Alice Schwarzer schreibt

Heute beginnt Prozess gegen Hatun & Can

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In den Eskapaden des Hartz-IV-Empfängers Udo D. und seinen diversen Freundinnen, die er als angeblich gerettete Opfer deklariert hat. Die wahren Opfer erhielten, selbst wenn sie in Lebensgefahr waren, abwiegelnde Routineschreiben, ob sie „den Schritt denn wirklich wagen“ wollten. Insgesamt hat der Verein, der in drei Jahren angeblich Hunderten geholfen hatte, maximal elf Mädchen zwischengeparkt: in einer Flucht-Wohnung. Doch selbst die bezahlte nicht etwa Hatun & Can, sondern die „Französische Kirche“, der Weiße Ring oder das Job-Center.
Die geretteten Mädchen blieben in der verwahrlosten Wohnung sich selbst überlassen und mussten – oft gegen ihren Willen – für Pressetermine zur Verfügung stehen. Steckte ein mitleidiger Journalist ihnen mal einen Hunderter zu, kassierte selbst den noch Udo D. Er hatte ja so viele „Auslagen“ für die Mädchen.
Die Polizei und der Stern-Reporter Walter Wüllenweber recherchierten, was Udo D. aus Neukölln von Anbeginn an wirklich mit dem Geld anstellte: Er schmiss Runden in seinen Stammkneipen, finanzierte das Leben der einen Freundin und lud eine andere zum Luxustrip ein, kaufte sich eine goldene Uhr und ging ins Thai-Bordell oder auf den Straßenstrich. Erstaunlich nur, dass in all den Jahren nie jemand bei den zahlreichen Medien anrief, die immer nur Gutes über Hatun & Can zu berichten hatten und wiederholt zu Spenden aufriefen, wie der Berliner Tagesspiegel und der RBB oder in Folge auch SpiegelOnline und EMMA.

