Alice Schwarzer in anderen Medien

Sind Attentäter psychisch krank?

Der 24 Jahre alte Somalier erstach am Freitag in Würzburg drei Frauen, verletzte weitere..
Artikel teilen

„War der Messerangriff in Würzburg ein islamistischer Anschlag? Oder ist die Persönlichkeit des Mannes gestört?“ fragen die Medien - nicht zum ersten Mal nach einer solchen Tat. Auch Mohammad R., der im Oktober 2018 am Kölner Hauptbahnhof einen Brandanschlag mit Benzin verübte, war „psychisch krank“. Und auch der Islamist Ahnmad A., der im August 2017 in einem Hamburger Supermarkt einen Menschen erstach, soll „psychische Probleme“ gehabt haben. Alice Schwarzer plädierte schon damals dafür, die Täter nicht als „Verrückte“ abzustempeln – sondern sie und ihre Motive ernst zu nehmen.   

Ein junger Mann in Brandenburg mit Springerstiefeln und den Insignien der Rechtsradikalen zündet ein Flüchtlingsheim an. Oder er ersticht einen Schwarzen. Oder er ballert in eine Schlange vor dem Sozialamt wartender Geflüchteter. Der junge Mann war schon vorher den Behörden als Rechtsradikaler bekannt. Würde ein Journalist der FAZ in so einem Fall schreiben: „Es muss nun geklärt werden, welche Rolle seine Gesinnung als Motiv gespielt hat und welche womöglich seine Persönlichkeit“?  Und: „War es ein rechtsradikaler Terrorakt? Oder war es die Tat eines Verrückten?“ Nein, gewiss würde der Journalist das nicht schreiben. Und wenn er es täte, würde er sich blitzschnell den Ruf einhandeln, unangemessen einfühlsam und nachsichtig mit Rechtsradikalen oder gar ein Rassist zu sein.

Hat man noch nicht begriffen, dass der Islamismus eine Ideologie ist?

Wenn jedoch - wie im Sommer 2017 in Hamburg-Barmbeck - der Palästinenser Ahmad A., der den Behörden als „Islamist“ – also als Anhänger eines Gottesstaates – bekannt war, in einem Supermarkt mit einem Messer auf die Menschen zurennt, „Allahu akbar“ ruft, einen Menschen ersticht und versucht, weitere Menschen zu töten – dann ist für einen FAZ-Journalisten, und nicht nur für den, das Motiv noch lange nicht klar. Könnte es die „Religion“ sein (statt Gesinnung)? Oder könnte es „auch in der Persönlichkeit des Täters liegen“? Ja, wo denn sonst?!

Ahmad A. attackierte 2017 in Hamburg-Barmbeck menschen mit einem Messer.
Ahmad A. attackierte 2017 in Hamburg-Barmbeck menschen mit einem Messer.

Oder auch, fast komisch, der Kommentar eines anderen Journalisten in der FAZ – oder wo auch immer – zu einem anderen Fall, apropos des Anschlages in dem Club in Konstanz. Da heißt es doch allen Ernstes: „War das ein islamistischer Terror-Anschlag? In dieser Hinsicht kann die Polizei schon am Morgen Entwarnung geben. Der Täter stammte zwar aus dem Irak, (aber) er ist wahrscheinlich ein seit vielen Jahren anerkannter Asylbewerber.“ Glaubt der Autor etwa, nur Flüchtlinge würden islamistische Terrorakte verüben? Hat er alles, was der Westen seit 9/11 erlebt hat, vergessen?

Und hat man in Deutschland denn immer noch nicht begriffen, dass der Islamismus kein Staat und keine Organisation ist, sondern eine Ideologie, ein Geisteszustand? Die Islamisten, die zur Tat schreiten, haben immer auch persönliche Motive, aber sehr unterschiedliche Hintergründe. Nur eines eint sie alle: Sie nehmen ihre selbstgerechte Überheblichkeit gegenüber allen "Nicht-Gläubigen“ und vor allem gegen „den Westen“ zum Anlass bzw. Vorwand, zur Tat zur schreiten.

