Alice Schwarzer schreibt

Aus Liebe

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Wenige Tage zuvor noch hatte sein langjähriger Lebensgefährte und Mentor, Hartmut von Hentig, alles geleugnet. Der „große Aufklärer“ und Nestor der Reformpädagogik beteuerte fragenden Journalisten gegenüber, sein Freund sei nicht nur ein „begnadeter Lehrer“, sondern auch ein „besonders feinsinniger Mensch“, und er könne sich maximal vorstellen, dass „mal ein Schüler seinen Lehrer Becker irgendwie verführt habe“ (Süddeutsche Zeitung). Das alte Lied vom Opfer, das eigentlich der Täter ist.
Doch erstmals hören wir auch andere Töne. Dabei geht es leider nicht nur um individuelle Vergehen bzw. Verbrechen Einzelner. Es geht um ein strukturelles Problem. Es geht um Machtverhältnisse. Macht, die Pädagogen alten Stils offen und brutal ausgenutzt – und Pädagogen neuen Stils geleugnet aber ausgeübt haben.

Was noch übler ist. Denn der offene Missbrauch von Körper und Seele lässt sich von einem Kind wenigstens noch als solcher erkennen; der verdeckte, unter dem Mantel der vorgeblichen „Gleichheit“ aber, vermengt mit „Liebe“, ist für das abhängige, getäuschte Kind nur schwer als Übergriff erkennbar. Es ist verwirrt – und gibt sich im schlimmsten Fall auch noch selber die Schuld.

Das ist die Infamie der Moralisierer im Namen Christi oder im Namen der Revolution. In der Verurteilung der katholischen Kirche, die zu lange geschwiegen hat, sind sich alle einig. Über die „Reformpädagogen“ aber sind jetzt erstmals kritische Artikel erschienen (z.B. in der FAZ von Heike Schmoll oder in der SZ von Tanjev Schultz).

Schmoll erinnert daran, dass nicht die gesamte „Reformpädagogik“ auf der Anklagebank sitze, sondern nur eine Strömung: die 68er. Und sie zitiert als Beleg den als „konservativ“ geltenden, im 20. Jahrhundert mit prägenden Reformpädagogen Wilhelm Flitner mit dem so wahren Satz: „Erziehung bedeutet die Ausübung von Macht über Menschen“. Macht, die auch Verantwortung in sich birgt. Verantwortung, Stellung zu beziehen und Grenzen zu setzen.

Doch genau diese Verantwortung hatte die sich als „progressiv“ deklarierende Strömung der 68er Pädagogik offensichtlich nicht. Und es fällt schon auf, wie viele mehr oder weniger offen Pädophile in ihr das Sagen haben. Subjektiv haben sie das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern geleugnet, objektiv jedoch haben sie diese Macht ausgeübt.

In dieser Tradition der verantwortungslosen Reformpädagogik, die den sexuellen Missbrauch jahrzehntelang verharmloste oder gar propagierte, stehen Leute wie der Pädagoge Prof. Reinhart Wolff oder die Lehrerin Katharina Rutschky ("Falsche Kinderfreunde"), die zusammen in den 80er Jahren den fatalen Slogan vom angeblichen „Missbrauch des Missbrauchs“ erfanden – und so die frühe Aufklärung über sexuellen Missbrauch von Kindern durch Feministinnen systematisch in Misskredit brachten (indem sie behaupteten, dies sei vor allem eine Erfindung von Feministinnen, die unschuldigen Männern übel nachredeten).

Es ist gut, sehr gut, dass jetzt alles auf den Tisch kommt. Dass die Opfer wenigstens die späte Genugtuung erfahren, ernst genommen zu werden. Und es ist zu hoffen, dass auch in der kleinsten Zelle, in der Kinder Erwachsenen ohnmächtig ausgeliefert sind, nicht noch weitere 30 Jahre ungestört missbraucht werden kann.

Alice Schwarzer

PS: Zum Weiterlesen empfehle ich nicht nur die zahlreichen Artikel in EMMA von vor 10, 20, 30 Jahren – nicht zuletzt über die zahlreichen Hilfen von Feministinnen für missbrauchte Kinder – sondern auch die erhellende Analyse von Judith L. Herman: „Die Narben der Gewalt“ (Junfermann).

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