Der Initiator von Hatun & Can sei der ehemalige Freund von der von ihrem Bruder 2005 ermordeten Hatun Sürücü, wurde geflüstert. Entsprechend taktvoll recherchierten wir alle. EMMA inbegriffen. Der wahre Freund von Hatun, Timor S., zuckt heute nur mit den Schultern und erklärte dem Stern: „Udo hat sie exakt einmal getroffen (…) Von Hatuns Freunden macht niemand bei diesem Verein mit. Die wissen alle, dass der Udo nur Geld mit ihr verdienen will.“ Das Bedürfnis allerdings, den Betrüger zu stoppen, scheint nicht sehr groß gewesen zu sein.
EMMA brachte im März 2008 erstmals eine Meldung über Hatun & Can und, nach einem Hilferuf im Sommer 2008, einen ausführlichen Bericht im September 2008. EMMA-Redakteurin Chantal Louis hatte recherchiert: Beim Vereinsvorsitzenden persönlich (dem angeblich gramgebeugten Freund von Hatun), bei Vereinsmitgliedern sowie bei anderen Hilfsprojekten. Alle waren des Lobes voll über die Wohltaten des Vereins. Hunderte von Frauen hätten die gerettet aus „lebensgefährlichen Situationen“ und sie „neu integriert“, laut Hatun & Can waren es innerhalb von zwei Jahren 170 Frauen.
Also spendete auch ich im Sommer 2008 Hatun & Can 3.000 Euro. Ein Jahr später erhielt ich einen erneuten Hilferuf von „Andreas Becker“. Der Verein habe kein Geld mehr und könne ohne meine Hilfe nicht weiterarbeiten. Ich beschloss, nochmal zu helfen – nicht ohne vorher ein zweites Mal nachzuhören bei Vereinsmitgliedern und KollegInnen. Wieder waren alle in Berlin des Lobes voll.
Am 25. September 2009 machte ich bei "Wer wird Millionär?" öffentlich, dass mein Gewinn an Hatun & Can, die verfolgten muslimischen Frauen helfen, gehen würde. Ich hatte nicht damit gerechnet, eine halbe Million zu erraten – habe mich aber dann umso mehr gefreut.
Gleich am Tag nach der Sendung begann ich, nachzuhaken, was denn nun mit dem Geld geschehen würde. Ich erhielt nur ausweichende Antworten. So vage, dass ich Anfang November nach Berlin fuhr. Zusammen mit dem Vereinsmitglied Necla Kelek traf ich „Verantwortliche des Vereins“. Neben „Andreas Becker“ saß ein schweigsamer Kumpane, der als „Bodyguard“ vorgestellt wurde (weil es ja so gefährlich sei, jungen Musliminnen zu helfen); gegenüber eine junge Frau, die eher den Eindruck vermittelte, selber dringend Hilfe zu benötigen; sowie Anwältin Olga V.M., die sich als „Mitglied“ von Hatun & Can sowie der „Französischen Kirche“ vorstellte und sich auffallend zurückhielt.
Die „Französische Kirche“ organisiert ebenfalls Fluchtwohnungen für Asylsuchende. Im Stern wurde Olga V.M., Vorstandsmitglied der „Französischen Kirche“, als „enge Vertraute“ von Udo D. bezeichnet. Auch gegen sie ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft.
Nach dem einstündigen Gespräch mit den Vieren von Hatun & Can wusste ich: Hier stimmt etwas nicht! Von nun an setzte ich alle Hebel in Bewegung. Und was ich erfuhr, war nicht gerade beruhigend. Niemand wusste in Wahrheit Konkretes aus eigener Erfahrung, alle beriefen sich immer nur auf die anderen. Und die angeblich hundertfach Geretteten waren über Monate die immerselben drei jungen Türkinnen.
Außer den Vieren – von denen zwei inzwischen bei der Polizei gestanden haben – schien es keine weiteren aktiven Vereinsmitglieder zu geben, nur gutgläubig Zahlende. Ein Beirat, wie rechtlich vorgesehen? Nie gesehen. Die beiden anderen Vorstandsmitglieder? Unsichtbar. Vereinstreffen? Nie stattgefunden.
Bereits Anfang November 2009 hatte RTL „Herrn Becker“ aufgefordert, das Geld bis zur Klärung zurückzuzahlen. Keine Reaktion. Dann erschien am 20.11.2009 im Berliner Tagesspiegel, – dem Blatt, das bis zuletzt am meisten und euphorischsten über Hatun & Can berichtet hatte, – eine Dankesanzeige. Hatun & Can dankte „Alice Schwarzer und RTL“ für die Spende. Doch von den mir bekannten Hatun & Can-Mitgliedern war kein einziges unter den Unterzeichnern, auch Frau V.M. nicht. Die allerdings hatte zusammen mit ihrem Mann anscheinend die meisten bzw. alle diese Unterschriften persönlich akquiriert. Die ahnungslosen UnterzeichnerInnen hielten es für eine gute Sache.
Noch wenige Tage zuvor hatte die Anwältin mir geschrieben, es dürfte auf keinen Fall ihr Name genannt werden, denn Hatun & Can hätte „Sicherheitsregeln, die denen des israelischen Geheimdienstes nicht nachstehen“. Was sie, Olga V.M. jedoch nicht daran hindern konnte, unter ihren Freunden und Bekannten für die Unterzeichnung der Anzeige zu werben, und das, ohne sie über die längst offenen Probleme zu informieren.Der Stern schrieb, dass die von ihm überprüften UnterzeichnerInnen noch nicht einmal von ihrer Unterschrift unter dieser Anzeige wussten.
Die verlogene Anzeige brachte für mich das Fass zum Überlaufen. Ich erstattete, zusammen mit Necla Kelek und RTL, Anzeige gegen Hatun & Can. Udo D. wurde ab sofort beschattet, und es stellte sich heraus, dass er und seine Komplizin Tag für Tag Tausende von Euro an diversen Bank-Automaten von dem Vereinskonto abhoben. Noch vor Weihnachten 2009 wurden die Konten und das Auto beschlagnahmt.
Was passierte nun? Erstaunliches! KollegInnen, die ganz wie EMMA in der Vergangenheit positiv über Hatun & Can berichtet hatten, riefen mich an. Doch sie fragten nicht etwa, warum ich Anzeige erstattet hatte – sondern sie versuchten mich zu bremsen, wenn nicht gar einzuschüchtern. Stil: „Wie stehen Sie denn dann da, Frau Schwarzer!“ oder „Sie ruinieren ja mit ihrem Vorgehen den Verein!“ – Ich antwortete: Hoffentlich!
Ganz offensichtlich wollten viele lieber weiter glauben anstatt endlich zu wissen. Und interessierte es sie wenig, was mit den Spenden geschah.
Zum Glück hielt ich durch – und behielt leider Recht. Heute stellen sich für mich vor allem zwei Fragen:
1. Was eigentlich ist ein Vereinsrecht wert, nach dem jeder sich selbst als „gemeinnützig“ deklarierter Verein mit Spenden schalten und walten kann, wie ihm gutdünkt – ohne von irgendjemandem kontrolliert zu werden?
2. Welche Rolle spielen wir Medien eigentlich bei dem Missbrauch von Spenden? Können wir es überhaupt verantworten, zu Spenden an Vereine und Organisationen aufzurufen, bei denen wir uns nicht höchstpersönlich überzeugt haben – und weiter kontrollieren – was mit den Geldern geschieht?
Udo D. hat im Namen der guten Sache nicht nur meine halbe Million kassiert, sondern auch die von so manchem Gutgläubigen 10 oder 20 vom Mund abgesparten Euro im Monat. Wir alle wollten helfen. Wir alle wünschten uns, dass er existiert, so ein unbürokratischer Verein, der Gutes tut und Leben rettet.
Ich bin sehr erleichtert, dass das Treiben von Hatun & Can endlich gestoppt ist. Aber dieser Verein wird nicht der einzige sein … Sobald das Geld nach Verurteilung von Udo D. zurückgeflossen ist, werde ich es neu an verschiedene Projekte verteilen. Doch diesmal mit Auflagen. Denn das habe ich nun gelernt: Auch bei einer scheinbar guten Sache geht Kontrolle über Vertrauen.
Alice Schwarzer

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