Alice Schwarzer in anderen Medien

Immer noch: Kein Abtreibungsrecht!

Alice Schwarzer auf dem Kölner Bayenturm. - Foto: Carolin Windel/stern
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stern Frau Schwarzer, vor 50 Jahren haben Sie und der stern gemeinsam Geschichte geschrieben. Anfang Juni 1971 erschien der legendäre Titel: „Wir haben abgetrieben!“ Fast wäre es auf den letzten Metern gescheitert.
Alice Schwarzer Ja, und zwar am Chefredakteur des stern. Ich hatte die Aktion vorbereitet, drei Wochen lang Unterschriften gesammelt, in denen sich Frauen bezichtigten, abgetrieben zu haben. Ein ungeheuer riskanter Schritt für die Frauen. Die Absprache war, dass der stern einen politischen Titel daraus macht, mit vielen Frauen auf dem Cover, und ich den Text schreibe.

Und Henri Nannen wollte nicht?
Nein. Jedenfalls so nicht. Ich war am Tag des Redaktionsschlusses extra aus Paris nach Hamburg gereist, um zu schauen, ob alles gut läuft. Die 374 unterschriebenen Manifeste hatte ich in einer etwas streng aussehenden, schwarzen Mappe unter den Arm geklemmt. Das war mein Faustpfand. Ohne diese Erklärungen ging es ja nicht. Ich wollte mir das Titelbild angucken, da hieß es plötzlich, Nannen wolle unbedingt nur Romy auf den Titel nehmen.

Romy Schneider.
Damit wäre  die ganze Aktion kaputt gewesen, es wäre eine Star-Geschichte geworden, eine Skandal-Geschichte: Sissi treibt ab! Die politische Botschaft wäre auf der Strecke geblieben. Ich sagte also: Bitte? Das war aber anders abgemacht!

Was sagte Nannen?
Ich bin gar nicht in sein Büro vorgedrungen. Ich stand auf dem Flur mit dem Ressortleiter Winfried Maaß. Es war schon nach Mitternacht. Es war ein bisschen wie im Western, wo es zum Showdown mit rauchenden Colts kommt. Nannen, der Feigling, tobte hinter der verschlossenen Tür – „das verrückte Weib!“ Aber das „verrückte Weib“ wich in dieser Nacht keinen Millimeter zurück. Nannen musste nachgeben – und so hat es diesen stern-Titel gegeben, der Geschichte gemacht hat.

Der Titel und der Artikel im Heft gingen dann so in Druck, wie Sie das wollten. „Dafür bin ich dann von manchen von Herzen gehasst worden“, haben Sie später mal gesagt. Auch von Nannen?
Vermutlich. Ich hatte davor ja gelegentlich für den stern geschrieben, danach wurde ich nie mehr angesprochen.

Warum sind Sie mit Ihrer Idee damals überhaupt zum stern gegangen?
Es gab eigentlich keine Alternative. Der stern hatte die nötige Breitenwirkung, es wurde von Politikern genauso gelesen wie von der Hausfrau von nebenan. Ich wollte ja keine Intellektuellenaktion machen, ich wollte eine breite, populäre Sache. Es wurde dann ja auch eine Geschichte, mit dem sich jede Frau identifizieren konnte.

Hatten Sie mit einer solchen Wucht gerechnet?
Dass es ein Riesenskandal werden würde, war schon klar. Auch die Veröffentlichung im Nouvel Observateur hatte ja weltweit Aufsehen erregt. Es wurde dann auch der Startschuss für die Frauenbewegung. Simone de Beauvoir hatte das Manifest im Rückblick „die Geburt eines Feminismus für alle“ genannt.

Sie selbst haben nie abgetrieben – weswegen war Ihnen die Aktion dennoch so wichtig?
Das Thema der ungewollten Schwangerschaft hat mich als uneheliches Kind geradezu obsessiv beschäftigt. Und ich kannte wie fast jede Frau die Angst davor. Ich selber hätte nicht abgetrieben. Nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Angst. Es gab damals dieses beständige Raunen, praktisch jede Frau kannte irgendeine, die bei einer Engelmacherin war und fast verblutet wäre – oder verblutet ist. Die Abtreibungsfrage war für mich als bewusste Frau ganz zentral.

Wie haben Sie die 373 Frauen gefunden, die mit Ihnen das Manifest unterzeichnet haben?
Es hat knapp vier Wochen gedauert. Ich bin nach Deutschland gefahren, in dem Glauben, es gäbe so wie in Paris eine Frauenbewegung. War aber nicht so. Es gab nur ein paar Frauengruppen an den Universitäten, alle tief versunken in Marx-Schulungen. Die Studentinnen hatten `68 zwar schon mal `ne Tomate geworfen. Sie ärgerten sich vor allem über ihre Genossen, die sie die Manifeste abtippen oder die Beine breit machen ließen. Aber auch für sie war die Klassenfrage der Hauptwiderspruch und die Frauenfrage nur ein Nebenwiderspruch.

