Interview "Kleine Zeitung"
Der griechische Philosoph Aristoteles beschrieb den Menschen als Sinneswesen mit Vernunft. Zweifeln Sie angesichts der Weltlage daran?
Alice Schwarzer: Nein, die öffentliche Unvernunft ist ja meist von Interessen geleitet. Wenn ich aber mit meinen Nachbarn spreche oder dem vielzitierten Taxifahrer, dann klingt das meist recht vernünftig.
Weshalb werden die Gräben innerhalb der Gesellschaft tiefer statt flacher?
Ist es so? Oder ist das eher ein Medien-Problem?
Die Weltlage sieht eher nach tiefen Gräben aus: Ist die Vorstellung von einer gerechteren Welt im dritten Jahrtausend eine Utopie?
Nein. Wir haben ja schon sehr viel erreicht. Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt. Die Welt ist heute gerechter als noch vor hundert Jahren. Außerdem: Auch der Weg ist schon das Ziel.
Frauen müssen mittlerweile länger arbeiten, dürfen erst später in Pension gehen und leisten so nebenbei auch den Hauptteil der Care-Arbeit. Sie arbeiten voll, verdienen aber immer noch weniger als Männer, wie sich diese Woche beim Equal Pay Day wieder gezeigt hat. Weit haben wir’s gebracht, oder?
Mit „Care-Arbeit“ meinen Sie vermutlich die Familienarbeit. Ist schon verrückt, wie amerikanisiert wir sind. Ich habe 1973 ein ganzes Buch über die Zerrissenheit von Frauen zwischen Beruf und Familie und die Unterbezahlung geschrieben. „Frauenarbeit – Frauenbefreiung“ hieß das. Solche Titel machte man früher. Das könnte ich heute genauso wieder veröffentlichen. Denn seither ist es zwar besser geworden, aber noch keineswegs gut. Allerdings werden Frauen heute im Gegensatz zu vor 50 Jahren nicht mehr en bloc schlechter bezahlt - „Leichtlohngruppen“ hieß das früher -, sondern benachteiligt sie vor allem ihr „Frauenleben“: Schon das Ausrichten des Berufes auf die erwartete spätere Mutterschaft, die „Familienpause“ und die Teilzeitarbeit. Das alles macht Frauen ärmer und führt sie beruflich und ökonomisch in eine Sackgasse.
Auch im Jahr 2024 zeigt sich: Die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere ist ein Märchen. Was jetzt?
Damit sich das ändert, muss der Staat für mehr Ganztagskrippen und -schulen sorgen und Männer müssen endlich auch die Hälfte des Hauses übernehmen! Und Frauen müssen wagen, das einzuklagen – statt aus Angst vor Liebesverlust zu schweigen. Übrigens: Die größten Karriereschritte machen Männer nach dem ersten gemeinsamen Kind. Dann sorgt die Mutter nicht nur weitgehend für das Kind, sondern hält dem Vater auch den Rücken frei – statt ihn zu Hause mit einzubinden. Und was die gleichen Pensionszeiten beider Geschlechter angeht: Zu gleichen Rechten gehören auch gleiche Pflichten.
Es geht so langsam voran! Just junge Frauen spritzen heute Botox. Sie verkleinern da, vergrößern dort: Wieso wurde der weibliche Körper zum Schlachtfeld?
Der Körper war immer schon das Schlachtfeld im Geschlechterkrieg. Siehe die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Denken Sie an die Korsetts und Schnürschuhe, an die High Heels - oder an den Verlust von Lebensfreude und Gesundheit durch Diäten. Jetzt kommen neue Techniken dazu: Botox, Schönheits-OPs, Po- und Busenvergrößerungen. Wie immer haben die Frauen auch diese Torturen verinnerlicht. Und eine Milliarden-Industrie forciert das. Es ist in der Tat zum Heulen. Dank Influencerinnen sind Millionen Mädchen in erster Linie mit der äußerlichen Selbstoptimierung beschäftigt, statt mit dem Leben und der Welt.
Sie kamen mitten im Zweiten Weltkrieg auf die Welt, heute ist der Antisemitismus wieder stark wie nie. Dreht sich die Geschichte im Kreis?
Nein. Ich denke, gerade Deutschland hat aus seiner dunklen Geschichte gelernt. Der Antisemitismus war bis vor Kurzem in Deutschland schwächer als in den Nachbarländern. Er hat allerdings auch in Deutschland einen neuen Schwung bekommen durch den virulenten Antisemitismus der Islamisten. Im Zentrum von deren Agitation stand schon immer der Judenhass und der Frauenhass. Letzterer scheint kaum je jemanden gestört zu haben. Der Judenhass tut es. Allerdings auch erst seit dem 7. Oktober 2023.
In Österreich ist die Gewalt gegen Frauen extrem. Österreich ist das Land der Femizide: Warum ist Österreich ein so tödliches Pflaster für Frauen?
Ich kann Sie trösten. Im Patriarchat ist die Ermordung von Frauen, weil sie Frauen sind, leider ein universelles Problem, kein österreichisches. Gut, dass das endlich auch benannt wird. Früher gab es noch nicht einmal ein Wort dafür. Und die genannten Zahlen sind ja außerdem nur die Spitze des Eisberges. Die Dunkelziffern sind noch viel höher.
Sie sind eine Gegnerin des neuen Selbstbestimmungsgesetzes in Deutschland, mit dem jeder Mensch Geschlecht und Vornamen selbst festlegen oder ändern kann. Wieso finden Sie das nicht gut?
Weil das biologische Geschlecht eine unabänderliche Tatsache ist, die – wie wir es gerade auch in diesem Interview thematisieren – eine lebensentscheidende Rolle für Frauen spielen kann. In Ländern wie Afghanistan kann sie sogar das Leben kosten. Da ist kein Entkommen. Es gibt zwei biologische Geschlechter, aber es gibt viele Geschlechterrollen. Und die beiden, biologisches Geschlecht und soziale Geschlechterrolle, werden in dieser Debatte permanent verwechselt: Es gibt allerdings eine Minderheit, die eine so tiefe Verstörung mit dem eigenen Körper hat, dass es richtig ist, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr gefühltes Geschlecht personenrechtlich anzupassen. Dafür setze ich mich seit vierzig Jahren ein. Aber es ist falsch – und rückständig! -, diesen Tausenden jungen Mädchen, die jetzt in der ganzen westlichen Welt bei den Therapeuten anbranden – weil sie im Rosatüllgefängnis der neuen Weiblichkeit ersticken und „männliche“ Freiheiten wollen -, den Wechsel in eine männliche Identität inklusive schwer gesundheitsgefährdender Hormone und Körperverstümmelungen als Lösung anzubieten. Ohne Rückfrage. Ohne Therapieangebot. Das ist unverantwortlich. Wir sollten diesen Mädchen lieber sagen, dass sie freie Menschen sein können, unabhängig vom biologischen Geschlecht.
Das Gespräch führte Manuela Tschida-Swoboda, es erschien am 18. Februar 2024 in der Kleinen Zeitung in Graz.