Alice Schwarzer schreibt

Das Dorf der freien Liebe

"Heute einem leibhaftigen Star begegnet. Udo Jürgens. Im Club." Alice Schwarzer auf Recherchereise für pardon.
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Ein schwarzer Wächter hütet den weißen Liebesstrand von Agadir. Doch Alice Schwarzer und Lützel Jeman ließen sich von ihm nicht schrecken. Zu groß war ihr Verlangen, das der Stern in ihnen geweckt hatte. Das Verlangen nach Liebe, freier, schrankenloser Liebe…

Vorspiel in Frankfurt, Lützel Jeman (Pseudonym von Robert Gernhardt)
„Hier Pardon-Redaktion, Rudolph. Herr Jeman, hätten Sie Ende des Monats Zeit für eine kleine Reportage?"
„Wohin soll es denn gehen?"
„Sie haben vielleicht schon gesehen, dass der Club Méditerranée, diese französische Feriengesellschaft, jetzt in Deutschland wirbt. Und da hatten wir uns gedacht, ob Sie sich nicht so ein Feriendorf ansehen wollten. In ihren Anzeigen versprechen die allerhand, ich weiß nicht, ob Sie sie schon gesehen haben..."

An eine konnte ich mich erinnern. Auf ihr sah man eine Zeichnung mit vielen Leuten, die sich, mit einer Art Lendenschurz bekleidet, umarmen, ohne dabei vor den sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmalen halt zu machen. „Lauter Leute hier, die dasselbe mögen wie wir. Nous sommes heureux", lautete der Text.

„Wir möchten Sie und Fräulein Schwarzer von der Redaktion da runter schicken. Nach Agadir. Das heißt, wenn Sie Lust haben..."
„Doch, doch."
„Fein. Der Stern hat übrigens schon etwas über Agadir gebracht. Vielleicht schauen Sie sich das einmal an. Da scheint es ja wirklich wild zuzugehen. Und überlegen Sie doch schon mal, welchen Aspekt die Sache haben könnte..."

Als guter Ehemann informierte ich zunächst meine Frau. „Das freut mich aber für dich", erwiderte sie, noch nichts Böses ahnend.

Als guter Journalist informierte ich mich sodann selber. Ich recherchierte ein wenig und hatte bald herausgefunden, dass Agadir an der Atlantikküste Marokkos liegt. Bald sollte ich noch mehr wissen.

„Sie fahren nach Agadir?", fragte ein befreundeter Soziologe. „Im Stern war da ein Bericht: Das Dorf der freien Liebe. Das scheint so eine Art Riesenkommune zu sein, wissen Sie. Jeder mit jedem... Aber was ich doch sehr interessant fand: Obwohl die Leute anfangs eine Phase von Partnertausch und Promiskuität durchleben, bilden sich am Ende doch wieder Pärchen." Er griff ins Bücherbord und holte den Stern, Nummer 6/1969. Und zitierte: „Gegen Ende jeder Woche, bevor am Sonntag viele Urlauber wieder nach Europa fliegen, werden im Nightclub die Tänze langsamer. Die Pärchen halten sich enger umschlungen und schauen einander tief in die Augen. Und am Flugplatz von Agadir, wenn die Trennung kommt, gibt es am Sonntag viele Tränen..." Der Soziologe lächelte: „Ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie stark immer noch überkommene Verhaltensweisen sind..."

Am nächsten Morgen kaufte ich mir den Stern. „Das Geschlechterverhältnis verspricht viel", las ich. „Auf vierzig Männer kommen sechzig Frauen. Von den Frauen kommt die Hälfte allein..." Ich rechnete: 30 kommen also schon mit Mann — bleiben 10 Männer übrig, auf die kommen 30 Frauen, l:3, nicht schlecht, nicht schlecht...

Ich erfuhr ferner: „Nahezu alle erotische Initiative ging und geht von den Frauen aus. Die Frauen haben die Rolle der Männer usurpiert..." „Ein sehr informativer Bericht", sagte ich.
„So?", sagte meine Frau und warf das Heft in die Ecke.

Ob ich schon einen Aspekt für die Sache habe, wollte Hagen Rudolph, der Geschäftsführende Redakteur wissen.
„Das ist schwierig", entgegnete ich. „Einen satirischen Aspekt sehe ich noch nicht. Oder haben wir etwas gegen die freie Liebe?"
„Keineswegs", beteuerte Rudolph. „Aber vielleicht gibt es doch etwas Lustiges her, wenn Männlein und Weiblein plötzlich alle Tabus durchbrechen, obwohl ihnen vielleicht gar nicht danach ist. Sie kennen das doch auch von unseren Faschingsbällen — das organisierte, ungezügelte Treiben bekommt leicht etwas Spießiges..."
Ich versprach, die Augen offen zu halten.

