Was ist ein Jude?
Er hat es vermutlich gut gemeint, der Politiker, der, wie schon so viele vor ihm, gerade mal wieder erklärt hat, „Menschen jüdischen Glaubens“ dürften nie mehr Opfer werden in Deutschland. Jüdischen Glaubens? Sind die sechs Millionen Jüdinnen und Juden in den Konzentrationslagern gestorben, weil sie den „falschen“ Glauben hatten? Mussten die Millionen ins Exil fliehen, weil sie zu Jahwe beteten? Wurden die zum Christentum konvertierten Juden verfolgt, weil man sie für scheinheilig hielt?
Nein. Es geht nicht um Glaubensfragen. Denn vermutlich ist nur eine Minderheit der Juden gläubig, wie bei den Christen. Eine größere Gruppe wird Schabbat-Juden sein, wie die Weihnachts-Christen. Und eine weitere Gruppe hat mit Religion schlicht nichts zu tun oder ist sogar offensiv atheistisch.
Worum geht es dann? Es geht darum, dass man in Deutschland auch 72 Jahre nach dem Ende des Holocaust das Wort „Jude“ immer noch nicht auszusprechen wagt. Denn es war ein tausendjähriges Reich lang das schlimmste und gefährlichste Schimpfwort. Als solches allerdings erfährt es gerade eine Renaissance auf deutschen Schulhöfen, wo „du Jude“ oder „du Schwuler“ oder „du Opfer“ neuerdings zu den geläufigen Schimpfwörtern gehören. Wobei „du Opfer“ eine deutsche Spezialität ist.
Auch 72 Jahre nach dem Holocaust ist "Jude" tabu
In den 1990er Jahren erzählte mir Ignatz Bubis einmal, es passiere ihm immer wieder, dass Menschen ihn fragten, wie denn die aktuelle politische Lage in seinem Land so sei. Bubis pflegte dann zu antworten: Danke, meiner FDP geht es gut. Bubis ist in Breslau geboren und in Frankfurt gestorben. Er war Deutscher, Mitglied der FDP und Vorsitzender des „Zentralrates der Juden in Deutschland“. Doch in den Augen vieler Deutscher war er „Israeli“, konnte nur Israeli sein. Denn Juden gehören doch nach Israel, oder? Juden, die gibt es doch gar nicht mehr in Deutschland. Stimmt. Fast. Dank eines tödlichen Antisemitismus.
Israel steht also nicht nur für ein Land, über dessen Politik man streiten kann – und muss -, sondern es ist auch eine Chiffre für „die Juden“. Wer es nicht so direkt sagen will, der spricht eben von „Israelis“. Das heißt dann nicht Antisemitismus, sondern Antizionismus.
Ein Teil der radikalen Linken in Deutschland praktiziert das bereits seit einem halben Jahrhundert: Siehe der Bombenanschlag 1969 auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin durch die „Tupamaros Westberlin“, ein Vorläufer der RAF; oder die Selektion in dem 1977 nach Mogadischu entführten Flugzeug, um die inhaftierten RAF-Leute freizupressen. Die vier Palästinenser selektierten die Passagiere im Flugzeug nicht nach Israelis und Nicht-Israelis, sondern nach Juden und Nicht-Juden, unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Ersteres wäre noch als Krieg rechtfertigbar gewesen, Krieg von heimatlosen Palästinensern gegen Angehörige eines Staates, der mitverantwortlich ist für ihre Heimatlosigkeit. Zweiteres ist ganz einfach Antisemitismus.
Spätestens seit dieser Zeit hatte die Kritik von links am Staate Israel seine Unschuld verloren. Und längst hatten sich militante Palästinenser und ein Teil der radikalen Linken in Deutschland kurzgeschlossen: RAF-Mitglieder hatten in palästinensischen Flüchtlingslagern das Schießen und Bombenbauen gelernt. Und das schwarzweiße Palästinensertuch gehörte in der Zeit zum modischen linken Must.
Kritik am Staat
Israel hat ihre
Unschuld verloren
Sicher, die Kritik an der Politik der israelischen Regierung, in der fatalerweise die Falken den Ton angeben, ist in Zeiten von Trump dringlicher denn je. Wer weiß das besser als die verzweifelte Minderheit Israelis, die schon immer für Frieden und eine Zwei-Staaten-Lösung eintrat? Doch die Infragestellung des reinen Existenzrechtes eines Staates Israel ist inakzeptabel.
