"Wir verbitten uns Pauschalisierung!"
Der grosse Unterschied zwischen Alice Schwarzer und all jenen, die sich nach den Ereignissen in Köln dazu geäussert hatten, besteht in einem einzigen, aber entscheidenden Punkt: Schwarzer beschäftigt sich mit der Thematik nicht erst seit dem 31. Dezember 2015. Wie mit Frauen umgegangen wird, interessiert sie nicht erst, seit man damit Politik betreiben kann. Gegen Unterdrückung und Ungleichbehandlung kämpft sie schon ihr ganzes Leben. Und sie hat sich dafür mit allen angelegt, mit Männern genauso wie mit ihren Geschlechtsgenossinnen, mit politischen Akteuren jeglicher Couleur sowieso.
Es ist einer wie Schwarzer daher egal, welche Gesinnung oder Haarfarbe oder Herkunft jene haben, die patriarchale Gewalt ausüben oder Frauen als minderwertig erachten. Sie kritisiert die Tatsache an sich. Aber als sie nach den sexuellen Massenübergriffen in der Silvesternacht von Köln als eine der ersten unmissverständlich Klartext redete und die Täter beim Namen nannte, also schrieb, dass es sich dabei um Männer aus dem arabischen Raum gehandelt habe und dass deren machoide Prägung ein Problem sei, wurde sie umgehend als Fremdenhasserin und Rassistin beschimpft.
Sie ist sich das gewohnt und hat diesbezüglich eine dicke Haut. Claudia Vosen nicht. Sie geriet am letzten Abend des Jahres 2015 mitten in den Mob in der Kölner Bahnhofshalle, zusammen mit ihrer Familie. Im Gedränge verlor sie ihren Mann, sie blieb zurück mit ihrem Sohn, 13, und ihrer Tochter, 15: «Plötzlich hatten wir Hände am ganzen Körper. Sie fassten uns an die Brüste, griffen uns brutal zwischen die Beine, zerrten an Reissverschlüssen, Finger pulten nach Öffnungen. Die haben sich sogar gebückt, um uns besser zwischen die Beine greifen zu können.» Eine halbe Stunde lang sind Mutter und Tochter der Demütigung ausgeliefert, danach stehen die beiden unter Schock.
Sie sind nicht mal vergewaltigt worden – also kein Problem?
Was Claudia Vosen bis heute fast noch mehr schockiert als der Vorfall selbst, waren die Reaktionen danach. Dass sie sich als Ausländerhasserin betiteln lassen muss, wenn sie von der verhängnisvollen Nacht erzählt, und ihrer Tochter gesagt wird, sie solle sich nicht so haben, sie sei ja nicht mal vergewaltigt worden. Es passt auch ins Bild, dass die vor der Bahnhofshalle postierten Beamten nicht auf ihren Hilferuf reagiert, sondern die verstörte Mutter mit ihrer noch verstörteren Tochter nach Hause geschickt hatten. Und sich für ihre Anzeige erst zu interessieren begannen, als die Stimmen all jener Frauen, denen dasselbe passiert war wie ihnen, nicht mehr zu überhören waren – 596 Opfer haben sich insgesamt gemeldet. Dabei hatte die Kölner Polizei am 1. Januar noch erklärt, die Silvesternacht sei «weitgehend friedlich» über die Bühne gegangen.
Claudia Vosen schildert ihre Geschichte im neuen, soeben erschienenen Buch von Alice Schwarzer; es heisst schlicht «Der Schock». Darin wird nicht nur der zeitliche Ablauf rekonstruiert und aufgezeigt, wie unfähig und verklemmt Politik und Polizei angesichts der Vorfälle agierten, es finden sich darin auch Essays von Soziologinnen und Schriftstellern aus dem arabischen Raum.
Sie verleihen in klugen, umsichtigen und fundierten Beiträgen ihrer Besorgnis über ebendiese Verklemmtheit Ausdruck. Sie alle haben in Ländern gelebt, in denen sich der politische Islam ausgebreitet hat und in denen die Frauen stets zu den Ersten gehörten, die darunter zu leiden hatten. Der Tenor der Autorinnen und Autoren: Der Westen verkenne, welch verheerende Folgen es habe, wenn aus falsch verstandener Toleranz Taten wie jene von Köln nicht unmissverständlich verurteilt, sondern vielmehr relativiert würden. Und: Es habe sich zweifelsohne um eine Machtdemonstration gehandelt.
