"Das Sterben muss ein Ende haben!"
Ich habe in den vergangenen Monaten in den Medien viel über Panzer gelernt. Von Redakteuren, die in der Regel Panzer nur aus Computerspielen kennen. Sie beschreiben fasziniert die Funktionen der diversen Panzertypen, bis hin zum Design. Und das auch wie im Computerspiel. Nur eines hat bisher immer gefehlt: die Menschen – bzw. die Leichen.
Panzer sind Tötungswerkzeuge. Tödlich für alle, die in einem Panzer sitzen, sie verbrennen beim Angriff. Tödlich für alle, die in Schussreichweite eines Panzers geraten. Wofür also riskieren diese Menschen ihr Leben?
Letztendlich geht es in jedem Krieg um Interessen und Macht. Um Pfründe und Geopolitik. Für die Menschen aber geht es um ihr Leben.
Deshalb war es richtig, der von Russland brutal überfallenen Ukraine mit Waffen zur Seite zu stehen. Zunächst. Deshalb ist es heute richtig, nach einem Jahr Tod und Verwüstung, nach dem Ziel des Krieges zu fragen. Und nach seiner Verhältnismäßigkeit.
Nach einem Jahr Tod und Verwüstung müssen wir nach dem Ziel dieses Krieges fragen
Ist das Ziel der Rückzug der Russen aus den seit dem 24. Februar 2022 besetzten Gebieten? Das ist legitim und wäre mit für beide Seiten zumutbaren Kompromissen vermutlich in Verhandlungen erreichbar.
Oder ist das Ziel ein Sieg über Russland? Das wäre weder legitim noch realistisch. Man kann die größte Atommacht der Welt nicht besiegen. Sollte man das ernsthaft versuchen, könnte es das Ende unserer Welt bedeuten.
Wir befinden uns jetzt in einem sogenannten „Abnutzungskrieg“. In so einem Krieg kann der Gegner nicht besiegt werden, sondern nur geschwächt. Aber um welchen Preis?
Der erste Schritt vor diesem Abnutzungskrieg war die psychologische Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas: das Schüren eines dumpfen Gut/Böse-Denkens, das den jeweiligen Gegner dämonisiert, sprich: entmenschlicht. Darum redet Russland von „Nazis“ und die Ukraine von „Teufeln“. Denn Menschen bringen nicht Ihresgleichen um, sondern nur Unmenschen. Der logische zweite Schritt ist die Akzeptanz des Krieges.
Ein "Abnutzungskrieg" kann den Gegner nur schwächen. Aber um welchen Preis?
Von „Stellungskämpfen“ ist inzwischen sogar die Rede. Stellungskämpfe. Das habe ich das letzte Mal von meinem Großvater gehört. Er geriet im Ersten Weltkrieg in das Massaker in Verdun. Da umarmten sich am 24. Dezember die deutschen und die französischen Soldaten – und ab dem 25. Dezember erschlugen, erwürgten, erschossen sie sich wieder.
Aus den Lehren des Ersten und Zweiten Weltkrieges haben die Vereinten Nationen den Schluss gezogen, dass Krieg nie eine Lösung sein kann, sondern immer eine Verschärfung der Probleme bedeutet. Die UN-Charta benennt das Bemühen um Frieden als eine der vornehmsten Pflichten aller Völker. UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte jüngst: „Ich fürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg, sie bewegt sich mit weit geöffneten Augen in ihn hinein.“
Das ist die wahre Zeitenwende: Dass das Wort „Pazifist“ zu einem Schimpfwort geworden ist. Und zwar zu einem Schimpfwort von links.
In der Ukraine führen die beiden Weltmächte, Russland und Amerika, einen Stellvertreterkrieg – in erster Linie auf Kosten der Ukrainerinnen und Ukrainer. Hunderttausende sterben. Ihr Land wird am Ende dieses Krieges verwüstet zurück bleiben. Und ganz Europa ist schon jetzt erschüttert, nicht nur ökonomisch.
Die Außenministerin gießt Öl ins Feuer und redet von einem "Krieg gegen Russland"
Doch was tut die deutsche Außenministerin, die erste Diplomatin unseres Landes? Sie führt in dieser brandgefährlichen Situation offensichtlich noch nicht einmal Gespräche mit Russland – was diplomatischer Standard wäre -, sondern hört nicht auf, Öl ins Feuer zu gießen. Mit einem „Verbrecher“ wie Putin dürfe man nicht verhandeln, sagt sie und redet gar von einem „Krieg gegen Russland“.
Sie sind doch Feministin? Das bekomme ich manchmal zu hören. Warum kümmern Sie sich denn jetzt um den Krieg? Eben weil ich Feministin bin! Denn Krieg ist ja immer auch der Gipfel des Männlichkeitswahns. Der Weg von der Gewalt im Ehebett zu der Gewalt an der Front ist nicht weit. Und wer nicht begeistert mitmarschiert, ist ein Weichei, ist weibisch. Die Gewalt war und ist für unabhängige Frauenrechtlerinnen ein zentrales Thema. Und der Gipfel der Gewalt ist der Krieg.
