Islam – Merkel oder Seehofer?
Über vier Millionen Menschen in Deutschland zählen heute zum muslimischen Kulturkreis. Und sie gehören selbstverständlich zu Deutschland! Egal, ob gläubig, halbgläubig oder ungläubig. Doch ganz wie bei den Christen oder Juden ist es nicht ihr Glaube, der sie umfassend definiert, sondern sind es Geschichte, Traditionen und Sitten ihrer Glaubensherkunft. Der andere Glaube ist nicht das Problem.
So kann ich mich nicht erinnern, dass in den 1960er oder 1970er Jahren der Glaube von Türken in Deutschland jemals überhaupt Thema gewesen wäre. Unterschiede gab es nur in den Gebräuchen oder bei der sozialen Lage. Den zugezogenen türkischen „Gastarbeitern“ ging es in der Regel ökonomisch weniger gut als den deutschen Einheimischen; ihre Töchter und Ehefrauen waren weniger frei. Deutsche, die in Vierteln wohnten, in denen nun die türkischen Familien auftauchten, klagten schon mal über laute „fremde“ Musik, die aus den Fenstern schallte, oder über „den Knoblauchgeruch“. Der Glaube der Zugezogenen aber war kein Thema, so etwas wie öffentliches Beten schon gar nicht.
Es geht nicht um den Unterschied zwischen den Religionen
Das öffentliche Beten ist bei normal Gläubigen – also nicht fanatisierten, ideologisierten – Muslimen bis heute nicht üblich. In „meiner algerischen Familie“, über die ich gerade ein Buch veröffentlicht habe, und mit der ich seit 25 Jahren befreundet bin, habe ich zuletzt im Frühling 2017 wochenlang gelebt. Von den drei Generationen der Großfamilie sind die meisten gläubig, manche Ramadan-Muslime und einige wenige ungläubig. Für die Gläubigen ist es Pflicht, fünf Mal am Tag zu beten. Ich aber habe in all den Wochen nicht einmal jemanden beten sehen. Dazu gingen die Frommen diskret in ein Nebenzimmer. „Das Gebet ist etwas sehr Intimes für uns“, erklärten sie mir. „Es ist ein Dialog zwischen uns und Allah.“
Ebenso das Kopftuch. Mir sind in Algerien halbfromme Frauen begegnet, die Kopftuch tragen, und ganz fromme, die nie ein Kopftuch getragen haben. Für viele ist das Kopftuch „ein Zeichen der Unterdrückung“ – wie eine der jüngeren Frauen mir erklärte. Sie hat ohne Kopftuch sogar die sogenannten „Schwarzen Jahre“ erlebt, besser: überlebt.
In diesen „Schwarzen Jahren“, den 1990er Jahren, haben fanatisierte Islamisten versucht, aus Algerien einen Gottesstaat zu machen. Als sie daran gehindert wurden, gingen sie in den Untergrund und zettelten einen Bürgerkrieg an, an dessen Ende über 200.000 Tote zu beklagen waren. Die Algerier haben diese „syrischen Verhältnisse“, wie sie sagen, irgendwie überlebt. Aber nur ganz knapp. Und tief traumatisiert.
Den Islam vom Islamismus befreien!
Doch bis heute vergessen die Algerier nicht, dass Deutschland und ganz Europa weggesehen hat in den Schwarzen Jahren und nur mitgefühlt mit den „armen Islamisten“. Denen hat Deutschland Asyl gewährt, auch wenn sie für hunderte oder gar tausende Morde verantwortlich waren. Die Opfer der Islamisten aber erhielten kein Asyl, denn ihnen „drohte ja in ihrer Heimat nicht die Todesstrafe“. Zumindest nicht staatlicherseits.
Womit wir beim Islamismus wären. Denn um den geht es hier, um nichts anderes. Es geht nicht um unterschiedliche „Religionen“, wie Kanzlerin Merkel immer wieder betont, sondern um unterschiedliche Weltsichten: hie Demokratie – da Gottesstaat. Der Islamismus missbraucht den Islam für seine politische Machtstrategie. Eine Demokratie müsste also an der Seite der aufgeklärten, friedlichen MuslimInnen stehen. Ihnen müssten wir behilflich sein, den Islam vom Islamismus zu befreien.