Der Islamismus, diese rechtsradikale Ideologie im Namen einer missbrauchten Religion, ist seit Khomeinis Startschuss 1979 im Iran in der Offensive und weltweit präsent. Seine Vertreter sind mal Strategen, die aus privilegierten Verhältnissen kommen und in London oder Paris studiert haben, und für die der Islamismus ein Weg zur Macht ist. Mal sind es Intellektuelle, die in Kairo studiert haben und für die der Islamismus Einkommensquelle und Deutungshoheit ist. Mal sind es arbeitslose Soldaten oder Söldner, für die der Islamismus ein Job ist.

Die Islamisten kommen
mal von oben und mal von unten

Oft aber sind es auch einfach entwurzelte junge Männer, in der Gruppe oder isoliert, die aus armen bzw. bürgerkriegsgeschüttelten Ländern kommen, und für die der Islamismus Rache und Erfüllung ist. Die Islamisten kommen also mal von oben und mal von unten. Letzteres ist dann das, was der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel den „Djihadismus von unten“ nennt.

Doch von wo immer er auch kommt, der Islamismus, er ist in der Welt. Und jeder kann ihn sich zu eigen machen. Die Täter sind mal ferngesteuert aus den Zentralen der Gottesstaatler, mal sind sie verhetzt durch die Moschee nebenan, mal haben sie sich ihre Munition einfach im Internet geholt.

Der Islamist, der von oben kommt, weiß, was er will. Der Islamist, der von unten kommt, hat oft nichts mehr zu verlieren. Sein Lebenslauf, auch der des Konvertiten, hat immer einen Knick oder gar Bruch. Es gibt, schaut man genau hin, immer einen traumatischen Auslöser: der Verlust eines Menschen, erfahrenes Unrecht, die verlorene Heimat oder verlorene Hoffnung.

Kann so einer überhaupt „normal“ sein? Oder ist es immer „verrückt“, solche Massaker zu begehen?

Früher ging Ahmad A. „gerne feiern und trank auch Alkohol, nahm Rauschgift. Damit war es auf einmal vorbei“, schreibt die FAZ. „Ahmad A. veränderte seinen Lebenslauf grundsätzlich. Er wurde religiös.“

Kann einer "normal" sein, der solche Massaker begeht?

Ob man das „religiös“ nennen kann und soll, scheint mir sehr fraglich. Die vielen Muslime, mit denen ich in den vergangenen Wochen in Algerien geredet habe, beteuerten mir ausnahmslos, der islamistische Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun. Der wahre Islam sei friedlich.

Ahmad A., der ausreisewillige Palästinenser mit der kranken Mutter in seiner Heimat, hatte keine Chance, als Asylant anerkannt zu werden. Ab da hat er sich radikalisiert – und wandte irgendwann seine innere Zerstörung nach außen. Mach kaputt, was dich kaputt macht! Kein Spruch der Islamisten, sondern ein Spruch der 68er.

Wir sollten Ahmad A. und seine Motive und seine Verzweiflung ernst nehmen, statt ihn zu psychologisieren oder gar zu psychiatrisieren. Und wir sollten endlich begreifen, dass der Islamismus eine Ideologie und keine Religion ist: allgegenwärtig, auch mitten in Europa. Doch der islamistische Terror ist nur die Spitze des Eisberges. Darunter liegt die islamistische Agitation: im Internet, in den Moscheen, in den rückwärtsgewandten Verbänden (die neuerdings Kreide gefressen haben). Die gilt es zu bekämpfen, wenn wir nicht wollen, dass die Ahmads dieser Welt auch in Zukunft jederzeit und überall Zuflucht finden zu einem tödlichen Allahu-Akbar-Ruf.

Alice Schwarzer

Der Text erschien zuerst in der Welt.

