl zu verfolgen. Die Studentinnen innerhalb des Deutschen Sozialistischen Studentenbundes, der Keimzelle der 68er-Bewegung, waren es einfach leid, immer nur Flugblätter zu tippen, Kaffee zu kochen und die Beine breit zu machen. Also griffen sie zur Tomate (im Einkaufsnetz!), bewarfen ihn damit und riefen: „Genosse Krahl, du bist objektiv ein Konterrevolutionär und ein Agent des Klassenfeindes dazu!“ Im Spiegel hatte Hermann Schreiber darüber berichtet und mit der neckischen Pointe auf dem Kongress den Kopf aus der Tür der Damentoilette steckt und fragt: „Hat jemand von euch ein Tampon?“ – Emanzipation hin, Emanzipation her: Ewig blutet das Weib …

Ein paar Monate später, auf dem SDSKongress in Hannover, gingen die Frauen dann einen Schritt weiter. Der Frankfurter Weiberrat präsentierte eine Satire, das legendäre Flugblatt: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen.“ Und dazu waren in Jägermanier ausgestopfte, an die Wand gehängte „Schwänze“ von prominenten Genossen krakelig gezeichnet.

Doch wo waren sie jetzt, wenige Monate später, diese Frauen? Ich mache mich auf die Suche und bekomme einen Tipp: Die SDS-Frauen treffen sich am Tag X in Raum Y der Uni. Ich bin pünktlich zur Stelle, sehe aber keine einzige Frau. Nur Männer, eine Arbeitsgruppe des SDS. Auf meine Frage nach den Frauen: Schulterzucken.

Ich suche weiter und finde endlich eine. Immerhin. Sie bringt mir ein paar alte Flugblätter vom letzten Jahr mit. Was die Frauen denn jetzt machen, und ob ich nicht mal zu so einem Treffen kommen könne? „Nein, unsere Gruppe existiert seit vier Monaten nicht mehr“, antwortet sie matt. Ich erfahre, dass alle Frauen nach und nach auch die gemischten AGs verlassen haben. Sie scheinen resigniert zu haben. An Bruno schreibe ich alles akribisch und kommentiere: „Vielleicht liegt das ja daran, dass wir in einer Welt der Männer leben. Nach ihren Regeln. Und die sind nicht die unseren.“

Meine weitere Suche nach dem legendären „Komitee zur Befreiung der Frau“ führt mich in eine WG in der Bockenheimer Landstraße. Dort wohnte eine der Ex-Aktivistinnen, und ich sehe auf dem Tisch unter Bergen von Marx & Mandel Beauvoirs „Anderes Geschlecht“ hervorlugen. Eine Frauengruppe? Existiert nicht mehr. Es soll jedoch, so heißt es, eine „Weiberkommune“ in München geben und in Berlin sollen zwei Genossinnen mit Kindern in eine Wohnung gezogen sein (das gilt schon als Kommune). Auch sollen sich etliche in den 1968 von Genossinnen initiierten „Kinderläden“ engagiert haben. In Frankfurt angesagt ist jetzt die „Kapital-Schulung 2“, das heißt, das gemeinsame Lesen und Interpretieren von Karl Marx Schrift „Das Kapital“.

Nun weiß ich auch nicht mehr weiter und beschließe, mich den Frauen „an der Basis“ zuzuwenden. In der Redaktion schlage ich einen Bericht über die anscheinend gettoartigen „Heime für Mutter und Kind“ vor (im Volksmund auch schon mal „Hurenhäuser“ genannt). Der Bericht über die ledigen Mütter, die auch als Erwachsene wie Unmündige gegängelt und geächtet werden, wird meine erste pardon-Reportage. Was gar nicht so einfach ist. Denn eine Reportage für pardon darf nicht einfach eine Reportage sein, also das Resultat von Recherchen und Beobachtungen; sie muss immer interaktiv, ein inszenierter Skandal sein. Was mir fremd ist. Als Journalistin beobachte ich lieber, statt zu intervenieren.

