Der zweite Teil meiner Autobiografie liegt jetzt in den Buchhandlungen: 450 Seiten plus 72 Fotos. Mein Leben von 1975 bis heute. Im ersten Teil, „Lebenslauf“ (2011), ging es um die Jahre 1942 bis 1977, vom ersten Tag Alice bis zum ersten Tag EMMA.
7. Oktober 2020
Foto: Bettina Fltner
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Ich muss gestehen, das Schreiben ist mir diesmal nicht leicht gefallen. Nicht nur, weil es eine solche Fülle von Leben, Themen und Kämpfen ist, sondern auch, weil ich mich an so manche Jahre gar nicht gerne erinnere. Es war nicht immer leicht Ende der 70er und in den 80er Jahren. Und auch in der Zeit danach kann ich über einen Mangel an Widerstand und Gehässigkeiten nicht klagen.
Aber: Es hat auch (fast) immer Spaß gemacht – und macht es noch! Gerade sitze ich in der Redaktion, wo ich mit den Kolleginnen zusammen die nächste EMMA mache. Um EMMA geht es natürlich auch in meinem „Lebenswerk“, und zwar ganz zentral: der Alltag in EMMA, Männer in EMMA, Humor in EMMA, Kampagnen von EMMA… Und die Geschichten hinter den Kulissen.
Das Verrückte ist: All die Themen und Kampagnen aus den ersten Jahren und Jahrzehnten sind immer noch aktuell, oft brandaktuell. Wie der Kindesmissbrauch (erstmals EMMA-Thema 1977), MeToo (erstmals EMMA-Titel 1980) oder auch das Kopftuch (erstmals mein Thema 1979, nach meiner Reise in den Iran). Fast ein halbes Jahrhundert Leben, Arbeiten und Lieben auf 450 Seiten. Plus Fotos. Darunter auch private, wie die nachfolgenden. Alice mal anders.
Alice Schwarzer hat den zweiten Teil ihrer Lebenserinnerungen geschrieben: von Mitte der 1970er Jahre bis heute. Hier ein Auszug aus ihrem "Lebenswerk".
"Wie halten Sie das aus, Frau Schwarzer?“ Das ist die Frage, die ich auf jeder Veranstaltung irgendwann zu hören bekomme. Auf jeder. So auch heute, am 28. April 2019 im Düsseldorfer Schauspielhaus. Vor mir sitzen rund tausend Menschen, überwiegend Frauen, etwa ein Viertel Männer. Viele von ihnen, auch die Männer, werden nachher noch zum Signiertisch kommen, mich anstrahlen und Handyfotos mit mir machen. Aber jetzt sitzen sie da in dem halbdunklen Raum und halten die Luft an. Was sagt sie jetzt?
Ich habe inzwischen eine gewisse Routine, aber dennoch gibt diese Frage mir jedes Mal einen Stich ins Herz. Ja, wie halte ich es eigentlich aus? Ganz ehrlich, manchmal weiß ich es selber nicht. Denn schließlich geht das so seit 45 Jahren. Seit ich durch mein Streitgespräch mit Esther Vilar am 6. Februar 1975 eine öffentliche Person wurde. Schlimmer: eine öffentliche Feministin. Noch schlimmer: die Feministin Nr. 1. Die, die für alles verantwortlich ist. Dafür, dass eine Amerikanerin namens Lorena Bobbitt 1993 ihrem Mann den Penis abgeschnitten hat (nach jahrelangen Vergewaltigungen). Oder auch, falls Frau Seehofer ihrem Gatten jemals die Weißwürste kalt servieren sollte (was wohl nie der Fall sein wird, gottbehüte).
Wenn ich also so dastehe auf der Bühne und, wie meist nach meinen Vorträgen oder Lesungen, mit den Menschen diskutiere, wird mir immer wieder klar: Es hat sich seit meinen turbulenten Veranstaltungen nach dem Erscheinen vom „Kleinen Unterschied“ 1975 nichts Grundlegendes geändert. Die Neugierde oder Erwartungen, die leidenschaftliche Zustimmung oder das zögerlich erwachende Interesse – das war schon vor 45 Jahren so. Weniger geworden sind nur die Aggressionen und Anzüglichkeiten. Kaum einer brüllt heute noch quer durch den Saal: „Sie sind doch gar keine normale Frau, Frau Schwarzer!“
Daran sehe ich, dass seither doch einiges passiert ist. Aber jedes Mal und immer wieder muss ich die Mauer der Klischees durchbrechen, versuchen, die Menschen zu erreichen, um ihnen zu zeigen, wer ich wirklich bin, wofür ich wirklich stehe. Und immer wieder muss ich – nach jeder der etwa alle fünf Jahre über mich hinwegschwappenden, rituellen Anti-Schwarzer-Kampagnen – die frohe Kunde meines Überlebens überbringen.