Artikel teilen
Alice Schwarzer schreibt

Der gekränkte Mann

Foto: Patrick Lienin/photocase
Artikel teilen

In Deutschland wurden im Jahr 2015 rund 117.000 Frauen vergewaltigt; jede Fünfte vom eigenen (Ex)Ehemann bzw. (Ex)Freund. Etwa 643.000 Frauen wurden Opfer von Gewalt in Beziehungen (verschleiernd „häusliche Gewalt“ genannt). Und 320 wurden getötet; jede Zweite vom eigenen Ehemann bzw. Freund. Woher die Zahlen kommen? Ganz einfach: Es handelt sich um reale Fälle (bei den Toten) oder um erstattete Anzeigen mal zwölf. Denn, so erforschte das Bundes­frauenministerium in einer breit angelegten Studie: Nur jedes zwölfte Opfer von ­(sexueller) Gewalt erstattet Anzeige.

Und da reden wir weder von Flüchtlingen, noch von Migranten, noch vom Islamismus. Diese epidemische, strukturelle Männergewalt in unserer christlich geprägten Demokratie ist hausgemacht. Sie ist das dunkle Geheimnis im Herzen des Machtverhältnisses der Geschlechter. Allerdings ist diese private Gewalt gegen Frauen sanktioniert in den westlichen Demokratien; doch auch hier seit noch gar nicht so langer Zeit (Das Gesetz gegen Vergewaltigung in der Ehe zum Beispiel wurde erst 1997 eingeführt). Die Frau oder die Welt will nicht so, wie Er will. Also greift Er zur Gewalt. Der gekränkte Mann.

Hie immer mehr Staatschefinnen. Da immer mehr Frauen unter dem Schleier. Das zerreisst uns. 

Was aber ist der Unterschied dieser Gewalt zwischen den Geschlechtern zu dem, was wir an Silvester in Köln erlebt haben – und seither immer mal wieder auf öffent­lichen Veranstaltungen? Zuletzt im Juli bei einem Kulturfest in Bremen, wo 24 Anzeigen erstattet wurden wegen sexueller Übergriffe nach der Methode „Höllenkreis“ (Dabei umzingelt eine Gruppe von in der Regel jungen Männern eine Frau und ­begrabscht sie bis hin zur Vergewaltigung).

Was ist der Unterschied zwischen unserer alltäglichen Gewalt und den öffentlichen Gewaltorgien im Namen Allahs zum Beispiel in Ochsenfurt, wo der Täter seinem letzten Opfer die Axt ins Gesicht hieb und die Worte gerufen haben soll: „Ich mach dich fertig, du Schlampe!“?

Der Unterschied ist die weitgehende ­Legitimierung von Gewalt in den patriarchalen Herkunftsländern der Täter, sie kennen keine Frauenbewegung und keine Gleichberechtigung. In ihren Ländern sind Frauen rechtlos und ist Gewalt ein Herrenrecht. Verschärfend hinzu kommt die Befeuerung dieser traditionellen Frauenverachtung durch die islamistische Propaganda, sie gießt Öl ins Feuer. 

Die heimliche private Gewalt gilt nur dem einen Individuum – die demonstra­tive öffentliche Gewalt soll uns alle in Angst und Schrecken versetzen. Das gilt für islamistisch motivierte Attentäter ebenso wie für Amokläufer. In beiden Fällen ist der Täter der narzisstisch gestörte, der ­gekränkte Mann. 

Aber private und politische Gewalt können sich auch mischen. Wie im Fall des homosexuellen Omar Mateen. Dieser Sohn eines homophoben afghanischen Taliban-Anhängers ermordete im Juni in Orlando in der Schwulen-Disco, in der er selber verkehrte, 49 Menschen. Aus (Selbst)Hass. Im letzten Augenblick überhöhte er die Tat mit der Behauptung, er sei ein Soldat des IS (Wofür es bis heute kaum Belege gibt).

Oder wie im Fall des 21-jährigen Ahmed in Reutlingen. Der Syrer hatte zunächst seine Freundin erstochen, die ihn anscheinend verlassen wollte. Ein klassischer Fall „privater“ Beziehungsgewalt. Aber sodann war er mit dem Messer wild fuchtelnd und drohend durch die Straßen der schwäbischen Kleinstadt gerannt. 

Doch der Islam ist nicht der Grund für die Welle der öffentlichen Gewalt, auch wenn sie mit ihm begründet wird. Die islamistische Propaganda ist lediglich die Ideologie der Stunde, die diese Gewalt gegen Frauen und „Fremde“ rechtfertigt; implizit, also unterschwellig, oder aber explizit, also offensiv.