Für die Ägypterinnen sind sexuelle Übergriffe Alltag
Alice Schwarzer vergleicht die Ereignisse von Köln mit denen vom Tahrir-Platz in Kairo 2011, als für mehr Freiheit demonstrierende Frauen von einem Mob angegriffen, entkleidet und sogar vergewaltigt wurden. Dass der Westen überhaupt davon erfuhr, lag nur daran, dass auch europäische und amerikanische Journalistinnen von der Gewalt betroffen gewesen waren. Für die Ägypterinnen sind sie Alltag, diese Übergriffe; 95 Prozent geben an, schon sexuell belästigt worden zu sein. Hilfsorganisationen berichten zudem, dass nahezu ausnahmslos alle Frauen, die letztes Jahr in Europa ankamen, auf ihrer Flucht sexuelle Gewalt erfuhren, in der Regel von anderen Flüchtlingen.
Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud, den die Islamisten 2014 mit einer Fatwa belegten, warnt in einem ebenso flammenden wie ergreifenden Plädoyer (für das er bezeichnenderweise der Islamophie beschuldigt wurde) davor, die kulturelle Prägung muslimischer Männer zu unterschätzen: «Man erkennt im Flüchtling nur seinen Status, nicht aber seine Kultur; er ist das Opfer, das eine Projektion oder ein Gefühl von menschlicher Pflicht oder ein Schuldgefühl beim westlichen Menschen hervorruft. Man sieht nur den Überlebenden und vergisst, dass der Flüchtling aus einer Kulturfalle kommt, die vor allem von seinem Verhältnis zu Gott und zur Frau bestimmt wird.»
Frauen, schreibt er weiter, hätten im islamischen Raum kein Recht auf den eigenen Körper, er gehöre allen anderen, nur nicht ihnen selbst. Diese Haltung könne man im Westen nicht mit «ein bisschen Bürokratie und Wohltätigkeit» ausmerzen, denn sie sei geprägt von dieser «schmerzlichen und schrecklichen Welt, mit all ihrer sexuellen Not in der arabisch-muslimischen Welt, mit diesem kranken Verhältnis zur Frau, zum Körper und zur Lust».
Just davor warnt Schwarzer seit Jahren. Dass die Taten ausgerechnet in Köln passiert sind, ist für sie kein Zufall: Nordrhein-Westfalen pflege seit Jahren einen Laisser-faire-Umgang mit Migranten, es werde von ihnen nichts verlangt, im Unterschied zu Berlin etwa, wo man schon seit Jahren entsprechende Massnahmen eingeleitet habe.
Beschneidung der Frauenrechte folgt einer politischen Agenda
Der Beitrag der algerischen Soziologin Marieme Hélie-Lucas bestätigt Schwarzers Mahnen. Sie beschreibt in ihrem Essay, wie subtil der politische Islam die Beschneidung der Frauenrechte vorantreibt und wie er dabei immer dasselbe Muster anwendet: Wie zunächst getrennte Bäder und Schulen eingeführt werden, für Frauen immer strengere Kleidervorschriften gelten, bis sie schliesslich aus dem öffentlichen Raum gedrängt werden oder sich in diesem nur noch bewegen dürfen, wenn sie unkenntlich gemacht sind. Für Hélie-Lucas hat das alles nichts mit Religion zu tun. Sie spricht unverblümt von einer «neuartigen, extremen Rechten». Und schüttelt den Kopf darüber, dass der Westen die Parallelen zwischen den Entwicklungen in den Herkunftsländern der Täter und der Silvesternacht von Köln nicht sieht. Oder sehen will: «In einer stillschweigend vorausgesetzten Hierarchie der Grundrechte rangieren demnach die Rechte der Frauen weit hinter Minderheitenrechten.»
Das Magazin «Cicero» befand, Schwarzers Buch helfe der AfD. Und macht es sich damit viel zu einfach. Die Islamwissenschaftlerin Rita Breuer hält in ihrem Beitrag ja eben gerade fest: «Wir Normalbürger wissen, dass nicht alle Männer und nicht alle Muslime gleich sind, wir differenzieren und brauchen keine diesbezüglichen Belehrungen. Wir sind solidarisch mit Menschen auf der Flucht und zugleich wach für die Probleme, die damit verbunden sind und die nicht zulasten der Frauen «gelöst» werden dürfen. Wir verbitten uns diesen steten Vorwurf der Pauschalisierung, mit dem man eigentlich jede kritische Äusserung zum Islam unterbinden will.»
Bettina Weber, SonntagsZeitung, 22.5.2016
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Alice Schwarzer (Hg).: „DER SCHOCK – die Silvesternacht von Köln“ (KiWi, 7.99 €). Im EMMA-Shop