Interview "Leipziger Volkszeitung"

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Anfeindungen erlebt die Feministin Alice Schwarzer seit Jahrzehnten. Warum sie heute eine andere Qualität haben, sagt sie im Interview und spricht über ihre Position zum Selbstbestimmungsgesetz. Am Mittwoch tritt Alice Schwarzer in Leipzig auf, sie stellt im Rahmen des Festivals „Literarischer Herbst“ ihre Autobiographie vor. Dagegen haben in dieser Woche 33 Autorinnen und Autoren in einem offenen Brief protestiert. Im LVZ-Interview spricht Schwarzer über ihre Kritik am Selbstbestimmungsgesetz und Fehler bei der Deutschen Einheit.

Ihre Verdienste für die Rechte der Frauen, Ihr Mut und Durchhaltevermögen sind unbestritten. Gegenwind haben Sie immer erlebt. Woher kommt er heute?
Der Gegenwind kommt von Menschen, die offensichtlich der Auffassung sind, dass man keine andere Meinung haben darf als sie. Und die ihre Ideologie für wichtiger halten als das reale Leben. Wir kennen das Phänomen schon aus Amerika, da heißt es Cancel Culture. Also eine Kultur, die allen einen Maulkorb verpassen will, die nicht ihre Meinung vertreten.

Sie spielen an auf einen offenen Brief, in dem 33 Autoren den Literarischen Herbst auffordern, eine Veranstaltung mit Ihnen „aus dem Programm zu nehmen“.
Ja. Diese 33 mir nicht bekannten Menschen fordern, dass der „Literarische Herbst“ eine Lesung von mir absagt. Begründung: Ich sei „transphob, rassistisch und misogyn“, also frauenfeindlich. Nun ja. Man kann ja alles von mir nachlesen: in Büchern, in der „Emma“ und auf emma.de. Der Vorwurf Rassismus wird ja seit einiger Zeit aus selbsternannt „antirassistischen“ Kreisen inflationär verteilt. Aber dass ich nun auch noch frauenfeindlich sein soll, entbehrt nicht der Komik.

Zwei Veranstalterinnen des Literarischen Herbstes führen ihre Lesungen nicht mehr unter dem Dach des Festivals durch. Das Magazin „Hot Topic!“ und die Literaturzeitschrift „Edit“ beziehen sich in ihren Absagen auf Ihre Äußerungen zur Transidentität.
Als hätte die Welt zurzeit keine anderen Probleme als dieses, das in Wahrheit maximal 0,002 Prozent der Bevölkerung betrifft. Mich persönlich interessiert dieses Problem allerdings seit 40 Jahren. Schon 1983 habe ich mich für die Rechte von Transsexuellen eingesetzt, weil ich es tragisch finde, dass in dieser Welt, in der es nur zwei Schubladen gibt – Frau oder Mann –, die Menschen, die keinen Bock auf das eine oder andere haben, unter die Räder geraten. Damit meine ich die Geschlechterrollen, nicht das biologische Geschlecht. Gerade ich verstehe also sehr gut, wenn heutzutage immer mehr Mädchen keine Lust haben, den Influencerinnen in ihre rosa Tüllwelt zu folgen, sondern lieber so frei sein wollen wie ein Junge.

Sehen Sie das als Ihren Erfolg?
Das ist der Erfolg vieler Feministinnen: dass biologische Frauen und biologische Männer raus können aus den Geschlechterzwängen. Und genau das ist der Grund, warum ich heute ein Gesetzesvorhaben kritisiere, das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das jungen Menschen, die sich nicht wohl fühlen in der einengenden Geschlechterrolle, suggeriert: Dann wechsle doch einfach deine Geschlechtsidentität, was der Gesetzesentwurf ab 14 möglich machen will – dann sind alle deine Probleme gelöst. Und lass dich womöglich mit Hormonen behandeln und „umoperieren“. Das ist schlicht verantwortungslos.

Warum?
Weil lebenslange Hormone und sogenannte „geschlechtsangleichende Operationen“, also Brustabnahmen und Genitalverstümmelungen aus einem gesunden Körper einen kranken machen. Außerdem machen sie aus einer Frau noch keinen Mann und aus einem Mann noch keine Frau. Ich plädiere ganz einfach für den freien Menschen – unabhängig vom biologischen Geschlecht.