Implizit verstand es sich bei den jungen Männern aus Marokko oder Algerien an Silvester in Köln. Deren Länder sind in den vergangenen Jahren von einer gemäßigten Religiosität in einen maßlosen Islamismus gekippt. Diese verhetzten Männer kennen nur noch Heilige und Huren. Die Heilige ist zuhause eingesperrt und möglichst verschleiert – die Hure bewegt sich im öffentlichen Raum.

Warum ist die Tat von Ochsenfurt noch beunruhigender als die Massaker von Paris?

Explizit wurde die Gewalt in Ansbach wie Ochsenfurt gerechtfertigt. Diesen sich gedemütigt fühlenden Männern kommt Allah gerade recht. Der Islamismus bietet ihnen einen Kontext. Er ist, ganz wie der Faschismus, ein Hort von Männlichkeitswahn und Autoritätshörigkeit. Im Namen des „Vaters“ rotten sich die real wie vermeintlich gekränkten Söhne zusammen und schwören Rache.

Für seine Leader – vom Islamischen Staat bis hin zu den Ideologen im Westen – ist der Islamismus eine Machtstrategie; für ihr Fußvolk ist er das Gebräu, das sie trunken macht. Und hochmütig gegenüber Fremden und Frauen, diesen ersten „Fremden“ in der patriarchalen Hierarchie. Sicher, der Islamismus hat ganz wie der Faschismus komplexe Gründe, aber er ist ganz wie er auch eine Antwort auf die Erstarkung der Frauen. Hie immer mehr Staatschefinnen – da immer mehr Frauen unterm Schleier. Das muss unsere Welt ja zerreißen.

Die Tatsache, dass der Westen an der Entwurzelung der Menschen in Nahost und Nordafrika seinen satten Anteil hat, macht das Problem nicht geringer. In der Tat hat Amerika in den 1990er Jahren die Taliban in Afghanistan überhaupt erst ­aufgerüstet, für den Kampf gegen die Sowjetunion. Und der Westen hat die Kriege in Irak und Afghanistan angefangen und damit auch Syrien destabilisiert; um sodann, offensichtlich unfähig dazuzulernen, auch noch Libyen ins Chaos zu stürzen. Ohne Amerika kein Islamischer Staat, das räumen inzwischen sogar die Interventionisten selber ein. So gestand jüngst Obama, dass die Irakkriege „ein Fehler waren“. Sorry.

Doch als würde das alles nicht genügen, verschließen wir im Westen bis heute die Augen vor dem 1979 in Khomeinis Iran ­gestarteten, weltweiten Eroberungsfeldzug des politisierten Islam. Die Wirtschaft macht munter weiter Geschäfte mit Saudi-Arabien, Iran & Co., den Hauptfinanziers des Terrors. Und Politik wie Gesellschaft ignorieren oder verharmlosen seit Jahrzehnten die Offensive des politischen Islam mitten unter uns. 

Anstatt die aufgeklärten und fortschritt­lichen MuslimInnen zu unterstützen, führen wir verlogene „Dialoge“ mit rückwärtsgewandten, schriftgläubigen Muslimverbänden und deren Lobbyisten und Lobbyistinnen (die nicht selten KonvertitInnen sind). Mit dieser Strategie haben wir in den vergangenen 20 Jahren nicht zuletzt die Mehrheit der nicht-radikalen Muslime und ­Musliminnen im Stich gelassen. Die sind aus Angst vor den Radikalen verstummt – oder aber sie radikalisieren sich, wie wir bei der Pro-Erdoğan-Demonstration in Köln sehen konnten sowie in jüngsten Umfragen. Da erklären neuerdings sage und schreibe 50 Prozent der Türkischstämmigen in Deutschland, dass für sie die „islamischen Gebote“ über dem Gesetz stehen (das ergab eine aktuelle Emnid-Umfrage). 

