Über Alice

Heine Preis an Alice Schwarzer:

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Meine sehr verehrten Damen und Herren,

liebe Alice Schwarzer,

Sie nehmen heute die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft entgegen. Abgesehen davon, dass ich das Glück hatte, Sie während meiner Amtszeit in Deutschland persönlich kennen zu lernen und Ihre Arbeit und Ihren Erfolg vor Ort beobachten zu dürfen, wusste ich nicht genau, was ich Ihnen heute eigentlich sagen sollte. Hat man doch über Sie schon alles Mögliche gesagt und mehrfach wiederholt!

Ich sehe mir die Liste der Preise und Ehrungen an, die Sie bekommen haben. Ich sehe mir die Liste der Buchpublikationen, Artikel und Reden an, die Ihr sprudelnder Geist hervorgebracht hat. Ich sehe sogar, was bereits über Sie geschrieben wurde, Artikel, Aufsätze und Bücher, die Sendungen über Sie. Was kann ich noch hinzufügen? Am besten, dachte ich, wäre, Ihnen allen hier diese Listen der Bücher und Publikationen von und über Alice Schwarzer vorzulesen. Leider haben mir die Veranstalter dieses Abends nur 12 Minuten für meine Laudatio zugeteilt und für nur 12 Minuten sind die Listen zu lang.

Also stellte ich mir die Frage, warum wird Alice Schwarzer ausgerechnet mit der Heinrich-Heine-Ehrengabe ausgezeichnet? Die Jury, die Alice Schwarzer für diese Ehrung auserkoren hat, wusste bestimmt warum. Als ich die Einladung erhielt, diese Laudatio zu halten, waren mir dennoch ihre Begründungen nicht bekannt. So habe ich mich wieder ein wenig in das Werk Heinrich Heines vertieft.

Ich bin kein Marcel Reich-Ranicki und würde mich niemals trauen, Literatur und Dichter zu bewerten; Klassikergiganten wie Heinrich Heine schon gar nicht. Ich weiß aber, was mich, der ich eher Politikwissenschaftler als Literaturexperte bin, an Heinrich Heine am meisten beeindruckt hat. Heinrich Heine gilt als der letzte der Romantiker und als Pionier des Realismus in der europäischen Literatur. Er war ein kämpferischer und sogar aggressiver Denker, der sich viele Feinde geschaffen hat, später aber auch noch mehr Bewunderer.

Seine Kritiker fürchteten ihn als eine dämonische, verheerende Kraft; seine Verehrer betrachteten ihn nicht nur als genialen Dichter, sondern als Ritter des sich befreienden menschlichen Geistes. Als einen Geist, der immer an der Front der Verteidigung der Wahrheit und Freiheit steht; als einen Mann, der die Völkerfreundschaft gepredigt hat und dies in der Zeit der Entstehung und gefährlichen Entwicklung des Nationalismus; als einen Mann, der ausgerechnet Frankreich, den "Erzfeind Deutschlands", verehrt und bewundert hat, der sich um die deutsch-französische Verständigung bemüht hat, als die Gemüter emotional ganz und gar das Gegenteil der Verständigung anstrebten.

In einem Jahrhundert der Bourgeoisie, die den neuen, rassistischen Antisemitismus ausbrütete, brüstet er sich mit seiner jüdischen Abstammung und dies obwohl er in seinem 28. Lebensjahr zum Christentum übergetreten war. Die Revolution von 1848 verstand Heine als den Eröffnungsakt für die zukünftigen Revolutionen auf Weltebene. Er war davon überzeugt, dass die Umwälzungen im wirtschaftlichen Leben der Völker allmählich zur Abschaffung der nationalen und politischen Grenzen führen werden, dass die zukünftigen Kriege nicht zwischen feindlichen Ländern, sondern zwischen Klassen geführt werden. Mit anderen Worten: es ist nicht das Land, das Königreich oder Kaiserreich, das man an erster Stelle verteidigen muss, sondern der Mensch, das Individuum.