Dann kam ein Brief von der Münchener Geschäftsstelle des Club Méditerranée. Er schloss: „Mit den besten Grüßen, Ihre Ulrike." — Kein Nachname. Nur Ulrike. Meine Ulrike. L'esprit du Club — der berühmte Clubgeist — hier wehte er mir das erste Mal entgegen. Und noch deutlicher sagte es der „Trident", die 130 Seiten starke Club-Broschüre: „Dann kommen sie an. Sie, Männer und Frauen, die alle etwas suchen: Die Erholung... die Freunde... die nicht voraussehbaren Augenblicke, die vielleicht Augenblicke des Glücks sind..."

Es begann ernst zu werden. Drei Tage vor der Abfahrt rief mich meine Mutter an. „Weil du doch nach Agadir fährst. Ich habe da einen Bericht im Stern gelesen... Ich glaube, Almut erzählen wir besser nichts davon."
„Sie kennt ihn schon."
„Ach so. Ich hoffe, du bist erwachsen genug..."

Und am vorletzten Tag besuchte ich noch einen Freund, einen Mediziner.
„Was haben wir denn Schönes für dich? Hier, das ist etwas gegen Reisebeschwerden, und hier... das ist gut gegen Darmkrankheiten... Und das hier wirst du auch brauchen können..." „Gegen Erschöpfungs- und Müdigkeitserscheinungen. Belebt... Schafft Kraft...", las ich. „Also, viel Spaß. Und treib's nicht zu wild..."

In Paris, wo ich meine Kollegin Schwarzer traf, war der Himmel noch bewölkt. „Was sagt denn Ihr Verlobter dazu, dass Sie nach Agadir gehen?" „Ich habe ihm hoch und heilig versprechen müssen..."

Und dann saßen wir in der Caravelle, die uns in fünf Stunden in das Dorf der freien Liebe tragen sollte.

Lützel Jeman (Robert Gernhardt)

 Alice Schwarzer und Robert Gernhardt beim obligatorische Kamel-Foto am Strand.
Alice Schwarzer und Robert Gernhardt beim obligatorische Kamel-Foto am Strand.

Liebesrecherchen, Alice Schwarzer
Samstag, 15. März, 22 Uhr, Flughafen Agadir. Das müssen sie sein: Zwei schnieke bronzefarbene Knaben. Das sind sie: unsere ersten „GOs", die „gentils organisateurs": freundliche Organisatoren, wie sich die Angestellten des Clubs suggestiv nennen.

„Michel und Ali", präsentieren sich die beiden, angetreten zum Empfang der „GMs": das sind wir, „gentils membres", freundliche Mitglieder. Tja, so sind die im Club. Michel, ganz GO, bemüht sich sofort um meinen Koffer, der versehentlich in Casablanca geblieben ist. 24 Stunden wird er wohl noch unterwegs sein. Ich bin mürrisch, möchte maulen, tu's auch, will nicht ohne Nachthemd schlafen und überhaupt. „Nachthemd?", echot Michel. „Voyons! Im Club brauchst du doch kein Nachthemd. Im Club schläft man nackt." — „Nackt" mit sinnlich gezogenem Nnnn.

Ich werfe Jeman einen vielsagenden Blick zu. Da haben wir's. Ganz wie erwartet.

Als letzte steigen wir in den Bus zum Club. Nanu? Sind das die von der Club-Werbung versprochenen „glücklichen Wilden"? Die Twens der Avantgarde, zu allem bereit im Dorf der freien Liebe? Nein, vor uns sitzt — kein Zweifel — Twens Ahnengalerie. Ein Kaffeekränzchen am Tag der heiligen Agnes, eine Abiturientenklasse etwa anno 1919. Die reizenden alten Damen und Herren wollen doch wohl nicht...?

Im Club-Dorf angekommen, im Foyer immer­hin einige Gleichaltrige gesichtet. Aber auch weitere betuliche Alte. Jeman verbirgt seine Enttäuschung nur mühsam.

Zweiter Tag. Noch vor dem Frühstück von Jeman abgefangen worden. Ob ich auch nicht...? Nein, ich auch nicht. Aber Florence.

Auch Florence, aus Frankreich an­gereist, musste das nicht. In ihrem 2-Mann-Bungalow fand sie bereits einen jungen Mann vor.

