"Die Freiwilligkeit ist ein Mythos"
SPIEGEL ONLINE: Frau Schwarzer, mit dem Prostituiertengesetz von rot-grün wollte man die Prostitution aus der Schmuddelecke holen. Prostituierte können sich seitdem kranken- und sozialversichern, sie können klagen, wenn Freier ihnen trotz Absprache kein Geld geben. Hat sich die Situation der Frauen seitdem verbessert?
Alice Schwarzer: Leider nein. Die Freier erwarten selbstverständlich Anonymität und Verschwiegenheit; außerdem ist in der Prostitution Vorkasse üblich. Und in diesen ganzen sechs Jahren ist nicht ein einziger Fall bekannt geworden, in dem eine Prostituierte einen Freier verklagt oder sich als "Prostituierte" bei der Krankenkasse und Rentenversicherung angemeldet hätte. Was nicht überraschend ist. Denn die meisten Frauen in der Prostitution wollen nicht, dass bekannt wird, was sie tun. Sie prostituieren sich heimlich - manchmal wissen noch nicht einmal die eigenen Kinder Bescheid.
Prostitution ist legal - hat das auch dazu beigetragen, dass Unterdrückung, Zwang und Gewalt nachgelassen haben?
Im Gegenteil. Zwang und Gewalt sind mehr geworden. Denn die Polizei hat weniger Möglichkeiten als vorher, Bordelle und Model-Wohnungen zu kontrollieren - wobei fast immer auch Illegale und Minderjährige entdeckt werden -, weil die Prostitution ja jetzt legal ist. Dafür haben die Bordellbetreiber mehr Möglichkeiten, auch ganz legal Druck auf Prostituierte auszuüben.
Haben Sie konkrete Beispiele?
Schwarzer: Ja, das neue Großbordell in Augsburg, das "Colosseum". Dort hatte die Polizei bei einem Großeinsatz 30 Frauen zu Einzelbefragungen mitgenommen und der Staatsanwalt anschließend Anklage erhoben. Denn die Frauen hatten zum Beispiel eine "Anwesenheitspflicht" von 13 Stunden, von 14 Uhr bis 3 Uhr nachts, mussten sich im Kontaktraum permanent splitternackt aufhalten, durften nicht telefonieren, mussten alle Wünsche der Freier erfüllen, sonst wurde ihnen das vom Lohn abgezogen etc. Doch der Bordellbetreiber gewann den Prozess, denn er hat dank des neuen Gesetzes ein "Weisungsrecht" und "Kontrollbefugnisse". Das Gericht argumentierte: Schließlich sei die Prostitution heute ein "ganz normales Gewerbe".
Für Rechtsextreme, Drogenabhängige, Sektenmitglieder gibt es Ausstiegsprogramme - wie können Prostituierte wieder in ein normales Leben zurückkehren?
Ministerin von der Leyen hatte auf einer Pressekonferenz am 24. Januar 2007 eine "Trendwende" in der Prostitutionspolitik der Regierung angekündigt und erklärt: "Der Ausstieg aus der Prostitution ist unser wichtigstes Ziel." Doch seither ist nichts passiert. Auf Nachfrage von "Emma" antwortet das Familienministerium jetzt, Ausstiegshilfen seien "Ländersache". Nicht anders ist es mit der von der Ministerin angekündigten Bestrafung von Freiern von Zwangsprostituierten. Dazu hieß es lapidar: Die Kompetenz liege beim Justizministerium. Doch die Justizministerin verzögert dieses schon im Wahlkampf 2005 angekündigte Gesetz seit Jahren.
In Berlin Schöneberg droht ein ganzer Stadtteil zu kippen - neben dem Straßenelendsstrich soll auch noch ein Großbordell gebaut werden. Anwohner berichten, dass gerade Prostituierte aus Osteuropa immer aggressiver um Kunden werben. Huren erzählen, dass die Konkurrenz immer härter wird, viele für 5 Euro ohne Kondom arbeiten, Frauen ihre kleinen Kinder mit auf den Strich nehmen. Ist das eine neue Entwicklung?
Diese Großbordelle sind überhaupt erst möglich, seit die Prostitution 2002 legalisiert wurde. Das ist ein einmaliges Phänomen in Deutschland - im Ausland kann man es kaum fassen, dass wir uns auch noch brüsten mit diesen Sexfabriken und die Medien neckische Reportagen darüber machen. Schon 1993 berichtete "Emma" erstmals über das Problem der besonders abhängigen und ausgelieferten Prostituierten aus Osteuropa. Seither ist es schlimmer geworden, weil die Länder jetzt zur EU gehören. Diese verzweifelten Frauen sind zu allem bereit. Dass Frauen allerdings sogar ihre kleinen Kinder mit auf den Strich nehmen - und die nicht selten gleich mit zur Verfügung stellen - das ist neu. Es ist ein weiteres Zeichen für die rasant fortschreitende Entmenschlichung im Milieu.