Sie liefen also auf?
Die haben alle abgewunken. Zunächst. Zu kleinbürgerlich, zu reformistisch, zu wenig revolutionär.

Sie haben sich nicht entmutigen lassen.
Richtig. Eines dieser verstreuten Grüppchen habe ich irgendwann gesprengt. Ich weiß noch, wie eine Frau aufgestanden ist und gesagt hat: Ich bin die ganzen Marx-Schulungen leid, ich will auch mal was machen, das mit meinem Leben zu tun hat! Das war der Anfang. Drei Frauengruppen - in Frankfurt, Berlin und München - haben dann die Hälfte der Unterschriften gesammelt, darunter übrigens die von Senta Berger und Veruschka von Lehndorff. Der Rest kam nach dem Schneeballprinzip: die Freundin, die Nachbarin, die Kollegin, die Tochter, die Mutter.

Es ging also doch recht schnell.
Die Zeit war reif. Es gab ja eine Wahnsinnskluft zwischen dem noch bestehenden Gesetz, das abtreibende Frauen mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bedrohte, und dem Mehrheitsgefühl in der Bevölkerung. Damals wurde in der Bundesrepublik die Zahl der Abtreibungen auf eine Million geschätzt, pro Jahr. Es kamen aber 1969 nur 296 vor Gericht, und die auch nur zufällig. Das heißt: Es gab ein Gesetz, das nicht angewandt wurde. Es schwebte aber wie ein Damoklesschwert über den Frauen.

Sie hatten 1971 „nur“ Frauen dabei, die sich selbst bezichtigten – aber keine Ärztinnen oder Ärzte. War die Zeit noch nicht reif?
Nein, das kam erst drei Jahre später, die Aktion habe ich dann mit dem Spiegel gemacht. 1971 hatten die Frauen Vorrang. Wir haben die Türe eingetreten. Die Ärzteaktion war noch schwerer. Ich seh´ mich noch, wie ich 1974 mit einer Freundin durch den Berliner Winter stapfe, von Praxis zu Praxis, von Krankenhaus zu Krankenhaus. Nicht schön. Die Angst. Das Zögern. Viele sagten: Ja, ihr habt Recht, aber ich habe Familie, ich riskiere zu viel. Was ja stimmte. Als dann die allererste Zusage von einer Äzrtin kam, war der Damm gebrochen. Doch die Ärzte werden ja bis heute bedroht.

Hatten Sie sich eine Marke gesetzt, wie viele Frauen Sie unbedingt brauchen?
Ja, über 300.

Und gehofft hatten Sie auf?
300, das reichte mir. Und nachdem das Heft erschienen war, ging es ja ganz schnell. Dann haben die Frauen sich zu Tausenden, ja Zehntausenden angeschlossen.

Warum haben Sie damals verschleiert, dass Sie die Initiatorin waren?
Ich habe mich bei dieser Aktion weniger als Journalisten begriffen, sondern als Feministin. Es sollte nicht aussehen wie eine Idee von Alice Schwarzer, sondern als kollektive Aktion begriffen werden. Was es dann ja auch war.

Hatten Sie einkalkuliert, dass Sie im schlimmsten Fall im Knast hätten landen können?
Nein, nein. Ich bin eher angstfrei. Außerdem konnte ich schon einschätzen, dass man es sich nicht erlauben konnte, mich ins Gefängnis zu stecken.

Gab es unter den anderen 373 Frauen, die es im Nachhinein bereut haben?
Ich kenne keine. Aber Angst hatten einige schon. Verständlicherweise. Denen habe ich gesagt: Ihr seid geschützt, weil wir so viele sind. Deshalb bin ich gegenüber Nannen auch so entschieden aufgetreten. Ich konnte die Frauen doch nicht im Regen stehen lassen.

Es drohten ja nicht nur juristische Konsequenzen.
Stimmt. Von diesen Frauen wusste keine: Sprechen die Nachbarn noch mit mir? Lässt mein Mann sich scheiden? Was sagt meine Schwiegermutter? Verliere ich meine Stelle? Verliere ich meinen Ruf? Einer der Frauen aus München, die zwei harte Abtreibungen hinter sich hatte, hat der Mann die Veröffentlichung so übelgenommen, dass er sie verlassen hat.