Soweit der Stern über eine gewisse Florence. Heißt man Alice, regelt der Club die Betten­zuweisung anscheinend orthodoxer. Ich fand in meinem Bungalow weder einen jungen noch einen alten Mann vor, dafür eine Mittdreißigerin namens Andrée aus Brüssel (noch nicht einmal lesbisch). Und Jeman teilt sein Zimmer mit Yves, einem Rechtsanwalt aus Lille. Mirakel. Sehen wir so teutonisch-bieder aus? Oder hat uns eine Neue eingewiesen? Eine, die mit der Clubmoral noch nicht so vertraut ist? Wir beschließen, uns mit der zweiten Erklärung zu trösten.

Unseren ersten Aktionsplan beim sehr aus­giebigen Frühstück aufgestellt. Alle Mahlzeiten im Club sind, genau wie sämtliche sportlichen Aktivitäten und Lektionen, im Preis inbegriffen (eine Person zahlt für 14 Tage 1540 DM ab Frankfurt). Jeman ist entschlossen, gleich heute Segeln zu lernen. Und Surfing. Und am Nachmittag vielleicht Judo. Ich kapituliere. Zwischen elf und zwölf werde ich beim Joga mitmeditieren. Scheint mir die am wenigsten ermüdenden Recherche.

Vierter Tag. Wie live müssen Live-Reportagen sein? Muss ich für Pardon auch lieben? Jeman meint, solche Fragen wären nur von Fall zu Fall zu entscheiden.

Mein Fall heißt Dao und ist unser vietnamesi­scher Vorturner. Dreinschauend wie Hansel ohne Gretel im Walde, weckt er bei seinen entschlossen den Bauch einziehenden Schülerinnen nicht nur mütterliche Gefühle. Nach den ersten langen sechzig Minuten auf der Gymnastikmatte am Morgen treffe ich Dao am Abend im Nachtclub wieder. Ein, zwei, drei Tänzchen, und Dao nimmt mich zart bei der Hand, verzögert noch feinfühlig durch einen Drink unter freiem Himmel und schlendert dann melodisch plaudernd auf seinen Bungalow zu.

Fünfter Tag. Gentil organisateur Dao mag noch nicht einmal mehr Tischtennis mit mir spielen. Er mag nur noch schmollen. Weil, wie er auf meine naive Anfrage entrüstet antwortet, ich „ihm das angetan habe". Weil ich, on s'imagine!, nicht mit ihm ins Bett gegangen bin. Das scheint gegen die regles du jeu zu verstoßen. Freundliches Mitglied sein, verpflichtet. Dejeuner. Am kalten Büffet — ich kalkuliere gerade, ob ich auf meinen Vorspeisenteller neben die Krebse, den geräucherten Hecht und die Oliven noch Gänseleber packen kann — reißt mich ein englisch-französisches „allou!" aus meinen lukullischen Träumen. Peter, der Segellehrer aus London. In seinem Schlepptau, wie schon gestern Abend, die ihn ohne Unterlass befummelnde Jeanne aus Paris. Die zärtliche Jeanne ist zu verstehen, Peter sieht so ver­wirrend unfranzösisch aus: groß, blond und englisch-spröde. Peter war mir schon in Frankfurt ein Begriff, ihn hatte der Stern ganz besonders bedacht:

Das Bemühen, Lust zu bereiten, macht auch vor denen nicht halt, deren Lustbedürfnis in der Bundes­republik zum Beispiel noch im­mer unter Strafandrohung steht. Peter, Jean-Yves, Eric und Francois heißen die vier Segel­lehrer (aller Sport umsonst) in den hautengen Hosen.

Punkt. „Drei Wochen war der Max Scheler vom Stern hier im Club, ich selbst habe im­mer für ihn gedolmetscht. Ständig hat er fotografiert und alle Leute befragt", sagt Peter in klagendem Ton. Beim Steak ist er immer noch beim Thema Scheler, froh, wenigstens einer Stern-Leserin seine Version mitteilen zu können. Und erst beim Käse kann sich Peter zu dem abschließenden Seufzer durchringen: „Der weiß doch ganz genau, dass wir alle vier stocknormal sind. Ich kann das nicht verstehen." — Ich auch nicht. Zwar gibt ein zärtliches Mädchen am Arm letztlich keinen Aufschluss über die Lustbedürfnisses eines Segellehrers, ebenso wenig aber tun das hautenge Hosen. Wonach es sie aber auch immer gelüstet, eines ist sicher: Peter und seine Kollegen geben zwar Lektionen im Segeln, nicht aber Lektionen in Lust. Die ist Privatsache und durchaus nicht im Gehalt inbegriffen. Sie werden als Segellehrer bezahlt, nicht als Lustknaben.