Kann man davon ausgehen, dass Prostituierte aus Rumänien und Bulgarien fast immer von Menschenhändlern auf den Strich gebracht worden?
Was heißt Menschenhändler? Das geht vom brutalen Mafioso, der die Frauen wie Vieh herkarrt, bis hin zum sogenannten "Loverboy", der den Frauen was von Liebe erzählt - und sie dann auf den Strich lockt und für sich anschaffen lässt. Die Frauen sind also Opfer brachialer oder psychischer Gewalt. Und sie durchschauen darum manchmal selber ihre Abhängigkeit nicht, ganz wie geschlagene Ehefrauen. Experten gehen heute davon aus, dass in Deutschland etwa 80 Prozent aller Frauen in der Prostitution aus dem Ausland kommen.
Wie kann man diesen Frauen helfen?
Die einzig wirklich effektive Methode, diesen Frauen zu helfen, wäre die Prävention. Also die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, Aufklärung und Hilfe, damit diese Frauen nicht darauf angewiesen sind, sich den Menschenhändlern und Zuhältern auszuliefern. Das Schweizer Außenministerium arbeitet seit Jahren in Osteuropa vor Ort mit Behörden und Hilfsorganisationen zusammen, um den Frauenhandel zu stoppen. Vom deutschen Außenministerium hat man so etwas bisher leider noch nicht gehört. Für die Frauen, die bereits in Deutschland sind, müsste die Polizei wieder mehr Möglichkeiten bekommen, das Milieu zu kontrollieren - um die oft sprachlosen und hilflosen Frauen überhaupt aufzuspüren. Und befreite Zwangsprostituierte müssten grundsätzlich ein Recht auf Aufenthalt und Ausstiegshilfe haben.
Wie viele minderjährige Prostituierte gibt es Ihren Schätzungen nach in Deutschland?
Das weißt niemand. Aber das BKA hat jüngst darauf hingewiesen, dass die Zahl der Zwangsprostituierten in Deutschland steigt - und darunter ist erfahrungsgemäß ein großer Anteil von Minderjährigen. Doch auch unter den deutschen Frauen in der Prostitution sind viele Minderjährige: Mädchen, die zuhause abgehauen sind - wir wissen, warum! Oder solche wie die 13-Jährige, die jüngst in St. Pauli von ihrem alleinerziehenden Vater an ein Bordell verschachert worden war - und sich nur dank eines glücklichen Zufalls befreien konnte.
Haben Sie das Gefühl, dass die Polizei aufmerksam genug ist?
Manche ja, manche nein. Es gibt Polizisten wie den Hamburger Hauptkommissar Ubben, der das Modell "Milieuaufklärer" erfunden hat: Das sind Polizisten, die an die Orte der Prostitution gehen, Mädchen und Frauen ansprechen und sie ermutigen, Anzeige zu erstatten oder auszusteigen. Die Hamburger Polizei hat viel Erfolg mit dieser Methode. Und es gibt Beamte, die sich vom Milieu bestechen lassen. Cash oder mit der Ware Frau. Die meisten Polizisten aber klagen eher darüber, dass sie den Prostituierten heute weniger helfen können denn je zuvor: Weil sie keine Kontrollmöglichkeiten mehr haben und immer weniger Personal.
Wo verläuft Ihrer Meinung nach die Trennlinie zwischen Zwangsprostitution und Freiwilligkeit? Gibt es tatsächlich Frauen, die ohne Not auf den Strich gehen oder ist das ein Mythos?
Die Freiwilligkeit ist ein Mythos - kräftig genährt von denen, die von Menschenhandel und Prostitution profitieren. Und das sind zuallerletzt die Prostituierten selbst, die enden zu 95 Prozent als Sozialhilfeempfängerinnen. Hauptkommissar Ubben sagt, dass in der Prostitution "95 Prozent der Frauen Opfer sind". Für ihn ist zu recht auch das "Ausnutzen einer wirtschaftlichen Zwangslage Menschenhandel". Doch, so klagt auch er: Die meisten Frauen haben, zumindest für eine gewisse Zeit, selber kein Opferempfinden. Aber spätestens wenn sie aussteigen wollen, kommt der Druck, "bis hin zur Gruppenvergewaltigung", bestätigt Ubben.
Was fordern Sie von der Politik, um die Situation von Prostituierten schnell zu verbessern?
Was wir fordern? Erstens offensive Ausstiegshilfen. Zweitens mehr Mittel für die Polizei an der Front. Drittens die Strafbarkeit der "Förderung der Prostitution". Viertens die Definition der Prostitution als "Verstoß gegen die Menschenwürde". Fünftens das Verbot menschenverachtender Anzeigen, in denen Frauen wie Tiere angeboten werden - inklusive dem lebensgefährlichen Verkehr ohne Kondom. Sechstens und vor allem aber: Wir müssen endlich Schluss machen mit dem Oh-la-la-Mythos von der Prostitution - und aufklären über die bittere, verzweifelte Realität von Frauen in der Prostitution.
Das Interview führte Anna Reimann für Spiegel-Online, 31.10.2007.