Ich bin stolz darauf, in einer feministischen Tradition zu stehen, für die Kriege immer schon ein Verbrechen waren. Bertha von Suttner, die Initiatorin des Nobelpreises für den Frieden, war eine aktive Frauenrechtlerin. Und die quasi einzigen Stimmen, die sich 1914 mitten in der Kriegseuphorie öffentlich gegen den Krieg erhoben haben, waren fast ausschließlich bekannte Feministinnen. Frauen wie Anita Augspurg oder Lida Gustava Heymann. Sie wagten es, sich gegen alle Kriegsbesoffenen zu stemmen. Auch gegen die Hurra-Stimmung der Fortschrittlichen, der Intellektuellen und Künstler.
Am Ende dieses "Abnutzungskrieges" stehen Verhandlungen. Warum dann nicht jetzt?
Den von Militärexperten jetzt prognostizierten „Abnutzungskrieg“ kann niemand gewinnen. Und das wissen auch alle. Schon im November letzten Jahres sprach der oberste Militär Amerikas, General Milley, von einer „Pattsituation“. Er fordert seither dringlich Verhandlungen. Bereits damals nannte er die Zahl von 200.000 Toten an der Front, auf beiden Seiten, und 50.000 toten Zivilisten in der Ukraine. Von den vergewaltigten Frauen und den traumatisierten Kindern ganz zu schweigen.
Ein Abnutzungskrieg würde bedeuten: Jahrelanges weiteres Elend, Sterben und Zerstörung. Und am Ende dieses „Abnutzungskrieges“ werden – Verhandlungen stehen. Warum also nicht jetzt verhandeln?! Und hunderttausende Menschenleben retten!
Bereits im April 2022 standen die Ukraine und Russland kurz vor Abschluss von Friedensverhandlungen. Wie wir heute wissen, hat der Westen das verhindert. Jetzt, nach einem Jahr Krieg, wird nicht mehr über Kompromisse geredet. Putin scheint unerbittlich und Selenskyj größenwahnsinnig. „Verhandlungen mit Putin sind Zeitverschwendung“, verkündete er jüngst. Bereits im Oktober vergangenen Jahres verbot der ukrainische Präsident Verhandlungen mit Russland per Dekret.
Glauben der Präsident der kleinen Ukraine und seine Gönner wirklich, dass die größte Atommacht der Welt besiegt werden kann? Nehmen sie in Kauf, dass die ganze Welt mit in diesen Krieg gezogen wird?
Der Krieg bedroht auch den Globalen Süden, den er in dramatische Hungersnöte stößt
Längst ist auch dieser Krieg größer, viel größer als die Ukraine. Er schadet und bedroht ganz Europa. Und den sogenannten Globalen Süden, den er in dramatische Hungersnöte stößt.
In diesem Globalen Süden leben 90 Prozent der Weltbevölkerung. Sie sind mit überwältigender Mehrheit gegen diesen Krieg, ja häufig sogar auf der Seite Russlands.
Vor allem die Militärs des Westens hören darum nicht auf, zu warnen. Und was tun die Politiker? Sie machen weiter. Sie pokern mit unser aller Leben. Wird Putin – oder wird er nicht? Ach was, der blufft doch nur…
Die Menschen aber wissen es besser. Vor allem die älteren, die noch den Krieg erlebt oder Erzählungen vom Krieg gehört haben. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage sind 56 % aller Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen (und nur 31 % dafür). In Ostdeutschland sind sogar 71 % dagegen. Und die Mehrheit der deutschen Bevölkerung befürwortet unser Manifest. Das sehen wir ja auch heute hier!
Militärs hören nicht auf zu warnen. Und was tun die Politiker? Sie machen einfach weiter.
Unsere Kritiker spotten, wir Pazifisten hätten ja nur Angst. Wir wären Feiglinge. In der Tat: Wir wollen keinen Heldentod sterben. Und auch nicht den Atomtod. Doch dem waren wir seit Hiroshima noch nie so nah wie heute. Wer in dieser Situation keine Angst hat, ist einfach ein Dummkopf oder ein Zyniker.
Darum stehen wir heute hier. Trotz des Tsunamis an Beschimpfungen, Verdrehungen und Diffamationen, der über Sahra Wagenknecht und mich hinweggedonnert ist. Doch wir lassen uns nicht einschüchtern!
Wir stehen hier, weil wir nicht tatenlos dabei zusehen wollen, wie jeden Tag hunderte Menschen geopfert werden. Weil wir nicht tatenlos dabei zusehen wollen, wie die Gefahr eines Atomkrieges leichtfertig in Kauf genommen wird. Weil das Sterben ein Ende haben muss!
Wir danken den über 600.000 Menschen, die innerhalb von nur zwei Wochen das „Manifest für Frieden“ unterzeichnet haben. Und wir danken allen, die heute hierhergekommen sind, um mit uns für den Frieden aufstehen.
Das, was wir gerade erleben, ist der Beginn einer Bürgerbewegung!
ALICE SCHWARZER