Das beruhigt die Frauen. Es sind ja fast immer Frauen, die mich fragen. Und sie fragen es nicht nur in Sorge um mich, sondern auch aus Sorge um sich. Denn sie wissen längst: Mit den Angriffen auf „die Schwarzer“ sind auch sie gemeint. Ich bin persönlich wie stellvertretend im Visier: Seht her, das machen wir mit so einer! So soll ich zur Unberührbaren gemacht werden. Was nicht ganz klappt, aber doch ein bisschen – wie wir an den Äußerungen so mancher Spitzensportlerin oder Topmanagerin sehen: Ja, ich bin emanzipiert, aber keine Alice Schwarzer …
Aber Alice Schwarzer ist Alice Schwarzer. Sie kommt da nicht raus. Und sie steht immer noch auf der Bühne und ist eine Antwort schuldig. Zum Beispiel darauf, wie ich es eigentlich aushalte, dass mir seit dem Erscheinen vom „Kleinen Unterschied“ die „Weiblichkeit“ (was immer das sein mag) sowie das Begehrtwerden (von wem und mit welchen Motiven auch immer) öffentlich abgesprochen werden. Seither bin ich keine „richtige Frau“ mehr. Denn für eine „richtige Frau“ lautet das oberste Gebot, begehrt und geliebt werden zu wollen – und nicht etwa aufzubegehren und sich unbeliebt zu machen.
Das geht seit meinem TV-Streitgespräch mit Esther Vilar und der Veröffentlichung vom „Kleinen Unterschied“ so. Seit ich den bis dahin öffentlich stummen Frauen eine Stimme gegeben habe. Spätestens da hatten viele Frauen verstanden. Verstanden, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen, sondern die Sache System hat. Seither lag ich bei Zwisten im Ehebett auf der Ritze: Für oder gegen Alice?
„Der kleine Unterschied“ wurde zu meiner eigenen Überraschung ein internationaler Bestseller: von Brasilien bis Japan identifizierten Frauen sich mit den 18 deutschen Frauen, die ich als Fallbeispiele gewählt hatte. Das Buch ist ein Longseller, seit 45 Jahren wird es immer wieder neu aufgelegt.
Im Januar 2020 besuchte ich die „Schwemme“ eines Kölner Brauhauses. Das sind Kombüsen, in denen die Fässer stehen und das Bier gezapft wird. Einheimische gehen da gerne auf einen Sprung rein, um stehend ein Kölsch zu trinken oder auch zwei. Am Zapfhahn stand eine junge Frau (was relativ neu ist, traditionell sind Köbesse in den Brauhäusern Männer). Mitte zwanzig, hübsch, blonder Pferdeschwanz. Nach ein paar Minuten wandte sie sich zu mir: „Hör mal, Alice. (Es ist Tradition in den Brauhäusern, sich zu duzen.) Es ist sonst nicht meine Art, Gäste anzusprechen. Aber ich habe gerade den ‚Kleinen Unterschied‘ gelesen und mich total wiedergefunden in dem Buch. Jetzt habe ich es meinem Freund in die Hand gedrückt.“
Ich staune. Julia (so heißt sie) redet weiter: „Du erwähnst in dem Buch doch, dass sich die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weißer Amerikaner stärker unterscheiden als die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weiblicher Aborigines in Australien. Und stell dir vor, ich habe meine Freundinnen gefragt: Die haben auch alle ganz andere Träume als ihre Freunde!“ Nun bin ich doch überrascht. Es geht also weiter. Und solange das so ist, werde ich Ärger haben.
Ich muss einsehen: Ich bin eine Institution geworden, ob ich will oder nicht. Eine Institution ohne Institution. Denn ich gehöre keiner Partei an, keiner Organisation, keinem Unternehmen, ich stehe für mich allein; nur in EMMA unterstützt von einem bewährten Team. Selbstverständlich war ich Teil des weltweiten Aufbruchs der Frauen und in den 1970er Jahren Teil der Frauenbewegung. Doch diese Bewegung war nur ein lockeres Netzwerk und ist nie zu einem fassbaren Machtfaktor geworden. Stattdessen hat sie sich unter dem Druck von außen sehr bald von innen zersplittert.
Vor unserem Geschlechterbewusstsein stand für die Gesellschaftskritischen unter uns das Klassenbewusstsein und: Nie wieder Auschwitz! Der Holocaust war für die Bewussten meiner Generation initial für jegliches Unrechtsbewusstsein. Es ist darum nicht ganz ohne Komik – oder Tragik? –, dass ein weiteres halbes Jahrhundert später eine neue Feministinnen-Generation antritt, die von diesem umfassenden Blick ihrer Vorgängerinnen auf die Geschichte, die Machtverhältnisse und die Welt nichts zu ahnen scheint. Manche dieser „Neofeministinnen“ behaupten allen Ernstes, „Alt-Feministinnen“ wie Schwarzer hätten sich ja „nur“ um die Frauen gekümmert; schlimmer noch: nur um weiße Frauen; noch schlimmer: nur um weiße privilegierte Mittelschichtsfrauen. Sie aber hätten nun als Erste endlich das richtige, umfassende Bewusstsein.
Auch diese Frauen fangen also wieder bei null an. Wie praktisch für das Patriarchat! Solange das „andere“ Geschlecht mit seiner Revolte alle drei Generationen immer wieder von vorne beginnt, hat das eine Geschlecht nichts zu befürchten. Es ist diese Geschichtslosigkeit, die wohl das größte Hindernis ist auf dem Weg zur Emanzipation.
Alice Schwarzer
Der Text ist ein Auszug aus Alice Schwarzers neuestem Buch „Lebenswerk“, das am 8. Oktober erscheint (KiWi, 25 €). Die meisten Lesungen entfallen leider wegen Corona. Alle Buch-Termine in 2020 auf www.aliceschwarzer.de