„Diese Mädchen sind hier bei euch!“

Waris Dirie ist wütend: "Warum muss ich seit 40 Jahren die Abschaffung dieses Verbrechens fordern?" - Foto: Bettina Flitner
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Wissen Sie, nach all diesen vielen Jahren, die ich das nun schon mache, hat es mir wirklich wehgetan und mich wütend gemacht, ja, verstört, diesen Film zu sehen (Während der Preisverleihung wurden Ausschnitte aus dem 1993 erschienenen Film „Warrior Marks“ von Alice Walker und Pratibha Parma gezeigt, in dem u.a. ein Mädchen von seiner Beschneidung berichtet). Warum? Weil mich das, was ich da gesehen habe, in meiner Würde, in meinem Wert als Frau verletzt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie weh mir das tut: Wie wertlos Frauen behandelt werden.

Dass ich immer noch hier stehen muss, wieder und wieder, um meine Geschichte zu erzählen und zu erklären, wie falsch diese ganze Sache ist. Und nicht nur die Genitalverstümmelung: Da ist so viel mehr Diskriminierung von Frauen in Afrika, ja in der ganzen Welt! Und alles nur, weil ich eine Frau bin, weil wir Frauen sind.

Schämt euch. Schämt euch! Schämt euch, jeder Mann und jede frau auf diesem Planeten, die ihr nicht dagegen aufsteht und euch nicht dafür einsetzt, dass dies (die Genitalverstümmelung) abgeschafft wird. Wer würde das nicht wollen? Welchem Glauben ihr auch immer angehört, woher ihr auch kommt – macht es besser als dieser nette Herr (Anm.: der im Film „Warrior Marks“ seine Freundin aufforderte, sich der Prozedur zu unterziehen, obwohl sie ihm erzählt hatte, dass ihre beste Freundin daran gestorben war). Ihr Männer seid doch besser als dieser Typ, ihr könnt es besser machen! Zeigt, dass ihr es besser macht, indem ihr an der Seite eurer Frauen steht. Denn ich, so wie ich hier stehe, könnte eure Frau sein, eure Tochter, eure Freundin – ich stehe hier für all diese Frauen.

Und ich kann nicht glaube, dass ich nach nunmehr fast 40 Jahren, immer noch hier stehen und immer dasselbe erzählen muss, immer und immer wieder. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich es hasse, hier stehen zu müssen. Ehrlich, ich will nicht hier sein – aber: ich bin gezwungen, hier zu sein. Weil dieses Verbrechen auch immer noch da ist. Es ist so präsent, und wird so willfährig akzeptiert und ist so okay. Aus diesen Gründen, aus jenen Gründen… Aber nein, ist es nicht! Es ist schlicht ein Verbrechen! Ein absolutes Unrecht! Und es geschieht nur, weil wir Frauen sind. Und das sollte euch wachrütteln.

So viele kleine Mädchen – ich höre gerade, 20.000 sind es allein in Deutschland – sind betroffen! Und ihr nehmt es hin und meint, es sei nicht eure Sache. Weil sie irgendwo anders herkommen. Weil es eine andere Kultur ist. Weil es nicht eure Kultur ist…

Aber es ist eure Kultur, denn diese kleinen Mädchen sind hier! Sie sind mitten unter euch, sie sind in eurer Heimat, sie sind eure Gäste. Nennt es, wie ihr wollt: Diese Kinder sind auch eure Kinder! Schaut euch diese kleinen Mädchen an, sie sind so alt wie eure Töchter zu Hause – und sie verdienen nicht, was ihnen angetan wird. Sie wissen nicht, warum das geschieht. Sie wissen nicht, was richtig oder falsch ist, wer in ihrem Sinne oder gegen sie handelt, und wer die Gesetze macht.

Wo sind wir, um ihnen zu helfen? Wo ist das Gesetz, das sie schützen soll? Auch hier in Deutschland gibt es Gesetze dagegen, richtig? Ich garantiere, wir würden heute hier nicht stehen und miteinander darüber sprechen, wenn es um kleine weiße Mädchen ginge. Dann müsste ich nicht danach fragen, warum dieses Verbrechen geschieht, obwohl es ein Gesetz dagegen gibt. Dann wärt ihr längst eingeschritten – und zwar vom ersten Moment an, als ihr gehört habt, dass so etwas gibt.