Ich beginne zu ahnen, dass die Arbeit bei pardon nicht leicht sein wird für mich. Und ich habe die ersten schlaflosen Nächte. Hinzu kommt mein Fremdsein, sowohl in diesem Frankfurter Milieu, als auch in dieser Männerredaktion. Die Titel werden immer von allen gemeinsam diskutiert, und wenn die Dias projiziert werden, ist ein beliebtes Kriterium, ob man denn auch genug von der Brustwarze des jeweiligen Covergirls sieht. Sicher, es geht bei pardon lange nicht so frauenverachtend zu wie bei konkret, wo Klaus Rainer Röhl gerade den heute weit verbreiteten Mix von Politik & nackten Frauen bzw. Mädchen erfindet. Aber es irritiert mich dennoch. Doch mir fehlen die Worte. Ich bleibe stumm. Und die drei Redaktionsassistentinnen ebenso.

Im März erscheint im Stern eine Reisereportage über den in Deutschland neu auf den Markt drängenden Club Méditerranée. Sie handelt von dem Club im marokkanischen Agadir, hat den Titel „Das Dorf der freien Liebe“ und suggeriert: „In jeder Nacht passiert in jeder Hütte das gleiche.“ Kurzum: Da scheint sie wirklich stattzufinden, die Sünde! Wir wollen uns das genauer ansehen. Nikel beschließt: Schwarzer und Gernhardt sollen sich da mal zwei Wochen lang umsehen – und eine pardon-Reportage über die Stern-Reportage und die Realität schreiben. Robert Gernhardt ist einer der Gründer von pardon, arbeitet aber seit Jahren als freier Mitarbeiter, vor allem als Zeichner unter dem Pseudonym Lützel Jeman (und ist u.a. der Kreateur des saukomischen „Schnuffi“). Am 15. März soll es losgehen.

So ganz kalt lässt die geplante „Rollenreportage“ in dem sündigen Dorf unsere Beziehungen nicht. Almut Gernhardt, mit der ich mich später befreunden werde, kommt in die Redaktion, um mich aus der Nähe zu begutachten. Und Bruno spielt von Paris aus verrückt. Ich versuche sehr wortreich, ihn zu beruhigen („gar nicht mein Typ“, „ganz andere Sorgen“ etc.). Doch es gelingt mir nicht. Obwohl ich vor Agadir einen Tag Zwischenstation in Paris mache, bombardiert er mich noch im Club mit so vielen „besorgten“ Briefen, dass ich langsam genervt bin. Er geht sogar so weit zu schreiben: „Diese Reise ist für mich, als würdest du mir mitteilen, dass du einen Anderen heiratest.“ Von der Seite kannte ich ihn bisher gar nicht. Schließlich antworte ich: „Es ist einfach lächerlich, dass du dir solche Gedanken machst. Und es ist traurig, dass du dir um meinen Körper offensichtlich mehr Sorgen machst als um meine Seele. Hast du denn keine anderen Sorgen?“

Lächerlich ist es nicht zuletzt auch darum, weil es im Club alles andere als sündig zugeht. Die Sünde hatte nämlich, wie so oft, mal wieder nur in der Fantasie der Journalisten stattgefunden. Robert Gernhardt und ich, wir genießen dennoch die zwei Wochen im sonnigen Agadir am blauen Meer. Und Robert schafft es im Club sogar, sarkastisch zu sein, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Indem er zum Beispiel die Titelseite der Zeitung – die den autoritären König zeigt (den Vater des heutigen Reformers), wie er im offenen Wagen das Land durchquert und das Volk ihm zujubelt – mit den Worten kommentiert: „Des sous, des sous …“ Ein paar Pfennige, ein paar Pfennige! So schallt es uns nämlich vom bitterarmen Volk entgegen, sobald wir unser Luxusgetto verlassen.

Und einmal rette ich Robert sogar das Leben. Das hat der leider früh Verstorbene zumindest lebenslang behauptet. Als er eines Tages nicht zur Verabredung erscheint, gehe ich zu seiner Hütte – und da liegt ein leichenblasser, zitternder, schweißbedeckter Robert auf dem Bett. Er hatte sich beim Trip nach Agadir als neugieriger Mensch Drogen andrehen lassen und irgendwie zu viel davon genommen. Der rasch gerufene Arzt hat die Sache dann in den Griff gekriegt.

Und was wir damals auch nicht geschrieben haben: Dass Robert, mit dem ich mich im Club selbstverständlich geduzt hatte, beim Rückflug zu mir sagte: „Es ist besser, Alice, wir siezen uns in Frankfurt wieder. Was soll sonst Almut denken.“ So viel zu den Sitten der wilden 68er.