Am Bassin auf Familie T. aus Wunsiedel gestoßen. Mit Ts sind wir ein knappes Dutzend Deutsche in Agadir. Was bei mangelnden Französischkenntnissen das Variieren von Gesprächen und Gesprächspartnern ein wenig kom­pliziert. Ts machen in Textilien, haben daheim einen Swimmingpool vor dem Haus und Afrika-Routine. Letztes Jahr in Johannesburg, erfahre ich, war es noch viel heißer. Ts haben ihren Stammplatz am Bassin. Ts gefällt es im Club. Nur Töchterchen Cornelia mopst sich ein wenig. Mangels Flirt, was allerdings weniger an Cornelia als am beschränkten Kreis Infragekommender liegt.

Frau T. ist Stern-Leserin und weiß, was gespielt wird. Sie fragt neckisch: „Sind Sie we­gen der freien Liebe in den Club gekommen, Alice?" Meine Gegenfrage, ob sie schon freie Liebe im Club entdeckt habe, irritiert Frau T. nur wenig. Nein, nein, das nicht. Aber wo es doch in der Zeitung stünde. Ein Körnchen Wahrheit wäre da sicherlich...

Halbzeit. Gestern wieder drei Partien Dame gegen Jeman verloren. Bei anschließendem Ar­beitsgespräch übereingekommen, dass das nicht alles sein kann. Wird im „Club der glücklichen Wilden" wirklich mehr Bridge gespielt als Liebe gemacht? Oder — verkehren wir in den falschen Kreisen?

Sollte ich mit Madame S. aus Paris, die ein Faible für mich hat, weil ich ihrer Lieblings­nichte so gleiche, und mit Monsieur S., der seit neun Jahren Beamter in Pension ist, weni­ger Petanque spielen? Sollte ich Advokat M. aus Brest sans gêne klarmachen, dass er mir das Schachspiel selbst nach der hundertsten Partie nicht nähergebracht haben wird? Auch wenn er vorgestern zum 60. Geburtstag, seinem 60. Geburtstag, eine ganze Flasche Champagner beim Diner ausgegeben hat? Ich sollte! Es ist beschlossene Sache. Ab sofort wird alles anders. Gleich nach dem Frühstück lasse ich die Gymnastik ausfallen, mache um den Petanque-Platz einen großen Bogen und widerstehe auch der Versuchung, mich den GMs am Bassin zu zei­gen, die spätestens um 11 Uhr ihre Plätze an der Sonne eingenommen haben werden.

Ich erkunde das Gelände. 350 Meter lang, 200 Meter breit, an der Ostseite Ausgang und Tennisplätze, im Westen der Sandstrand, dazwi­schen Bungalows und Eukalyptusbäume. Drumherum ein hoher Zaun. Was dahinter ist, interessiert uns GMs nicht sonderlich. Wir sind Insulaner. Das einzig marokkanische am Club ist ein Teil des Personals. Der Teil, der sich die Hände schmutzig macht. Die Männer, die die Bungalows putzen zum Beispiel, und das Kü­chenpersonal. Ansonsten geht's sehr französisch zu. Vor allem bei den Mahlzeiten.

Unser Tagesrhythmus richtet sich weder nach Sonnenauf- noch -untergängen, auch nicht nach der Uhr, sondern nach dem petit dejeuner, dem dejeuner und dem Diner. Dreimal am Tag schlemme ich hemmungslos, jedesmal fürchtend, bei der nächsten Runde aussetzen zu müssen. Hinzu kommt, dass ich, die ewig Suchende in Sachen freie Liebe, grundsätzlich alleine ins Restaurant gehe, meist mit Franzo­sen am runden Tisch sitze und von ihnen unweigerlich in eine längere Diskussion über — das Essen verwickelt werde. Ein Thema, das unsere Nachbarn auch mit vollen Magen noch zu leidenschaftlichen Ausbrüchen verleiten kann. Zehn Uhr. Das allabendliche Kabarett beginnt. Die beliebtesten und witzigsten 30 Minuten eines Club-Tages.

Dann, Punkt 22 Uhr 30, senkt sich der Vor­hang, davor bauen die „Blauen Teufel" flink ihre Beatinstrumente auf — und die müden gentils membres bauen ebenso flink ab. Zurück bleiben, ein wenig verloren in dem großen Saal, drei, vier Dutzend Unverdrossene, jeder zweite davon ein GO, ein Club-Angestellter. Denn GOs, das sind die besten Tänzer, GOs, das sind die Sportlichsten, die Begehrtesten im Club. GOs, das sind die Stars mit dem Ein­-Mann-Bungalow. Nur sie, die Angestellten, können es, im Gegensatz zu den Gästen, bei Tag und bei Nacht toll und noch toller trei­ben. Kein Zimmergenosse, der sie zum Liebesplaning nötigte.