Erinnert Sie all dies an etwas in Alice Schwarzers Werk und Streben? An was Alice Schwarzer Ende der 60er Jahre in Frankreich mit der MLF (mouvement de libération des femmes), der Befreiungsbewegung der Frauen, begonnen hat, ja, ausgerechnet in Frankreich, genau wie Heinrich Heine? Ihre Schriften von Frankreich aus, die in Deutschland veröffentlicht wurden, und besonders ihre Beteiligung am "Bekenntnis der 343", ein Bekenntnis genau so vieler prominenter französischer Frauen, die in der Wochenzeitschrift Le Novelle Observateur erklärten, das Gesetz gegen Abtreibung persönlich gebrochen zu haben, haben ihr den Weg geebnet.

Das Gleiche hat sie dann in Deutschland wiederholt, als sie den "Appell der 374" Deutschen initiiert und veröffentlicht hat. Der Pariser Studentenaufstand von 1968 wirkte auf Alice Schwarzer so, wie 120 Jahre zuvor die Stürzung der so genannten bürgerlichen Monarchie Frankreichs auf den Beobachter Heinrich Heine. Das alles war aber erst der Ausgangspunkt ihrer emanzipatorischen Aktivitäten. Eine Frau, die aus Frankreich heraus eine versteinerte Bourgeoisie in Deutschland mit ihrem Ringen um die Befreiung der Frau durchbricht, kann nicht beliebt sein. "Ich bin zur Buhfrau der Nation geworden", schrieb Alice Schwarzer, "in den Medien war ich nun gänzlich vogelfrei. Wäre ich nicht eine erwachsene, erfahrene Frau gewesen, hätten diese Töne mich schon umhauen können."

Aber nicht nur Männer haben Alice Schwarzer beschimpft und verleumdet, oft waren es auch Frauen. Oft waren es Frauen in Deutschland wie es heute Frauen in aller Welt sind und besonders in der islamischen Gesellschaft, die Alice Schwarzer ihrer Benachteiligung bewusst machen möchte. Wussten Sie, liebe Alice Schwarzer, nicht, dass die größten Feinde der Freiheit glückliche Sklaven sind? Ich bin sicher, dass Sie es wussten, ich bin sicher, dass Sie ganz bewusst gegen den Strom geschwommen sind, wohl wissend, dass sie das unbeliebt macht. Sie haben doch in den Jahren, als George Brassens überall bekannt und beliebt war, in Frankreich gelebt und studiert. "Car les braves gens n´aiment pas que l´on suivent une autre route qu´eux" (Weil die anständigen Leute es nicht mögen, wenn man einem Weg folgt, der nicht der ihre ist), sang er. Sie, Frau Schwarzer, haben sich übrigens nicht damit abgefunden, nicht nur den Weg der "anständigen Leute" nicht zu nehmen. Sie haben viel mehr getan – Sie haben sich denen entgegen gestellt. Was konnten Sie also anderes erwarten, als die Buhfrau der Nation zu werden? Ja, so wie Heinrich Heine.

Heute, nachdem Sie so viele Herausforderungen überwunden haben, so viele Errungenschaften vorweisen können und vor allem die Herzen der Menschen gewonnen haben, können Sie sich so fühlen, wie Heinrich Heine, der von vielen Menschen lange Zeit gehasst wurde und doch noch in seiner Lebenszeit zur Kultperson geworden ist. Heute, wo Deutschland eine Bundeskanzlerin hat! Hätten Sie sich in den Zeiten der MLF eine Kanzlerin vorstellen können? Und wer weiß, vielleicht kommt nächstes Jahr eine französische Präsidentin an die Macht, ja, und überdies eine Sozialdemokratin, die Frau Segolène Royale.

Ja, die Welt hat sich verändert, aber nicht genügend und bestimmt nicht überall. Sie haben gewonnen, aber nur eine Etappe in Ihrer lebenslangen Mission.

Um den Vergleich mit Heinrich Heine abzuschließen muss ich Ihnen dennoch sagen, nicht mit allem was Heinrich Heine geschrieben und gepredigt hat, hätten Sie sich identifizieren bzw. abfinden können. Seinem Verleger Julius Campe schrieb er "Ich halte nichts von der Frauenemanzipation, ich bin zu sehr verheiratet", das heißt, seine Frau musste ihm unterstellt sein und ihn bedienen.