Ebenfalls leicht runtergespielt habe ich in meiner Reportage meine Begegnung mit Udo Jürgens. Vermutlich wegen Bruno. Die Wahrheit war nämlich, dass Udo mir schon auf dem Hinflug schöne Augen gemacht hatte, immer wieder den Flugzeuggang rauf und runter stolziert war und vielsagende Blicke zugeworfen hatte. Beim Aussteigen hat er mich dann gleich angebaggert: Wohin ich denn nun fahren würde. „In den Club“, flötete ich, schon ganz Reporterin auf Rolle. Im wahren Leben allerdings waren schon damals balzende Schönlinge nicht mein Fall.

Eine Woche später taucht Udo Jürgens tatsächlich im Club auf und stöbert mich am Strand auf. Ich bin außer mir vor Freude. Was für ein belebendes Element für meine Reportage! Aber wo in Gottes Namen bleibt nur Robert mit seinem Fotoapparat?! Ich brauche Beweise! Also halte ich Udo hin, hüpfe mit ihm in den Wellen und habe reichlich Hände wegzuschieben von meinem Bikini. Endlich taucht Robert auf. Ich mache Zeichen – und mein rasender Reporter legt los. Ihm verdanken wir diese wunderschönen Fotos von Udo Jürgens und mir beim Beinahe-Kuss in der Hollywoodschaukel und mit der Gabel in der Hand …

Als in pardon die Anti-Stern-Reportage und Wahrheit über den Club erscheint, hören wir aus Hamburg: Henri Nannen tobt! „Wenn so was noch einmal passiert …“ Wir sind zufrieden.

Zurück in Frankfurt fädle ich gleich eine Rollenreportage in einer Fabrik ein. Ich habe mir VDO, den „zweitgrößten Frankfurt-Bockenheim ausgesucht, mit 6 000 ArbeiterInnen. Die Besitzerin ist eine Frau, Liselotte Linsenhoff. Ich sehe sie manchmal im Fernsehen, sie ist eine berühmte Dressurreiterin und wird im August Europameisterin werden (Ich bedauere noch heute, dass ich das nicht in meiner Reportage thematisiert habe). Mich interessieren die Arbeitsbedingungen sowie die Entlohnung der Arbeiterinnen, die das Geld für die Herrenreiterin erwirtschaften. Damals gab es noch die so genannten „Leichtlohngruppen“ (die unteren vier Lohngruppen) und der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern betrug 31 Prozent (heute 23 Prozent).

Doch die Minderbezahlung der Frauen war kein öffentliches Thema, auch für die Gewerkschaften nicht. Im Gegenteil: Die Entwicklung war rückläufig und die patriarchal strukturierten Gewerkschaften befürworteten sogar das später eingeführte Nachtarbeitsverbot für Frauen, angeblich zu derem Guten. Dabei war das schon im 19. Jahrhundert nur Vorwand zur Diskriminierung und Minderbezahlung von Frauen gewesen. An Bruno schreibe ich: „Die Unterbezahlung der Frauen ist ein Skandal. Das muss Thema werden!“

Zwei Wochen lang stanze ich täglich über 2 000 Löcher: an einer Maschine und auf einem Stuhl, die nach Männermaßen ausgerichtet sind und wo mir schon nach einer Stunde der Rücken weh tut; in einem infernalen Krach; und mit Toiletten, in denen es noch nicht mal Seife und Handtuch gibt (Kommentar des Betriebsrates: „Wo käme der Chef denn hin, wenn er für 6 000 Leute die Seife bezahlen würde!“). Ich bin tief schockiert von der hemmungslosen Ausbeutung der Menschen und der völligen Abwesenheit jeglichen kritischen Bewusstseins der Betroffenen. Die Arbeiterinnen selbst finden es sogar richtig, dass sie für dieselbe Arbeit weniger Geld kriegen als ein Mann („Der muss ja schließlich die Familie ernähren“). – Und ich habe da noch ein Problem: Der Vorarbeiter ist hinter mir her. Wenn ich mich nicht bald mit dem verabrede, kriege ich Ärger …

Meine Reportage erscheint Ende April – und auf dem DGB-Kongress vom 19. Mai wird ein „Programm für Arbeitnehmerinnen“ verabschiedet. Vielleicht hatte ja mein Text in der zu der Zeit von den Gewerkschaften sehr genau gelesenen pardon dazu beigetragen.

