Pionierin gegen falsche Toleranz
Alice Schwarzer plädiert dafür, eine lange übersehene Gefahr endlich angemessen zur Kenntnis zu nehmen.
Essen. „Ich rede nicht über den Glauben, ich rede über den Missbrach des Glaubens als politische Strategie“, sagt Alice Schwarzer, kaum dass sie in der Alten Synagoge in Essen Platz nimmt. Man muss das wohl so halten, um den Verharmlosern de Islamismus nicht gleich ins offene Messer zu laufen. Die argumentieren gerne, die Kritiker wollten in Wahrheit den Islam als solches, ja eine ganze Kultur in den Dreck ziehen und verstünden im übrigen nicht genug, um mitreden zu können.
Das Haus des Islam hat „dunkle Räume“, in die viele Muslime ungern hineinleuchten, wie es der Schriftsteller Leon de Winter mal treffend sagte. Eine allzu durchsichtige Taktik, auf die immer noch viele reinfallen, indem sie sich den Mund verbieten lassen. Nicht so Alice Schwarzer. Sie hat sich mit dem Thema Islamismus schon befasst, als die Multikulti-Naivität in Deutschland in voller Blüte stand und zum Beispiel die verbreitete Unterdrückung der Frau im islamischen Kulturkreis noch als eine Art folkloristisch-kulturelle Eigenart galt, die „uns“ nichts angehe. „Andere Länder, andere Sitten“, wie die Frauenrechtlerin nicht ohne Sarkasmus bemerkte.
Wobei die „anderen Länder“ in Form der inzwischen etwas bekannteren Parallelgesellschaften manchmal nur ein paar Straßen weiter beginnen. Die „falsche Toleranz“ gegenüber den Islamisten, die laut Schwarzer sehr lange auch in den Medien grassierte, blieb nicht ohne Folgen, auch für sie persönlich: „Damals hatte ich die zweifelhafte Ehre, als Rassistin angefeindet zu werden.“
Damals – für Schwarzer begann die kritische Auseinandersetzung mit dem Islamismus 1979, als sie kurz nach der Machtübernahme des Ayatollah Khomeini in den Iran reiste, um zu beobachte, wie Frauen nach Einführung der Scharia, also des islamischen Rechts, zu Menschen zweiter Klasse degradiert wurden. Ähnliche Erfahrungen, noch blutiger, habe sie in Algerien machen müssen, wo Islamisten reglerecht Jagd auf Frauen machten, die sich der Scharia widersetzten.
Für Schwarzer ist das Kopftuch ein politisches Symbol, das im geschützten Raum der Schule nichts verloren habe – und zwar auch nicht auf den Köpfen der Schülerinnen. Schließlich der Streit um die Mohammed-Karikaturen, in der ihr die Meinungsfreiheit entschieden zu kurz kam. „Jede deutsche Zeitung hätte diese harmlosen Karikaturen drucken müssen.“
„Der Islamismus ist eine totalitäre Ideologie in der Tradition des Nationalsozialismus und des Stalinismus“, sagt Schwarzer. Eine These, die wegen der Gradzahl des Hasses gegen Andersdenkende und der potenziellen eliminatorischen Energie alles andere als exotisch ist – und eine These, mit der Schwarzer in die Alte Synagoge passt. Die Gedenkstätte wurde von der langjährigen Leiterin Edna Brocke zu einem anti-totalitären – nicht etwa nur anti-faschistischem – Forum ausgebaut. Eine Entwicklung, die in Essen umstritten ist, aber von jenen geschätzt wird, die offene, tabufreie Debatten für nötig halten. An diesem Abend mit Alice Schwarzer war dies die große Mehrheit der etwa 400 Besucher.
Frank Stenglein, NRZ, 4.3.2006