Es ist also Zeit. Höchste Zeit, dass wir endlich unterscheiden lernen zwischen Islam und Islamismus, zwischen Glauben und Ideologie. Das eine ist eine Religion, bei der Selbstkritik und Reform nottut, aber das ist Sache der Muslime. Das andere ist eine totalitäre, faschistoide Ideologie, deren Kern die Frauen- und Fremdenverachtung sowie Autoritätshörigkeit ist. Und das fängt nicht erst beim offenen Terror an, sondern hat seine Wurzeln in der Schriftgläubigkeit und im Hochmut gegenüber den Frauen und „Ungläubigen“.

Die Probleme begannen ja nicht erst mit den Flüchtlingen, sondern schon in den 1990er Jahren. Stichwort: Kopftuch. Stichwort: Geschlechtertrennung in Schulen beim Schwimmunterricht. Stichwort: Halal und Ramadan. Doch die eine Million ­Menschen aus Kriegsgebieten, viele davon brutalisiert bzw. traumatisiert, haben das Problem dramatisch verschärft. 

Inzwischen wissen wir: Manche vor­gebliche Flüchtlinge wurden offensichtlich ­geschickt mit der Absicht, den Krieg nach Deutschland zu tragen. Es wird eine verschwindende Minderheit sein. Und es ist falsch, die Mehrheit dafür verantwortlich zu machen. Aber mit dieser Minderheit müssen wir uns beschäftigen. 

Als würde das alles nicht genügen, verschließen wir im Westen bis heute die Augen

Männer wie Riaz Khan Ahmadzai, dieser vielleicht beunruhigendste Terrorist von allen. Der angeblich 17-Jährige war vor einem Jahr nach Deutschland gekommen und zwei Wochen vor seiner Axtattacke zu einer Pflegefamilie gezogen. Im Haus dieser Familie, in seinem Zimmer, hat Riaz das Bekennervideo aufgenommen. Es wurde wenige Stunden nach seiner Tat von einem IS-nahen Sender verbreitet und rasch als ­authentisch identifiziert. Der Text, den der Täter mit einem Messer in der Hand deklamierte, weist den jungen Mann als islamistischen Vollprofi aus. Sein Bekenntnis ist von alttestamentarischer Wucht und strategisch auf den Punkt.

Riaz’ Videoappell benennt die neue Etappe der infamen IS-Strategie sehr klar: „Wie ihr seht, habe ich in eurem Land ­gelebt“, sagt er da. „Ich habe in euren Häusern meinen Plan gemacht und werde euch in euren Häusern und auf der Straße töten, sodass ihr Frankreich vergessen werdet. Ich werde euch mit meinem Messer töten und eure Köpfe mit meiner Axt spalten, so Gott will.“

Von dem Terroristen in Ochsenfurt hieß es zunächst, er sei zuvor „unauffällig“ gewesen, und habe sich anscheinend „turbo-­radikalisiert“. Auch bei dem Tunesier in Nizza war am Anfang von einer „raschen Radikalisierung“ die Rede. Innerhalb von zwei Wochen sollte der 31-jährige Mohamed Lahouaiej-Bouhlel vom Drogen, Alkohol und Frauen wie Männer konsumierenden Tunichtgut zum bärtigen Gotteskrieger mutiert sein. Inzwischen ist klar: Beide hatten die Anschläge seit mindestens einem Jahr vorbereitet; anscheinend bis zur letzten Sekunde vor den Taten eng geführt von Strategen des Islamischen Staates.

Doch warum ist die Tat von Ochsenfurt noch beunruhigender als die Massaker von Paris, Brüssel oder Nizza? Weil sie aus ­unserer Mitte kam, aus unseren eigenen Häusern kroch! Und weil der junge Afghane ein Jahr lang als so besonders freundlich, nett und integrierbar galt.

Das Doppelleben war ihm offenbar selber zunehmend schwergefallen. Auf Facebook (wo er unter anderer Identität tausende von Beiträgen gepostet hatte) schrieb er am 24. April 2016: „Offener Hass ist besser, als heuchlerische Beziehungen zu pflegen.“ Es sollte noch drei Monate dauern, bis er die Maske fallen ließ. Aber ­immerhin: Er ließ seine Gastfamilie leben – und erfüllte damit den im Bekenner­video (selbst)erteilten Auftrag nicht in ­seiner ganzen grausigen Konsequenz. 