Also doch freie Liebe in Agadir? „In Maßen", meint Marie-Claire, eine der drei charmanten Hostessen. Bei einem Whisky erklärt sie mir, warum: Ein Viertel der insgesamt 78 gentils organisateurs sind miteinander verheiratet oder befreundet. Einige der Ehepaare haben Kinder. Die verbleibenden GOs beschränken ihre berufsmäßige Gentilesse auf die Arbeits­zeit und bleiben unter sich. „Tu comprens", zwinkert Marie-Claire „mit den Alten hier in Agadir..."

Marie-Claire war vor dem Club Stewardess bei der Air-France. Ihre Kollegen kommen aus den unterschiedlichsten Berufen. Jogalehrer Jean-Marie par exemple, war Laborant bevor er über ein Buch zum Joga und damit zum Club fand.

Was aber ist entscheidend? Was muss man können, um GO zu werden? Der Stern weiß es ganz genau:
Sie alle sind aus­gewählt nach ihren Fähigkeiten, jede Lust zu bereiten.

Dazu Jean-Marie, der Jogalehrer aus dem Elsass: „Warte, ich will es Dir ganz genau sägen: seit Anfang Dezember habe ich mit sechs Frauen Kontakt gehabt. Weil sie mir gefielen. Natürlich je Frau nur einmal — sonst wird die Geschichte zu kompliziert." Das Du ist, zumindest für die GOs, Bestand­teil der Club-Philosophie. Im Prospekt liest sich das so: „Das Feriendorf ist keine Szene in Technicolor. Es ist dazu bestimmt, gelebt zu werden, als Möglichkeit, menschliche Kontakte unter dem Zeichen natürlicher Gleichheit zu mehren, als Erfahrung einer anderen Gesellschaft."

Zurück zur Natur, seinen Rousseau immer unterm Arm. Der Möglichkeit menschlicher Kontakte gedenke ich mich an diesem Abend nicht vorzeitig zu berauben. Um elf Uhr spielt die Band wie gewohnt ihr dernière chanson, ich lasse mich nicht entmutigen, will heute das Nachtleben au fond studieren und ziehe mit einem Trupp Unermüdlicher in den einige Me­ter tiefer liegenden Nachtclub. Flankiert von einem langen Amerikaner mit deutschem Blick und einem kurzen Franzosen mit englischer Schnäuz. Beide umkreisen mich seit Tagen, beide lassen sich, nach kühnen Vorstößen wie Konversationen über Wetter und Wassertem­peraturen durch sporadisches Auftauchen von Jeman immer wieder aus der Bahn werfen. Ein enervierendes Spielchen. Da waren meine Verehrer auf Wangeroog kühner. Zugestanden, der Flirt mit scheinbar bereits vergebenen Frauen ist auf unserer gutumzäunten Clubinsel auch weitaus problematischer als auf der Nordseeinsel. Wer mag schon bereits beim Frühstück dem Ehemann seiner Bluestänzerin vom ver­gangenen Abend gegenübersitzen? Ein Uhr. Im Nightclub ist die Nacht zu Ende. Auf dem Weg zu meinem Bungalow wundere ich mich nachträglich über meine Phantasie. Was, zum Teufel, hab’ ich mir nur gedacht, als ich im Stern las:

Zwischen 500 und 1800 Gäste, die in Strohhütten, Bungalows oder auch, wie in Agadir, an der afrikanischen Atlantikküste, in gekalkten Doppelzimmern von 14 qm untergebracht sind. Und in allen geschieht das gleiche.

Ja, was nur?

Achter Tag. Heute mit Dorf-Chef Alan, einem Bilderbuchfranzosen vom Montmartre, unter vier Augen gesprochen. „Oh, non. Wie kommst du nur darauf?", stöhnt er gequält. „In keinem unserer 32 Club-Dörfer ist jemals eine Frau mit einem Mann zusammen in ein und demselben Bungalow einquartiert worden. Nie! Außer, sie hätte es ausdrücklich ge­wünscht. Auch ihre famose Florence nicht. Ganz sicher!"

Und wie ist das mit Rudy?

Rudy, dunkelhäutig und an einer freundlichen Südseeküste an das Licht der Welt gekommen, animiert, was animiert werden muß.

„Aber ja doch, da hat ihr Stern schon recht", sagt Alan. „Rudy ist Animateur, verstehst du? Das heißt, er ist bei uns der zuständige Mann für Animation, er schreibt die Kabarett-Texte und spielt mit auf der Bühne. C'est tout. Das ist alles."