Wenn ich es in diesen Wochen trotz meiner Erschöpfung noch schaffe, gehe ich nach der Frühschicht (von 6 bis 14.30 Uhr) in die einen Steinwurf entfernte Uni-Bibliothek und lese Bücher wie „Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart“ von Clara Zetkin (1889). Und ich stelle fest: Vor 100 Jahren gab es schon genau dieselben Probleme. Gegen die hatten bereits damals sowohl die Sozialistinnen wie die Frauenrechtlerinnen gekämpft – doch das scheint alles wieder vergessen zu sein. Einmal schaffe ich es abends noch in den Club Voltaire – und ich beginne zu ahnen, wie exotisch das arbeitende Volk diese theoretisierenden Studenten finden muss …

Bruno macht sich schon wieder Sorgen. Diesmal um meine Hände. Wie die denn wohl aussähen bei der Arbeit? Und überhaupt, was das denn schon wieder für eine Schnapsidee ist, Schatz, so eine „scheußliche Arbeit“ zu machen. Ich antworte: „Mach dir keine Sorgen um meine Arbeit an der Stanzmaschine und meine Hände. Sonst müsstest du dir auch Sorgen machen, wenn ich spüle.“ Und ich füge hinzu: „Beunruhigen sollte dich eher das Los der Frauen, die nicht zwei Wochen, sondern zwanzig Jahre an so einer Stanzmaschine sitzen, und die keine andere Wahl haben.“ Klassenkampf liegt in der Luft. Und Geschlechterkampf sowieso.

Dennoch: Wir leiden beide sehr unter der Trennung. Und da ist auch die Befürchtung, dass unser immer weiter auseinander driftendes Leben – er studiert noch, ich bin voll im Beruf – uns zunehmend voneinander entfernen könnte. Bis heute war mein Selbstbild, dass ich dieses Problem – Liebe versus Beruf – immer sehr souverän und rational gehändelt habe. Doch wenn ich jetzt meine Briefe aus diesen Jahren lese, sehe ich, dass das eine Täuschung ist. Im Gegenteil.

Ich bin bereit, große Kompromisse einzugehen. „Eines muss ich vernachlässigen: dich oder pardon“, schreibe ich. Und ich ziehe den Schluss: „Ich möchte keine Karriere machen, die unsere Beziehung belastet.“ Bruno, dem begeisterten Leser von Hara-Kiri (dem französischen Pendant zu pardon), passt plötzlich die ganze Richtung bei pardon nicht, die doch im Vergleich zu Hara-Kiri erheblich harmloser ist. Er unterstellt pardon, nicht ganz zu unrecht, eine „libertinäre Atmosphäre mit Sex und Pornografie“. Gleichzeitig sieht er für sich keine Möglichkeit, jetzt nach Deutschland zu ziehen. Also beschließen wir bereits Ende Februar, nur zwei Monate nach meinem Antritt in Frankfurt, dass ich im Sommer nach Paris ziehen werde. Erneut beginne ich mit der Suche nach einer Stelle und Kontakten, sage aber bei pardon noch nichts. Schon im März treffe ich in Paris den Leiter des ARDStudios, Ernst Weisenfeld, der ab Herbst mein bester Auftraggeber werden wird.

Bei pardon gebe ich weiterhin mein Bestes, arbeite Tag und Nacht: Ich treffe US-Deserteure aus Vietnam, esse auf revanchistischen Vertriebenentreffen Streuselkuchen und gehe mit der Heilsarmee in Frankfurt auf den Strich. Gleichzeitig suche ich Arbeit in Paris, hole mir bei den großen deutschen Zeitschriften Körbe (weil sie die Korrespondenten prinzipiell nur vom Mutterhaus aus ins Ausland schicken) und knüpfe Kontakte für freie Mitarbeit.

Der Druck auf mich ist groß, von allen Seiten. Und ich kaufe mir jetzt am Kiosk vor dem Haus Tafeln Schokolade, die ich, angekommen im dritten Stock, schon aufgegessen habe. Das ist ungewöhnlich für mich.

Im April verliert de Gaulle das Referendum, Pompidou wird sein Nachfolger. An der Frankfurter Uni liefern sich die Studenten Schlägereien mit „den Bullen“. In Vietnam ziehen sich die Amerikaner zurück, die Weltmacht hat die Schlacht gegen die Guerillakämpfer vom Vietkong verloren. Und in Deutschland wird die SPD im September erstmals auf 43 Prozent kommen (CDU/CSU 46). Laut Wahlanalyse verdanken die Sozialdemokraten das der nun wählenden Frauenmehrheit. Willy Brandt wird Kanzler. Doch gedankt wird es den Frauen nicht: von 518 Abgeordneten sind nur 34 weiblich, also knappe sieben Prozent.