Und das sagte Heinrich Heine, der große Freund von Frauen wie George Sand und Betty Rothschild, die großen Geister der Emanzipation der Frauen. Ihren Geist und ihre intellektuelle Kraft hat er bewundert, vielleicht aber hat er ausgerechnet deshalb Frauen offensichtlich gefürchtet. Na ja, der große Revolutionär und Menschenrechtler konnte auch nicht an allen Fronten kämpfen. Und Gott sei Dank war das so, denn wäre er ganz perfekt gewesen, was wäre ein Jahrhundert später noch für Alice Schwarzer zu tun übrig geblieben?!

Wie soll man heute die erfolgreiche, gefeierte Alice Schwarzer beschreiben? Ist sie eine Heldin? Eigentlich finde ich, dass der Titel "Held" ein zwiespältiger Begriff ist. Wer ist ein Held? Durch die Geschichte hindurch waren Helden immer tapfere Kämpfer, hauptsächlich jene, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind. Bertolt Brecht sagte "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat", und selbst der Feldherr, den Carl von Clausewitz als den größten aller Zeiten beschrieb, Napoleon, sagte: "Zum Leben ist viel mehr Tapferkeit erforderlich als zum Sterben". Alice Schwarzer kämpft nicht auf einem Schlachtfeld. Sie setzt sich für das Leben und für die Lebenden ein. Und dennoch ist sie für mich eine Heldin.
Unter den zahlreichen Preisen, die Sie, Alice Schwarzer, entgegengenommen haben, hat mich einer besonders begeistert: Im Jahr 2003 haben Sie den "Zivilcourage-Preis" des Berliner CSD entgegen genommen. Zivilcourage, das ist für mich Heldentum. Tag und Nacht, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr von seinem Umfeld abgelehnt zu werden, geächtet zu sein, von Fanatikern sogar bedroht zu werden und dennoch an seinem Glauben, an seiner Mission festzuhalten, seinen Ideen treu zu bleiben, das ist Heldentum. Das braucht Kraft zum Ausdauern, Beharrlichkeit, Unbeirrbarkeit. Millionen von Soldaten, gehen auf das Schlachtfeld, wissend, dass sie ihr Leben riskieren, aber nur die wenigsten, die allerwenigsten, bleiben den Idealen der Menschlichkeit - unter Umständen gegen ihr eigenes Umfeld - treu. "Die Verräter von gestern sind die Helden von heute". Ja, heute sind Sie eine Heldin, Frau Schwarzer, aber eine Heldin auf Bewährung.

Vorbild zu sein bedeutet vor allem, dass man keineswegs das Recht hat, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Ihre Erfolge, wie Sie selber schon mehrfach zum Ausdruck gebracht haben, sind ja nur ein Ansatzpunkt. Selbst das Ringen um die Befreiung der Frau ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Neulich sagte die französische Psychoanalytikern und Schriftstellerin bulgarischer Abstammung Julia Kristeva, eine der weltweit wichtigsten zeitgenössischen Denker: "Ich fürchte, dass wir selbst in den fortschrittlichsten Demokratien noch einen Rückschlag in der Gleichberechtigung der Frau erleben können, eine Art Rückgang in Sachen wirtschaftlicher Befreiung der Frau. Wir hören doch zunehmend, dass, mit der Vergangenheit verglichen, die Arbeitslosigkeit unter Frauen eher zunimmt. Das heißt, dass die Erwartungen der Feministinnen sich nicht verwirklicht haben, eher dass sie weit von der Wirklichkeit entfernt liegen. Und wenn das heute schon so düster aussieht, wie wird es aussehen, sollten wir in eine echte wirtschaftliche Krise geraten?"

In einer Wirtschaftsflaute leiden die gesellschaftlich schwächer gestellten doch immer am meisten. Und wenn wir aus der westlichen Gesellschaft hinaus schauen, dann sieht es aus, als sei das ganze Unterfangen erst in seinen Anfängen begriffen. Sie erzählten einmal von Ihrem WDR-Wortgefecht mit Esther Vilar am 6. Februar 1975. Sie hatten das Buch Ihrer Gesprächspartnerin und Kontrahentin gelesen und waren entsetzt: "Hätte in diesem Buch anstelle von ‘Frauen’ jedesmal das Wort ‘Schwarze’ oder ‘Juden’ gestanden, das Pamphlet wäre umgehend als rassistisch bzw. antisemitisch auf den Index gekommen". Dazu sagte der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und heutige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in seiner Laudatio auf Sie anlässlich der Verleihung des Staatspreises Nordrhein-Westfalen am 17. Januar 2005 u.a. "Wer unter dem Respekt vor anderen Kulturen auch die Unterdrückung der Frauen in diesen Kulturen respektiert und akzeptiert, der hat nicht begriffen, dass Frauenrechte und Menschrechte unteilbar zusammenhängen."