In der Begründung für die Absagen ist auch von einem „fehlenden sicheren Rahmen“ die Rede. Was halten Sie von den so genannten Safe Spaces, in denen Menschen abgegrenzter Gruppen unter sich bleiben wollen?
Ich denke, wenn da jemand nicht sicher ist, bin ich es, wenn eine so voreingenommene und hasserfüllte Stimmung geschürt wird. Aber ich weiß ja, dass nur eine winzige Minderheit so denkt und die hunderten Leipzigerinnen und Leipziger, die sich schon für die Veranstaltung angemeldet haben, gespannt sind auf eine Begegnung und auf Austausch.

Schaden Fragmentierungen der Gesellschaft in starke Interessengruppen immer – oder können sie unter bestimmten Bedingungen eine Bereicherung sein? Welche Bedingungen wären das?
Mich haben immer schon die Gemeinsamkeiten mehr interessiert als das Trennende – durchaus bei gleichzeitigem offenem Austragen von Interessenunterschieden und Konflikten. Das gilt für Geschlechter ebenso wie für Hautfarben, Klassen oder Völker. In der Tat sehe ich heute eine immer stärkere Fragmentierung der Gesellschaft – das kann nicht gut gehen. Wir sollten uns mehr füreinander interessieren, als uns voneinander abzugrenzen.

„Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten“ schreiben Sie in der Petition „Manifest für Frieden“, die Sie mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine gemeinsam mit Sahra Wagenknecht initiiert haben. Was vermuten Sie hinter der Unversöhnlichkeit – liegt es an den Themen selbst oder an der Debattenkultur heute in Deutschland?
Es liegt an beidem. Die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland ist in Sachen Ukraine für sofortige Verhandlungen. Statt immer weiter einen Krieg zu führen, bei dem keine Seite gewinnen kann, aber tagtäglich an die tausend Menschen sterben und die ganze Welt in Brand gesetzt werden könnte.

Wäre diese Entwicklung für Sie ein Anreiz, sich in der von Sahra Wagenknecht gegründeten Partei zu engagieren?
Ich habe Sahra Wagenknecht für die am 25. Oktober erscheinende EMMA-Ausgabe interviewt – zufällig der Tag meiner Veranstaltung in Leipzig – da finden Sie die Antwort.

Nach 1989 fühlten sich die Frauen im Osten mit ihren besonderen Erfahrungen und Hoffnungen vom Feminismus aus dem Westen übersehen. Konnten Sie das damals nachvollziehen?
Und wie ich das nachvollziehen konnte! Ich habe über die so überstürzte und für den Osten in manchem durchaus auch schmerzliche Wiedervereinigung in EMMA viel geschrieben und Ostfrauen schreiben lassen. Das kann man alles im Lesesaal nachlesen, wo 33.128 Seiten aus 46 Jahren nachgeblättert werden können. Ideal wäre in der Tat gewesen, wir Westfrauen und die Ostfrauen hätten unsere Stärken zusammengelegt: die Ostfrauen ihre fast gleichberechtigten Erfahrungen im Beruf und die starke Entlastung mit Ganztagskindergärten und -schulen – bei anhaltender „Doppelbelastung“. Wir Westfrauen die Erfahrung, dass man auf die Straße gehen und auch durch außerparlamentarischen Druck etwas erreichen kann. Das hat nicht gleich geklappt. Wir holen das jetzt hoffentlich nach.

Mit welchen Botschaften kommen Sie zu Ihrer Lesung nach Leipzig, geht es Ihnen auch um die Verteidigung eines Feminismus, den Kritiker und Kritikerinnen als aus der Zeit gefallen bezeichnen?
Ich habe keine Botschaften. Ich bin eine Aufklärerin. Ich informiere, diskutiere und versuche, Mut zu machen zum Widerstand, wenn nötig. Und Widerstand gegen Unterbezahlung und Gewalt ist heute so nötig wie früher. Ich freue mich auf einen lebendigen, offenen Abend in Leipzig.

Das Gespräch führte Janina Fleischer, es erschien am 21. Oktober 2023 in der LVZ. - Alice Schwarzer liest und diskutiert am 25. Oktober, 19 Uhr, in der Leipziger Stadtbibliothek im Rahmen des Literarischen Herbst.

 

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