"Behutsam mit den Menschen"
Alice Schwarzer liest „dann schon mal eine Passage“ aus ihrem neuen Buch. „Ohne meine BegleiterInnen – großes i!“ Sie lächelt. Strahlt. Etwas später, beim Lesen, als sich in „Meine algerische Familie“ die Hausfrau erst zum Nachtisch zu ihren Gästen setzt, da sie davor mit Hin- und Hersausen, Zubereiten, Herrichten und Servieren der Speisen beschäftigt war, folgt eine milde Spitze: „Tja, meine Herren, da ist die Welt noch in Ordnung – wie bei uns in den 50er und 60er Jahren.“ Lacher im vollbesetzten Stadthaus-Saal. Ein paar der rund 300 Besucher – davon immerhin geschätzt ein Zwanzigstel Männer – nicken energisch.
Das war’s dann aber auch schon, was die bekannteste Frauenrechtlerin, einst gefürchtetste Vertreterin der Lila-Latzhosen-Fraktion und mit Romy Schneider damals „meistbeschimpfte Frau“ Deutschlands zu Geschlechterrollen sagt.
Den Rest des Montagabends im Stadthaus ist die 75-jährige Publizistin vielmehr eine Frau, die viel lächelt und lacht. Eine, die als Gastgeschenk nach Afrika eine Kuckucksuhr mitbringt. Die sich „irgendwie dazwischen, zwischen den Frauen und den Männern“ fühlt. „Das bin ich hier ja auch“, sagt sie leicht ironisch mit einem Blick auf ihre Gesprächspartner in der vh-Reihe „Autor im Gespräch“: vh-Chefin Dagmar Engels und SWR-Redakteur Wolfgang Niess. Eine wohltuend gebildete Intellektuelle, streitbar, stark, aber anscheinend stets den Anstand wahrend. Eine, die Geschichte nicht studiert, sondern erlebt hat. Die Simone de Beauvoir nicht nur las, sondern interviewte und mit Jean-Paul Sartre befreundet war. „Seit 50 Jahren mit Leidenschaft Journalistin“, so beschreibt sich die weißblonde Frau im knielangen grau-weißen Kaftan selbst. „Ich bin theoretisch sehr streng, aber mit den Menschen milde.“ Da sie „gern missverstanden oder missinterpretiert“ werde, wählt sie ihre Worte umso präziser. Das kennt sie schließlich schon seit sie 1968 Reporterin der Satirezeitschrift „Pardon“ war. Und als Verlegerin und Chefredakteurin der 1977 gegründeten Frauenzeitschrift „Emma“ sowieso. Da schiebt sie lieber noch das eine oder andere „wenn ich das so sarkastisch sagen darf“ zu viel hinterher.
Zudem ist Alice Schwarzer – so stellt sie Gastgeberin Engels auch vor – Buchautorin, und zwar eine der erfolgreichsten im Land. Nach dem bis in die 1990er Jahre immens wichtigen „Der ,kleine Unterschied’ und seine großen Folgen“ (1975) hat sie Petra Kelly und Gert Bastian, Gräfin Marion Dönhoff sowie Romy Schneider porträtiert. Ihr ausführliches und für viele unerwartet behutsam und sensibel geführtes Interview mit der berühmten Schauspielerin im Jahr 1976 – sechs Jahre vor deren Tod – veröffentlichte sie jüngst zu Romys 80. in einer Fernseh-Doku. Auf ihre Autobiografie folgten ein Buch über Prostitution, eins über die Silvesternacht von Köln und im Februar „Meine algerische Familie“ (Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 22 Euro).
Deswegen ist sie in Ulm, darüber will sie sprechen. Denn der Blick von Nordafrika verschiebe die Perspektive. „Wir sind ja auch indoktriniert. Noch nie war die Presse hier so gleichgeschaltet.“ Der Mittelmeerraum sei historisch ein Kulturraum, betont sie, und fordert: „Wir Europäer müssten Algerien die Hand reichen.“
Ihre unkommentierten, fein beobachteten und beschriebenen Aufzeichnungen über Ansichten und Alltag der Familie ihrer Kollegin Djamila („eine verhinderte Angela Davis“), mit der sie seit 1989 befreundet ist, sollen neugierig machen auf das größte Land Afrikas. Das Buch sei „diese Mischung aus Unterhaltung und Bildung, die heute so beliebt ist“. Da lächelt sie wieder verschmitzt. „Das Leben ist ja auch zu kurz, um sich zu langweilen.“
Zum Ende des gut einstündigen Gesprächs mit Lesung kommt sie doch nochmal aufs Geschlechterthema: „Die Frauenfrage spielt in Algerien im Grunde keine entscheidende Rolle“, sagt Alice Schwarzer. „Ich wollte das nicht durch diese Brille einengen.“ Beim Politisieren mit Frauen in einer Milchbar in Algiers hatte sie eh ganz vergessen, die Kopftuchfrage zu stellen. Aber am Büchertisch liegt selbstverständlich auch die „Emma“ aus: „Die ist ganz anders als das Klischee und ein verdammt gutes Blatt!“
Der Text erschien in der Südwestpresse.