Animiert, was animiert werden muss — schon sehr fein gesagt. Chapeau, Kollege. Weiter im Stern-Text:

Florence aus Frankreich hatte sich bald von dem ihr zugeteilten jungen Mann getrennt. Seither klopften nachts bis zu drei verschiedene Bewerber an ihr Bun­galow-Fenster.

Scheint schon ein aufregendes Mädchen gewe­sen zu sein, diese Florence. Nur, wie hat sie das angestellt? Ich stelle mir vor: Mitternacht. Ich liege im Bett. Da, plötzlich klopft es an mein Fenster. An unser Fenster. Denn fünfzig Zentimeter weiter liegt Andrée und schläft. Andrée ist 33 Jahre alt, Ärztin, und nach Aga­dir gekommen, um auszuspannen. Aus-zu-span-nen, verstehst du? Andree kann sehr ener­gisch werden, wenn man sie weckt. Egal, gesetzt den Fall, es klopft dennoch? Das kann nur ein Dummkopf sein, denn der weiß ja ganz genau, dass ich hier mit Andrée... Neugierig würde ich trotzdem sein, auf Zehenspitzen zur Türe gehen, öffnen und — ganz schnell wieder schließen. Denn draußen weht ein fies kühles Windchen. Afrikanische Nächte, davon bin ich überzeugt, bringen auch die intensivste Glut zum Erlöschen.

Also: Es klopft gar nicht erst.

Weitere Variationen zum Thema Liebe in Agadir. Yves, Schlafkumpel von Jeman, fragte Jeman gestern mittag zögernd: „Hast Du heute nachmittag, sagen wir so zwischen vier und sechs im Zimmer zu tun? Nein? Bestimmt nicht? Merci!" — Gestern war Yves' letzter Tag. Jeman hat „Sie" aus dem Bungalow schlei­chen sehen und macht seitdem böse Sprüche wie: „Kurzschlußhandlung" und: „Meint wohl, er müßte auch unbedingt mal..."

PS: Meine neuesten, pingeligst errechneten Zah­len: Laut täglich öffentlich aushängenden Ab­fahrtslisten sind gut zwei Drittel der 600 Gäste verheiratet. Miteinander. Rechne ich noch etwa zwanzig Prozent unverheiratete Paare dazu, bleiben etwa 80 freie GM für die freie Liebe. Das heißt, wenn sie nicht gerade Tennis oder Bridge oder Petanque spielen. Jeman zeigt sich beeindruckt von meinem Klimmzug am Rechen-Reck, meint aber stör­risch, Zahlen bewiesen noch gar nichts. Sündig könnte es trotz meiner 86,66 Prozent Paare zugehen. Ob ich noch nie etwas von Partner­tausch gehört hätte?

Neunter Tag. Endlich. Heute das Laster frei Bungalow geliefert bekommen. Yvonne aus Paris, eine nicht unflotte Endvierzigerin. Sie liebt nur Knaben und gesteht kokett: „Die Jungen von heute sind meine fünfte Genera­tion." Und: „Wie schön, daß unser Bungalow zwei Türen hat, da können die Männer vorne rein und hinten raus, n'est-ce pas?" Ihr Par­füm: Je reviens. Ich empfehle Yvonne Giorgio. Stern:
Für die, die allein kommen, ist zum Beispiel  Giorgio  da.
Giorgio schläft nie. allein, sagt er allen, die es hören wollen.
„Merci", flötet Yvonne und entschwindet.

Zehnter Tag. Yvonne ist mir gram. Giorgio existiert nicht und hat nie existiert, wie ihr der Dorf-Chef händeringend klarmachte. Geniert mich ein wenig. Hätte ich mir aber auch denken können. Ich gehe noch früher als gewöhn­lich zum Diner. Im Restaurant ertappe ich Jeman beim fünften Gang. Wie war das noch? Schon am zweiten Tag hatte er, einen mit Vor­speisen völlig überladenen Teller balancierend, verkündet: „Ich esse ja ganz gerne mal gut. Aber so auf die Dauer ... Sie werden sehen, spätestens in drei Tagen, Bescheide ich mich auf zwei Oliven und ein Stückchen Brot."

Elfter Tag. Sensation. Sensation. Unter den neu Angekommenen drei Transvestiten ent­deckt. Sie tragen Stiefel bis zum Oberschenkel und irre Miniröcke. „Die aufregendsten Frauen im ganzen Dorf", konstatiert Jeman beifällig und verdreht sich den Hals. Madame S. aus Brest weiß von Parisern im Nachbar-Bunga­low: „Die Transvestiten treten in einem be­kannten Pariser Kabarett auf."