Sie, Frau Schwarzer, haben das immer vollkommen verstanden. Sie feiern Siege und Fortschritte, warnen aber vor Illusionen und Rückschlägen, denn Sie sagen: "Wir müssen gleichzeitig den Blick in den Abgrund des Frauseins wagen und nach den Sternen greifen". Und damit argumentieren Sie international. Sie schreiben "Wie alle meine Texte dokumentieren, bin ich Universalistin, also Antibiologistin. Das heißt, ich glaube nicht an die Natur des Menschen – weder an die der Geschlechter noch an die der Rassen oder Hautfarben – sondern daran, dass der Mensch frei geboren ist und alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten".

Übrigens, Gleichheit bedeutet für Sie auch, was nicht für alle Unterstützerinnen der Frauenbewegung immer selbstverständlich war, nämlich dass Frauen gleichberechtigt sein müssen, aber nicht mehr Rechte haben sollen als Männer. Diesbezüglich wurden Sie gelegentlich auch von Kolleginnen aus der Frauenbewegung kritisiert. Also gibt es noch ein weiteres Problem, wie auch bei der Bekämpfung des Antisemitismus. Manche Beobachter erstaunt es, dass wir Juden vom Philosemitismus nicht besonders begeistert sind. Wenn man uns ausgrenzt, selbst unter dem Vorwand, wir seien "die Besseren", fühlen wir uns immer noch ausgegrenzt. Nein, wir wollen gleichberechtigt sein und gelobt werden für Lobenswertes, das wir tun, und kritisiert werden für Kritikwürdiges, das wir tun. Genau wie Sie es für die Frauen wollen.

Als ich Botschafter in Brüssel war, erzählte mir einmal eine Spitzenpolitikerin einer Partei im Norden Belgiens, also einer flämischen Partei, was es bedeutet, selbst heute, wo die Flamen die überhand in Belgien haben, unter Unsicherheit wegen der Herkunft zu leiden. Sie erzählte mir, sie habe an der Université Libre de Bruxelles, der großen frankophonen Universität der Hauptstadt, studiert. Ihr Französisch war trotz ihrer Herkunft akzentlos, so als wäre es ihre Muttersprache. Anlässlich eines Studentenballs kam ein Student auf sie zu und bat sie um einen Tanz. Sie akzeptierte, hatte aber das Bedürfnis, ihm sofort zu sagen: "Sie müssen wissen, ich bin eine Flämin". Der Student lächelte scheu und sagte: "Das macht nichts. Ich bin Jude".

Ja, es geht um die Bekämpfung des Unrechts und der Unterdrückung in vielen Teilen der Welt. Es geht aber auch um die Bekämpfung von Vorurteilen in den fortschrittlichsten Regionen der Welt. Wir vertrauen darauf, Alice Schwarzer, dass Sie dieses Ringen fortsetzen. Anlässlich des Erscheinens Ihres Buches "Alice im Männerland" im Herbst 2002 haben Sie unter dem Titel "Mein Weg" Ihre Lebensgeschichte zusammengefasst und sie mit dem folgenden Satz abgeschlossen: "Gibt es etwas, was ich im Rückblick bereue? Nicht viel. Und auf keinen Fall immer geschrieben und gesagt zu haben, was ich denke und fühle." Das, Alice Schwarzer, ist eine moralische Verpflichtung für die Zukunft.
Zur heutigen Auszeichnung mit der Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft darf ich Ihnen herzlich gratulieren und Ihnen weiterhin viel Erfolg wünschen - einen Erfolg, der für uns alle ein Gewinn ist.

Avi Primor, 17. Februar 2006

Die Dankesrede von Alice Schwarzer finden Sie hier.

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