Auch bei David S. in München lag, vier Tage nach dem Attentat von Ochsenfurt, zunächst der Verdacht auf einen islamistischen Hintergrund nahe. Doch nach wenigen Stunden war klar: Der Amokläufer war ein Einzeltäter und sein Vorbild war nicht der Islamische Staat, sondern waren so ­genannte Ego-Shooter wie „Counterstrike“; so wie Tim Kretschmer, der Amokläufer von Winnenden, und Anders Breivik in Oslo. Auch David S. hatte die Tat seit mindestens einem Jahr vorbereitet. Auch er war ein gekränkter Mann.

Bei fast allen Tätern, ob Gotteskrieger oder Amokläufer, lesen wir in den Medien gerne immer als erstes, die Täter seien „einsam“ gewesen und „depressiv“ (Das war 2015 auch bei dem Piloten Andreas Lubitz so, der 149 Menschen geplant mit in den Tod gerissen hat). Mag sein. Aber viele Menschen sind einsam. Und viele neigen zur Traurigkeit. Ein Zustand, der zweifellos verstärkt wird, wenn man aus einem (Bürger)Kriegsland kommt, seine Familie zurückgelassen hat und als Opfer oder/und Täter schon viel Traumatisches erlitten oder auch verbrochen hat.

Aber bedeutet eine solche Argumentation nicht, die wahren Gründe durch eine systematische Pathologisierung der Täter zu verschleiern? Wir sollten den Tätern nicht auch noch das letzte Stück Menschenwürde absprechen, das sie haben: die Freiheit der Verantwortung!

Es sind immer Männer. Es sind fast immer jüngere Männer, die nicht eingebunden sind in eine Familie. Es sind immer entwurzelte und gekränkte Männer. Erfahrene Psycho­logen diagnostizieren bei diesen Männern ­weniger eine Depression (die ja auch eher passiv macht), sondern eher eine „narzisstische Störung“. In den Augen der Umwelt sind sie klein, sie aber halten sich für groß. 

Eine solche narzisstische Kränkung in ­Aggression nach außen zu wenden, auch das ist typisch männlich. Narzisstisch gestörte Frauen wenden in der Regel ihre Aggressionen nach innen, gegen sich selbst.

Jetzt ist viel von Aufrüstung die Rede: der Polizei, der Sicherheitsmaßnahmen. Es ist richtig, dass Großveranstaltungen in diesen Zeiten besonders gesichert werden müssen. Aber das allein kann es nicht sein. 

Wir sollten den Tätern nicht die Verantwortung absprechen, ihr letztes Stück Menschenwürde

Auch die Prävention muss weit über das von Bundeskanzlerin Merkel geforderte „Frühwarnsystem“ hinausgehen. Sie darf nicht erst bei den ersten Anzeichen ansetzen, da ist es meist schon zu spät. Sie muss früher einsetzen. Und zwar sowohl bei den wütenden, herrschsüchtigen Männern aus den patriarchalen, ­islamischen (Bürger)Kriegsgebieten; wie auch bei der Minderheit der hier geborenen Söhne der Migranten, die sich radikalisieren. 

Was können wir tun? Der salafistischen Agitation in den Flüchtlingslagern und Parallel­gesellschaften muss strikt Einhalt ­geboten werden. Die Muslim-Verbände, die bisher mit ihrer rückwärtsgewandten, schriftgläubigen Propaganda eher den Islamisten in die Hände gespielt haben, müssen verpflichtet werden, aktiv zu Aufklärung und Integration beizutragen. 

Die „verlorenen Seelen“ (Kamel Daoud) schließlich müssen eine reale Chance zur Integration bekommen und verpflichtet werden, Rechtsstaat und Gleichberechtigung der Geschlechter zu respektieren. Gegen die unrettbar an die fanatischen Gotteskrieger „verlorenen Seelen“ allerdings muss in aller Entschiedenheit und mit allen Mitteln vorgegangen ­werden. Denn der gekränkte Mann kann gefährlich werden. Lebensgefährlich. 

Alice Schwarzer

Der Text erschien zuerst im "Spiegel".

Weiterlesen
 
Zur Startseite