Der Kardinal und die Feministin
Ja, ich mochte ihn. Diesen schroffen, wortgewaltigen Schlesier im rheinischen Köln, wo er so deplatziert war. Am meisten beeindruckt hat mich seine Menschlichkeit und sein fast kindlicher Glaube.
Zum ersten Mal war ich Kardinal Meisner im Flugzeug begegnet. Das war im Jahr 1988, und er war noch Bischof in Berlin. Beim Aussteigen in Köln sprach er mich an: "Ich habe Sie gestern im Fernsehen gesehen und war beeindruckt von Ihrem Mut und entsetzt über die Kälte Ihrer Gegnerin. Ich habe Sie darum in mein Gebet eingeschlossen." Ich antwortete: "Das ist sehr lieb. Ich kann es gebrauchen."
Ich kann es immer irgendwie gebrauchen. Damals ging es um meinen, um EMMAs Kampf gegen Pornografie. Ich hatte am Vorabend im Fernsehen mit einer als links ausgewiesenen Soziologie-Professorin ein Streitgespräch über Pornografie gehabt. Meine Gegnerin argumentierte vehement pro Porno, was in dem Satz gipfelte: "Ich finde Pornos geil."
Die zweite Begegnung war 1994 bei einem Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer Köln. Ich war eine von nur zwei Frauen in einem Meer von schwarzgewandeten Herren. Verleger Alfred Neven DuMont fragte mich, ob er mich dem Kardinal vorstellen solle. Ich sagte: Ich kenne ihn schon, aber dennoch immer wieder gerne.
Als Kardinal Meisner und ich aufeinandertrafen, scharrten sich umgehend ganz viele Männer um uns herum. Man erwartete offensichtlich einen Eklat. Wir aber lächelten uns nur wissend an - und sprachen sodann über schöne Kleider (Das Thema hatte er angefangen).
Die dritte Begegnung war im Bayenturm. Ich hatte Kardinal Meisner, wie alle Honoratioren der Stadt, zum Eröffnungsfest des FrauenMediaTurm im August 1994 eingeladen. Er war verhindert und kam ein Jahr später, in Begleitung von Kaplan Woelki (heute als Kardinal von Köln der Nachfolger von Meisner). Ich zeigte beiden den Turm, erklärte den Sinn und Zweck eines Frauenarchivs, wir stiegen bis hinter die Zinnen und warfen einen Blick zum Dom. Sodann setzten wir uns zu zweit in eine der Nischen zum Gespräch.
Es wurde ein sehr persönliches Gespräch. Ich fragte Joachim Meisner nach seiner Mutter, die ihn und die Geschwister in Schlesien allein aufgezogen hatte, und nach seinen Geschwistern, die sich mit ihrer Hände Arbeit ernähren. "Nehmen die Ihren Beruf überhaupt ernst?" sagte ich. "Bei so gepflegten Händen und so schönen Ringen." Da musste er laut lachen. Und dann stellte er mir Fragen nach meinem Leben. Das erlebe ich selten, dass zurückgefragt wird.
Die vierte Begegnung war virtuell. In Köln hatte ein katholisches Krankenhaus Anfang 2013 einer vergewaltigten Frau die "Pille danach" verweigert. Das schlug hohe Wellen. Und ich bezichtigte auf EMMAonline Kardinal Meisner, der diese Weigerung befürwortet hatte, der "Scheinheiligkeit".
Acht Tage später veröffentlichte der Kardinal eine Erklärung, die etliche in seinen Kreisen irritierte - aber viele Menschen, vor allem Katholikinnen, freute. Darin hieß es u.a.: "Die Ärzte in katholischen Einrichtungen sind aufgefordert, sich rückhaltlos der Not vergewaltigter Frauen anzunehmen. (...) Wenn nach einer Vergewaltigung ein Präparat, dessen Wirkprinzip die Verhinderung einer Zeugung ist, mit der Absicht eingesetzt wird, die Befruchtung zu verhindern, dann ist das aus meiner Sicht vertretbar."
Ausgerechnet der Kardinal, der in der Vergangenheit die Abtreibung auch schon mal als "Babyholocaust" bezeichnet hatte, ausgerechnet er machte also nun einen Schritt auf uns zu und plädierte für die "Pille danach" bei Vergewaltigung. Immerhin.
Also schrieb ich am 1. Februar 2013 einen Offenen Brief an den Kardinal: "Sie haben in der Debatte um die 'Pille danach' die Menschlichkeit sprechen lassen." Übrigens: Über Abtreibung habe ich nie mit ihm gesprochen. Uns war beiden klar, dass unsere in diesem Punkt so gegensätzlichen Meinungen unveräußerlich sind.
Zum letzten Mal habe ich ihn vor rund einem Jahr gesehen. Er hatte mich in seinen Alterssitz in der Dompropstei zum Kaffee eingeladen. Auf seinem Schreibtisch stand noch das gerahmte Foto seiner Mutter. Und wie immer war es ein recht persönliches Gespräch. Wir hatten es beide gerade nicht leicht.
Da holte er aus seiner Bibel einen Zettel, pappte auf die Rückseite einen gelben Aufkleber und schieb darauf in seiner etwas altmodischen, präzisen Schrift: „Gebetszettel aus meinem Brevier für Sie!“ Auf dem Zettel stand in Druckbuchstaben ein Gedicht der Heiligen Teresa von Avila, Meisners „Lieblingsheilige“. Es beginnt mit den Worten: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles geht vorüber. Gott allein bleibt derselbe.“ Tröstlich. Wir versprachen, uns in nicht allzu großer Ferne wiederzusehen.
Alice Schwarzer