Alice Schwarzer: Gewalt & Geschlecht
Hohe Wellen schlug die Erregung am Wochenende über einen Kommentar der Linguistin Luise Pusch auf EMMAonline. Sie macht darin darauf aufmerksam, dass Amokläufe und Familienauslöschungen (gerne verschleiernd „Familiendrama“ genannt) überwiegend von Männern begangen werden. Das ist ein Fakt. Die Feministin zieht daraus den Schluss, dass das ein guter Grund sei für eine Frauenquote im Cockpit (wo nur 6 Prozent Frauen sitzen): Mehr Pilotinnen, weniger Risiko.
Die Mehrheit der Täter bei Amoktrips sind Männer - was
Gründe hat
Auslöser für die Überlegungen von Pusch war das Airbus-Unglück mit 150 Toten und die mutmaßliche Rolle des 27-jährigen Co-Piloten. Allerdings sind die Ursachen des Unglücks noch nicht geklärt. Spielt ganz sicher kein technischer Defekt eine Rolle? Und wenn nicht, hat der Co-Pilot dann in vollem Bewusstsein und mit voller Absicht gehandelt? Oder befand er sich in einem psychischen Ausnahmezustand? Wir wissen es nicht und können nur hoffen, dass bald Antworten auf diese Fragen gefunden werden. Hoffen für die Opfer, für die Fluggesellschaft – aber auch für den mutmaßlichen Täter.
Der Text auf EMMAonline hat allerdings über den aktuellen Fall hinaus eine wichtige Debatte angestoßen: Welche Rolle spielt das Geschlecht bei Amoktrips? EMMA hat darüber in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt berichtet, wie zum Beispiel im Fall des Amokläufers in der Schule von Winnenden 2009. Amoktrips und Familienauslöschungen (Familiendrama) werden in der Tat in überwältigender Mehrheit von Männern begangen. Was Gründe hat. Die liegen selbstverständlich nicht im biologischen Geschlecht. Denn es gibt ja durchaus auch Täterinnen, wenn auch nur verschwindend weniger. Die Gründe sind psychosozialer Natur.
- Es kann etwas mit einem vermeintlichen „Versagen“ bei der Männerrolle zu tun haben. Zum Beispiel ein Familienvater verliert eine Stelle und schämt sich über den sozialen Absturz.
- Es kann etwas mit gekränkter „Männerehre“ zu tun haben: Zum Beispiel die Ehefrau will gehen – oder ein angeschwärmtes Mädchen weist den Verehrer zurück.
- Es kann der Konsum von Porno- und Gewaltfilmen eine Rolle spielen. Wobei das auf „fruchtbaren“ Boden fallen muss: Verunsicherung, Isolation etc.
- Es kann etwas mit der Gewohnheit zu tun haben, zu töten. Zum Beispiel ein Kriegsveteran, der im Krieg dutzende Menschen getötet hat, kommt zurück in die Heimat – und tötet dort weiter, sobald er überfordert ist bzw. aggressiv (In den USA gab es in den vergangenen Jahrzehnten mehrere solcher Fälle). Die kulturelle Hemmschwelle, nicht zu töten, wurde in dem Fall in Kriegszeiten niedergerissen und funktioniert nun auch nicht mehr in „Friedenszeiten“.
Spezifisch männliche Gewalt kann also viele Ursachen haben. Doch solange wir nicht nach den Ursachen forschen und sie benennen – solange können wir solche Taten auch nicht in Zukunft verhindern.
Die Gewalt mancher Männer innerhalb der Familie gegen Kinder und Frauen zum Beispiel war bis Mitte der 1970er Jahre überhaupt kein Thema. Es gab sie angeblich einfach nicht. Bis Feministinnen anfingen, dieses Schweigen zu brechen.
Heute wissen wir, dass diese sogenannte „familiäre Gewalt“ epidemische Ausmaße hat – und lebenslange Folgen für die Opfer. Und viele (potenzielle) Täter haben sich erst durch die öffentliche Debatte bewusst gemacht, was sie da tun – und so manche versuchen, sich zu ändern. Viele (potenzielle) Opfer haben sich erst durch die Debatte klar gemacht, dass sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal und schon gar nicht persönlich daran schuld.
Erforschung der geschlechtsspezi-
fischen Faktoren von Gewalt ist existenziell
Frauen taten sich zusammen, griffen zur Selbsthilfe: gründeten Notrufe und Frauenhäuser. Gesetze wurden erlassen; Maßnahmen ergriffen, wie die Meldepflicht von Ärzten bei Gewalt gegen Kinder. Unsere Gesellschaft verschließt vor der Beziehungsgewalt von Männern gegen Kinder und Frauen nicht länger die Augen. Sie hat die Aufklärung darüber und den Kampf dagegen zu ihrer Sache gemacht.
Männer in der ersten Lebenshälfte machen bis zu vier Mal so oft Selbstmord wie Frauen. Frauen, heißt es, töten sich seltener, weil sie Verantwortung für Kinder haben; doch vielleicht sind die Gründe komplexer. Auch die „Familienauslöschung“ ist bei Frauen rar, aber es gibt den so genannten „erweiterten Selbstmord“, bei dem Mütter ihre Kinder mit in den Tod nehmen. Sie scheinen zu glauben, die Kinder könnten ohne sie nicht leben.
Es ist also existenziell, auch über die geschlechtsspezifischen Gründe und Formen von Gewalt nachzudenken. Denn nur, wenn wir die Gründe erkennen, können wir auch dagegen angehen.
Alice Schwarzer