Folgt eine lebhafte Diskussion über die Le­bens- und Liebesgewohnheiten der Transvesti­ten im allgemeinen und unserer drei im beson­deren. Ob so ein Geschöpf — der oder die oder was denn nun — wohl Homosexuelle liebe, fragt sich Monsieur S., Arzt mit gut­gehender Praxis. Nein, gerade nicht, be­lehrt Monsieur R., Beamter in Paris und pas­sionierter Bridge-Spieler. Denn gerade die fühlten sich hundertprozentig als Frauen und liebten nur richtige Männer. Mein Einwand, ich hätte die Halb-Damen beim barbusigen Sonnenbad mit einem dorfbekannten Homosexuellen gesehen, läßt Madame S. wonniglich erschaudern.

Ach, das Herz könnt' es einem schier zerreißen. Warum nur durfte der Stern-Kollege das nicht mehr erleben?

Beim Beat sind wir diesmal — ich zähle — sieben Frauen ohne Begleitung. Sechs davon, ich inbegriffen, gucken verschämt mal auf ihre Schuhspitzen, mal auf die Band. Tanz im Club der freien Liebe oder Schwof in Köln-Nippes? Nur eine, die quicke Blonde, wirft einladende Blicke. Aber die gibt's ja auch in Köln-Nippes.

Er könne, er­klärte ein Clubgast, jetzt nur noch ‚die Mann’ und ‚der Frau’ sagen. Was ihn dazu bewog: Nahezu alle erotische Initiative ging und geht von den Frauen aus. Die Frauen haben die Rolle

Schade, das hätte ich dem Stern so gerne geglaubt.

Zwölfter Tag. Auf einer Exkursion die ersten echten Marokkaner in freier Wildbahn gese­hen. Und die Wüste auch. Mir en face im Land-Rover ein veritabler Ex-Minister mit Frau: François Missoffe, von 1966 bis 1968 unter de Gaulle zuständig für Jugend und Sport. Im Club tout simplement François und Helène.

Beim Couscous-Essen in der Oase erklärt mir ein gentil membre, warum die Franzosen die Deutschen Shleih (sprich: Schlöh) nennen. Weil die Shleih, ein marokkanisches Reitervolk, sich im ersten Weltkrieg auf französischer Seite durch besonders große Brutalität hervorgetan haben. Darum.

Dreizehnter Tag. Heute einem leibhaftigen Star begegnet. Udo Jürgens. Im Club. Warum? Weil von ihm in den marokkanischen Bergen eine Woche lang viele dufte Fotos mit vielen duften Berbern geschossen worden sind. Für Bravo. In wenigen Stunden fliegt seine Caravelle nach Paris. Zeit genug für mich, mit Udo Hasch-mich in den Atlantikwellen zu spielen. Haschen kann er, der Udo. Scheint er oft geübt zu haben. Zeit genug für Jeman, die Fotos seines Lebens zu schießen. Jürgens-Fans werden es ihm zu danken wissen.

Vierzehnter und letzter Tag. Gleich nach dem Frühstück mit Jeman im Foyer verabredet. Wir gehen ein letztes Mal den Stern-Artikel durch. Punkt für Punkt. Zeile für Zeile. Es macht fast keinen Spaß mehr. Der Stern schummelt mit ermüdender Konsequenz. Sogar beim zeilenfüllenden Detail informiert er falsch. Das fängt mit der Erläuterung der Ab­kürzung GO (gentil organisateur, freundlicher Organisator) an. Ein GO, belehrt der Stern, ist ein „gentil Operateur", das sei, laut Stern, ein „liebenswürdiger Helfer", laut Larousse-Wörterbuch bestenfalls ein Filmvorführer, Wundarzt oder Funker.

„Und erst der Whisky-Preis", erinnert Jeman verbittert. Recht hat er. 2,40 DM schrieb der Stern, 5,40 kostet ein Glas Whisky an der Club-Bar tatsächlich. Und bei wem nur hat Max Scheler die vielen Tränen am Flughafen fließen sehen? Bei Florence? „Als ihr deutscher Kollege da war", erinnert sich Gerard an der Bar, „hatten wir das gleiche Publikum wie jetzt. Nur waren die Gäste ein wenig älter..." Noch älter? Wahrlich, Nannens Mannen vom Ressort Reise sind nicht zu beneiden. Den kompletten Club Méditerranée am Schreibtisch neu erschaffen — und vielleicht nicht nur den — nein, ein Plaisir ist das sicher nicht. Jeman und ich, wir wundern uns. Warum nur wird dem Leser im Stern über drei Seiten hinweg etwas vor­phantasiert, wo doch die Wahrheit so offen­sichtlich und so simpel ist?