Anfang Juni kündige ich bei pardon und sage, dass ich in Paris als Korrespondentin arbeiten – und heiraten werde. Was ein bisschen ein Vorwand ist, gleichzeitig aber ernst gemeint. Am nächsten Tag bringen die Kollegen Wein mit und stoßen mit mir auf meine Zukunft an. Einer der Zeichner skizziert mich als Wölfin mit zwei Babies an den vielen Zitzen (nach der Legende von Romulus und Remus, den Gründern Roms). Das kränkt mich. Aber ich sage nichts. Doch immerhin: Nikel freut sich, dass ich auch von Paris aus für pardon schreiben will. An Themen mangelt es nicht.

Meine letzte große Recherche für pardon ist das Solidaritäts-„Knast-Camp“ der APO für Reinhard Wetter im fränkischen Ebrach. Der Student sitzt dort für acht Monate ein, weil er in München aufmüpfige Flugblätter verteilt hatte und Schwarzgefahren war. Und die „Münchner Genossen“ hatten bei pardon angefragt: „Könnt ihr uns nicht publizistisch unterstützen?“ Wir können. Ich werde hingeschickt.

Meine Erfahrungen in Ebrach verarbeitet pardon-Redakteur Peter Knorr (der später zusammen mit Gernhardt u.a. die Texte für Otto schreiben wird) nach meinem Abgang nach Paris zu einem Bericht, Tenor: „Eine politisch unreflektierte Solidaritätskampagne“.

Eben dieser nette Knorr hatte wenige Tage zuvor auf meinem letzten pardon-Fest einen ganz bemerkenswerten Satz zu mir gesagt. Es ist schon spät und er hat auch reichlich getrunken. Da beugt er sich zu mir und sagt: „Du bist ja eigentlich ganz nett. Nur schade, dass du frigide bist.“ – Mir verschlägt es die Sprache. Ich muss mir diesen Ruf wohl erworben haben, weil ich mit keinem von den
pardon-Jungs im Bett war.

Beim französischen Konsulat kümmere ich mich inzwischen um die Heiratspapiere und habe die frohe Nachricht für Bruno, dass auch er als Mann, ganz wie ich, ab dem 1.1.1970 bei Eheschließung die doppelte Staatsangehörigkeit beantragen kann: „Dank der Emanzipation der Frauen“, kommentiere ich.

Und ich schlage auch gleich vor: „Ich möchte auf jeden Fall meinen Namen behalten! Wir könnten doch beim Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage einreichen. Für das Recht von Frauen auf ihren eigenen Namen. Was meinst du?“ – Bruno, der Jurist, findet das interessant.

Auf seine Sorgen – noch keine Stelle, noch keine Wohnung – erwidere ich: „Ich lese gerade die Briefe von Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis an die Frau von Liebknecht. Sie sind so gelassen und zärtlich … Du weißt ja, Luxemburg wurde zwei Jahre später ermordet. – Also, dagegen sind unsere Probleme doch wirklich nicht der Rede wert.“ Ich scheine in einer wahrhaft heroischen Stimmung zu sein. Es ist eine Zeit des vielfachen Aufbruchs: mein Beruf, 68, die Frauen …

Dennoch, jetzt wird es ernst. Also notiere ich für Bruno ein paar grundsätzliche Worte, wie ich mir ein Zusammenleben vorstelle. Ich schreibe: „Ich liebe dich und habe volles Vertrauen zu dir. Denn du wirst sicherlich nie versuchen, mich zu reglementieren“, schreibe ich quasi beschwörend am 22. Juni. Obwohl er doch genau das in den vergangenen Monaten versucht hatte. Und ich fahre fort: „Wir werden uns so respektieren, wie wir sind, nicht wahr? Im Guten wie im Bösen. Und was schlecht ist, werden wir zu ändern versuchen. Aber wir werden niemals versuchen, den anderen zu besitzen. Man muss sich in Freiheit lieben. Sonst ist es der Anfang vom Ende.“ – So denke ich noch heute, würde es aber vermutlich weniger heroisch formulieren.

Am 21. Juni betritt Neil Armstrong als erster Mensch den Mond und spricht: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer für die Menschheit.“ – Und ich? Ich packe meine Koffer für Paris. Mal wieder.

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Alice Schwarzer: Lebenslauf (Kiepenheuer & Witsch, 22.99 €).

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