Der ideologische Missbrauch von Religionen ist keine muslimische Spezialität. Wir wissen das aus unserer Geschichte. Und bis heute gibt es auch innerhalb des Christentums solche Strömungen, zum Beispiel die der Evangelikalen. Sie waren in Amerika 2016 der ausschlaggebende Faktor für die Wahl von Trump. Auch ihr Credo ist der fundamentale Unterschied zwischen den Geschlechtern und die Unterwerfung von Gesellschaft und Staat unter ihre „Gottesgesetze“. Die Evangelikalen sind heute unter anderem in Schwarzafrika und Osteuropa in der Offensive. Sie werden auch in Westeuropa nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Auch die Evangelikalen sind radikale Fundamentalisten
Aber hier und jetzt geht es um die Islamisten. Bei ihnen ist der physische Terror nur die Spitze des Eisberges. Darunter verbirgt sich der psychische Terror. Dieser Islamismus ist mit der Machtergreifung von Ayatollah Khomeini in Iran 1979 wieder erwacht und hat seinen Siegeszug in die Welt angetreten: über Afghanistan, Tschetschenien und Algerien bis hin ins Innerste der europäischen Metropolen. Die Brutstätten des Islamismus sind orthodoxe bis radikale Moscheen und Islamverbände. In beiden sprechen so manche selbsternannte Repräsentanten oder vom Ausland bezahlte Imame eine doppelte Sprache: auf Deutsch scheinbar aufgeklärt und tolerant – auf Arabisch scharia-gläubig und zutiefst intolerant.
Doch es sind leider vor allem diese Kräfte, mit denen Kirchen und Politik in Deutschland seit Jahrzehnten einen „Dialog“ führen. Einen falschen Dialog, geprägt von einer falschen Toleranz. Statt mit der Mehrheit der aufgeklärten MuslimInnen das Gespräch zu suchen, und Strategien zu entwickeln, sprechen sie mit der Minderheit der orthodoxen bis islamistischen Ideologen.
Und das geht anscheinend immer so weiter. Bis heute redet Kanzlerin Merkel von einem „Zusammenleben der Religionen“ und kündigt Innenminister Seehofer die Fortsetzung eines „Dialoges“ mit den Kräften der Islamkonferenz an. Ja, ist es Merkel eigentlich entgangen, dass die Mehrheit der Menschen noch nie über Glaubensfragen gerechtet hat, sondern nur über die fatalen Folgen des radikalen Islam klagt? Ihm zufolge sollen zum Beispiel Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen und weibliche Körper haram, Sünde sein und müssen deswegen verhüllt werden. Und hat Seehofer in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten nicht die scharfe Kritik vernommen, die demokratische MuslimInnen an der von den Islamverbänden beherrschten Islamkonferenz geübt haben?
Der Terror ist nur die Spitze des Eisberges
Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen? Solange, bis die AfD die Mehrheit bei den Wahlen hat?!
Studien belegen: Die Radikalisierung der in Deutschland lebenden Musliminnen nimmt zu. Grund: Wir, die DemokratInnen, haben der oft vom Ausland gesteuerten Agitation der Islamisten nicht genug entgegengesetzt. So rutschen gerade die jungen Muslime in die Fänge der fundamentalistischen Verführer.
Wann werden die endlich lauter werdenden Stimmen aufgeklärter MuslimInnen, gläubig oder nicht, von der Politik ernst genommen? Wann endlich suchen wir den Schulterschluss mit ihnen – statt mit Orthodoxen und Islamisten?!
Sie, die nicht-islamistischen MuslimInnen, sind schließlich die ersten Opfer der Fanatiker, in den muslimischen Ländern wie im deutschen Alltag. Ihnen müssen wir beistehen, statt den scharia-gläubigen Radikalen nach dem Munde zu reden. Für sie – und uns! – müssen wir gegen diese Feinde der Demokratie unsere so hart errungenen, unveräußerlichen Werte sichern: Meinungsfreiheit! Rechtsstaatlichkeit! Und die Gleichberechtigung der Geschlechter!
Alice Schwarzer
Der hier leicht ergänzte Text erschien zuerst in der Welt.