Die letzten Stunden. Uns fehlt noch das Strandkamel. Ein nicht zu entbehrendes Mo­tiv. Denn:

Auch über das, was die Ge­schlechter zueinanderbringt, sind die Erfahrungen gleich: Ausflüge, Kamelritte,

Soweit der Stern und die Kamele. Wir haben es eilig. Am Strand angekommen, stellen wir mißlaunig fest: das Kamel steht bereits Modell. Für Profis anscheinend. Für zwei Männer, von denen einer mit vielen teu­ren Fotoapparaten behängt ist. Deutsch spre­chen Sie auch noch.

„Los, los, die Kamele vor die Boote. Ja. Und davor so'n alter Muselmane. Sehr schön!"

Wir staunen. Richtig rasende Reporter. So wie Leserin Lieschen sich das vorstellt. Der Ältere, Typ überreifer Playboy, braungebrannt, grau­meliert, wief, sieht sofort, daß wir Landsleute sind, und haut uns lässig an: „Hallo, sind Sie Deutsche? Guten Tag. Mein Name ist Rolf Lasa. Ich mache mit meinem Kollegen eine Marokko-Reportage."

Wir staunen. Rolf Lasa? Doch nicht etwa der Lasa, der das Buch „Die sieben Weltwunder der Liebe" und die Illustrierten-Serien über Liebe im Urlaub geschrieben hat? Er nickt. „Doch, doch. Stimmt. Das bin ich. Ich bin sozusagen der Erfinder der Liebe im Urlaub." Genußvolles Päuschen. „1962 war das. Bei der ,Neuen'. Die wollte zum x-ten Mal was über Papagalli machen. ,Was heißt'n hier Papagalli', hab' ich dem Struwe damals gesagt. Das ist doch uralt. Papagalli gibt es in Deutschland schon ewig. Nur heißen die hier Kurschatten oder Saisongockel. Da sollte man mal was drüber schreiben! — Tja, so fing das an. Ruhpolding war die erste Station und dann — alle Strande dieser Erde hab' ich nach Liebe abgeklappert. Bis ich's leid war. Vielmehr, bis meine Frau es leid war. Jetzt mach' ich nur noch Reise."

Wir staunen noch mehr. Wirklich, der große Liebe-Lasa. Da sollten wir kleinen Debütanten die Gelegenheit wahrnehmen und ein wenig profitieren vom reichen Erfahrungsschatz des Kollegen.

Eifrig traben wir hinter ihm her zum kalten Büffet. „Halt, wart mal, bis die Alte mit dem Dutt weg ist. Mein Gott, müssen denn diese Alten hier ausgerechnet jetzt alle Fisch essen?" Und zu mir: „Könnse mir nicht ein paar hüb­sche Mädchen besorgen? Fürs Foto? Die Französinnen sind doch immer so hochnäsig."

Gar nicht so einfach im Club, aber ich kann. Aber wozu er denn hübsche Mädchen...? „Na, Sie haben vielleicht 'ne Ahnung. Mit den Mum­melgreisen hier kann ich doch keinen Blumen­pott gewinnen. Die verderben mir das ganze Bild."

Wir haben uns an unsere Club-Copains ge­wöhnt und finden sie nicht unfotogen. Lasa seufzt ungeduldig. „Hören Sie mal. Die nimmt mir doch niemand ab. So wie die zittrigen Tanz-Berber von gestern abend. Die waren ja auch mehr als schwach. Da müßte so 'ne Fatima her. So 'ne richtig runde Fatima mit Bauchtanz und so. Und flotte Miezen müssen aufs Bild." Wer ihm denn die Fotos abnehmen müsse? „Mein Chefredakteur natürlich. Wenn ich dem mit so was komme, dann macht die nächste Reportage ein Kollege. Und ich kann sehen, wie ich die Butter aufs Brot verdiene." Das sehen wir ein.

Lasa fährt fort mit der Aufklärung über Journalisten. „Für Sie ist das hier natürlich was anderes. Sie machen Ferien. Aber ich arbeite. Verstehen Sie? Ich sehe das alles in einem ganz anderen Licht. Ich sehe nicht die Leutchen hier, ich sehe die Geschichten, die in ihnen stecken. Und die muss ich rausholen. Das ist das Schwierige." Wir beginnen zu begreifen. Aber die Miezen? Wozu die Miezen, die hier doch nun wirklich nicht gerade typisch sind? „Weil das Zeug gelesen werden muss. Und ohne schicke Mädchen guckt da doch keiner hin. Nee, nee, Miezen müssen rein. Schließlich muss ich meinen Lesern Marokko verkaufen.“ Ach so.

Pardon Mai 1969

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