Es ist nicht ohne bittere Ironie, dass an den Fronten religiöse bzw. ideologische Fanatiker aller drei monotheistischen Weltreligionen aufeinanderprallen. Die Linien verlaufen im Zickzack. So waren der entscheidende Faktor bei der Wahl Trumps die Evangelikalen, fundamentalistische Christen, die ihn zu 80 Prozent gewählt haben. Sie sind es, die jetzt Trump zur Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem gedrängt haben (neben den israelischen Hardlinern). Was nicht nur in die Revolte der Palästinenser Öl gießt, sondern die ganze islamische Welt und die westliche Linke in Aufruhr versetzt. Ihr Slogan lautet: „Boycott, Divestment and Sanctions“. Früher hieß das: Kauft nicht bei Juden.
Im 21. Jahrhundert hat die Eskalation Fahrt aufgenommen. Und das auch bei den Juden. Elisabeth Badinter, deren Familie zahlreiche Menschen im Holocaust verlor, kritisierte jüngst das öffentliche Tragen der Kippa. Sie erzählte, dass ihr Vater, der ein frommer Mann gewesen sei, immer gesagt habe: Die Kippa trägt man nur in der Synagoge oder beim Gebet, „um sein Haupt vor Gott zu bedecken“, aber nicht auf der Straße. Doch genau das tun jetzt manche Juden. Sie schicken in Frankreich oder Deutschland sogar ihre Kinder mit der Kippa zur Schule. Demonstratives Judentum in antisemitischen Zeiten? Oder politische Provokation? So eine Provokation wie das öffentliche Beten von Muslimen oder die Forderung nach Gebetsräumen an Schulen und Universitäten.
Im Frühling war ich für ein paar Wochen in Algerien und Gast einer Großfamilie. Alle drei Generationen versicherten, sie seien gläubig und beteten fünfmal am Tag. Aber ich habe das kaum mitbekommen. Denn diese Muslime beten privat: Sie gehen kurz in einen Nebenraum. Das Gebet ist für sie eine Zwiesprache zwischen Mensch und Gott und keine öffentliche Demonstration.
Juden sind eine
Schicksals-
gemeinschaft
Doch auch ihr Glaube wird heute für ideologische Zwecke missbraucht. Das ist relativ neu. In den 1960er/70er Jahren gab es Millionen Türken in Deutschland. Die Deutschen identifizierten sie als Türken – aber nicht als Muslime. Der Glaube der Türken war damals kein Thema, weder seitens der Türken, noch seitens der Deutschen. Thema ist das erst seit dem ideologischen Feldzug des politisierten Islam, des Islamismus, der 1979 mit der Machtergreifung von Ayatollah Khomeini in Iran begann, in den 1980er Jahren in den Metropolen Europas ankam und noch lange nicht am Ende ist.
Wir dürfen darum nicht länger Islam und Islamismus in einen Topf werfen. Der Islam ist ein Glaube und Privatsache. Der Islamismus ist eine politische Machtstrategie, der den Glauben funktionalisiert. So wie die Evangelikalen den christlichen Glauben missbrauchen und seine religiösen Gesetze vor die weltlichen stellen. Diese fundamentalistischen Christen sind heute ein zentraler Machtfaktor nicht nur in Amerika, sie sind auch schon längst in Europa angekommen. So geht zum Beispiel der Versuch, uns Frauen das so mühsam erkämpfte Recht auf Abtreibung wieder zu nehmen, auf ihr Konto. Im Gegensatz dazu missionieren die jüdischen Fundamentalisten nicht, unter ihnen leiden nur die Juden, in Israel wie in den jüdischen Communitys der „Diaspora“.
Die Juden sind kein Volk. Die Juden sind keine Rasse. Die Juden sind keine Glaubensgemeinschaft. Die Juden sind eine Schicksalsgemeinschaft. Aber was ist ein Jude? In den Augen der Antisemiten ist er der ewige „Andere“. Dieses Schicksal teilen die Juden mit den Frauen, dem „anderen Geschlecht“. Wir sind nicht der Mensch an sich, sondern der/die Andere. Der, der nicht wirklich dazugehört, sondern im besten Fall geduldet wird. Der Andere, der definiert wird von dem Einen. Was ein Jude ist, weiß also niemand so gut wie der Antisemit.
Alice Schwarzer.
Der Text erschien am 12. Dezember in der WELT.
Mehr zum Thema
Alice Schwarzer über Antisemitismus