Ich möchte, dass ihr euch fragt: Was tun wir dagegen? Was tun wir! Und ich frage euch, die ihr das Gesetz in eurer Hand und die Macht habt, es umzusetzen: Ihr seid herzlos und schamlos, denn ihr habt doch die Macht, etwas zu tun!

Was ich euch noch erzählen möchte: Ich habe Alice Walker, vor 30 Jahren getroffen. Damals hatte ich den Entschluss gefasst, ein Buch zu schreiben, denn ich wollte nicht überall wieder und wieder über meine Erlebnisse sprechen. Ich ging also zu Alice Walker und bat sie: Ich möchte ein Buch schreiben, kannst du mir helfen? Und sie fragte mich: Wovon soll dein Buch handeln? Ich sagte, von diesem und jenem… Doch als das Wort FGM fiel(Anm: Female Genital Mutilation = weibliche Genitalverstümmelung), da sagte sie: Weißt du, Kind, ich habe vor langer, langer Zeit eine Dokumentation darüber gemacht. Und auch ich habe ein Buch geschrieben. Aber nichts ist passiert, nichts wurde unternommen. Ich kann dir nicht helfen. Frag jemand anders.

Ich meine das nicht negativ ihr gegenüber. Ich verstehe, was sie mir sagen wollte. Denn danach begann ich, die Verlage abzuklappern und alle sagten mir das gleiche: Nein Danke. Viel Glück, auf Wiedersehen. Deshalb freut es mich, dass ich diesen Ausschnitt hier heute gesehen habe: Alice Walker war die erste, die einen Film über das Thema gemacht hat – und ich bewundere diese Frau wirklich sehr dafür. 

Waris Dirie gratuliert Cornelia Strunz, Preisträgerin des HeldinnenAwards 2024,
Waris Dirie gratuliert Cornelia Strunz, Preisträgerin des HeldinnenAwards 2024,

Ich stehe heute hier, meine lieben Freundinnen und Freunde, weil ich die Idee zu den Desert Flower Center–Krankenhäusern hatte. Diese Idee trug ich die ganze Zeit in meinem Kopf, oder besser gesagt, in meinem Herzen: den Frauen ihre Würde zurückgeben. Frauen in Europa, die afrikanischen Frauen in der Diaspora beistehen, die etwas schultern, wovon der Rest der Welt nichts weiß.

Ich erinnere mich noch gut daran: Als ich erzählt habe, was mir passiert ist, hat niemand verstanden, worüber zur Hölle ich da eigentlich sprach. Was erzählt sie denn da? Sagt sie die Wahrheit? Niemand glaubte mir, weil das, was ich erzählte, so schockierend war. Ich erinnere mich auch daran, wie ich selbst versuchte, ein Krankenhaus zu finden, das mich behandelte, weil ich zusammenbrach und ohnmächtig wurde, wenn ich meine Periode bekam. Ich kenne also das Stigma und die Scham nur zu gut. Wie peinlich es ist, wenn du einem wildfremden Menschen deine Geschichte erzählst - besonders, wenn er weiß ist - und nichts weiß von deiner Welt. Der dein Geheimnis und deine Probleme nicht einmal ahnt.

Ich kann mich gut erinnern, wie fürchterlich das damals war. Deshalb entschied ich, dass ein solches Krankenhaus unbedingt notwendig ist für die, die in Not sind. Ihr gebt ihnen, was sie brauchen: medizinische Hilfe, Sicherheit und Würde.

Deshalb möchte ich jetzt einer Frau danken, die ich vor zwölf Jahren zum ersten Mal getroffen habe: Conny, meine liebe Freundin und Ärztin. Ich sagte damals zu ihr: Gute Frau, gute weiße Frau, was weißt du denn von all diesen Dingen? Und sie sagte: Ich bin Ärztin, ich weiß, was zu tun ist. Und ich habe ihr gesagt: Ich finde dich wunderbar, du bist eine Frau, du hast Ahnung - also los! Und so haben wir die Sache ins Rollen gebracht.

Lasst es uns kurz machen, denn ich habe es jetzt oft genug gesagt: Ich möchte nicht noch einmal hier stehen, ich möchte, dass es vorbei ist. Überall.

WARIS DIRIE

Verleihung des HeldinnenAwards am 25. Oktober 2024 im Roten Rathaus Berlin.

Patin für ein Mädchen werden: www.desertflowerfoundation.org/de/pate-werden.html

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