War die Aktion die Geburtsstunde des Feminismus in Deutschland oder ist das zu hoch gegriffen?
Nein, das ist keineswegs zu hoch gegriffen. Der stern-Titel war der Funke, das Pulverfass war schon da. Die Frauenbewegungen in Holland oder Amerika waren ja schon öffentlich. Deutschland ist in Sachen Emanzipation eher ein Schlusslicht. Bis heute. Aber dann fingen  die Frauen auch hier an zu reden. Die hörten gar nicht mehr auf: im Büro, an der Uni, beim Friseur, im Waschsalon, im Taxi. Diese Aktion hat die Dämme gebrochen. Die Frauen bekamen eine Stimme. Bis dahin waren sie stumm gewesen. Nun wussten sie: Me too. Ja, ich auch. Ich bin nicht alleine. Wir sind viele.

Auf einer Skala von eins bis zehn – wie stolz waren Sie damals?
Volle zehn. Uneingeschränkt.

Und heute, in der Rückschau?
Zehn! Das ist eine der sinnvollsten Sache, die ich je gemacht habe. Die Journalistin hat gewusst, wie. Und die Feministin hat es getan.

Sie werden ja gerne als Mutter der Frauenbewegung in Deutschland bezeichnet. Fühlen Sie sich auch so?
Dass man Frauen immer in dieses Mutter-Schema presst… Ich war eher die große Schwester, die einen Vorsprung hatte durch ihre Erfahrungen in Frankreich. Und ich gehöre seit fünfzig Jahren zu den Frauen, die denkend, schreibend und handelnd die Sache vorantreiben. Ich war und bin besonders präsent, durch meine Bücher, durch die EMMA und weil ich professionell im Fernsehen auftreten kann. Aber die Frauenbewegung hätte es in Deutschland selbstverständlich irgendwann auch ohne mich gegeben. Wie in der ganzen westlichen Welt. Und sie war von Anfang an so vielfältig wie dieser stern-Titel.

Und schnell zerstritten.
Es gab viele Wege, ja. Die unterschiedlichsten Frauen haben auf unterschiedliche Art was riskiert und vorangebracht. Und ich habe damals den stern benutzt, so wie die mich benutzt haben. Das war eine Win-win-Situation. Der stern hatte eine sensationelle Geschichte, und ich hatte ein maximales Forum für den Kampf um das Recht auf Abtreibung. Nannen waren die Frauen vermutlich schietegal, anderen allerdings nicht. Soll ich Ihnen eine der schönsten Geschichten aus der Branche erzählen, die ich je erlebt habe?

Unbedingt!
Selbst die wenigen legalen Abtreibungen damals wurden oft strafend für die Frauen durchgeführt, oft ohne Betäubung, Ausschabungen, manchmal auch missbraucht vom Arzt. Dabei gab es schon die sogenannte Karma-Methode aus China, Absaugung bis zum dritten Monat. Zehn Minuten ohne Narkose, schmerzfrei. Für meinen Beitrag in „Panorama“ darüber, der im letzten Augenblick von den ARD-Intendanten verboten wurde, hatte sich 1974 eine Frau für eine provokant öffentlich verkündete Abtreibung zur Verfügung gestellt, mit der ich die Methode bekannt machen wollte. Katholisch, zwei Kinder, aus einer Kleinstadt, der eigene Mann wusste nicht, dass sie abtreibt. Sie trug Brille, Perücke, niemand wusste, wer sie ist. Alle Medien wollten danach die Frau sprechen. Auch der stern hat mich gefragt, ich habe den Kontakt vermittelt.

Und dann?
Die Bedingung war, dass sie nicht zu erkennen sein dürfe. Die stern-Kollegin, die sie interviewte, hat sie trotzdem dazu gebracht, dass sie sich fotografieren ließ. Ich war verzweifelt, aber ich konnte die Frau ja nicht bevormunden. Es wäre ein Desaster geworden. Zuhause habe ich geheult. Am nächsten Tag ruft Cornelius Meffert, der Fotograf, mich an: „Frau Schwarzer, ich wollte Ihnen nur sagen: Es ist nur Schwarz auf dem Film. Das ist mir noch nie passiert. Es wird kein Foto von der Frau geben.“ Ich krieg jetzt noch Gänsehaut, wenn ich das erzähle.

1978 verklagten Sie den stern dann, unter anderem mit Inge Meysel, wegen seiner sexistischen Titel-Bilder.
Die waren oft unheimlich plump. Fahrradsattel im Hintern oder Ketten an den Füßen der nackten Grace Jones und so. Es reichte! Wir wussten von Anfang an, wir werden diesen Prozess verlieren. Es gab gegen Sexismus ja kein Gesetz. Aber wir wollten ein Zeichen setzen. Wir haben damit eine Sexismus-Debatte ausgelöst, die die Nation erschütterte - und letztendlich bis heute geht. Moralische haben wir diesen Prozess gewonnen. 1978 hat der Hamburger Richter Engelschall gesagt: „Ich hoffe, es gibt so ein Gesetz gegen frauenfeindliche, sexistische Bilder in 20 Jahren.“ Das war vor 44 Jahren. Es gibt das Gesetz bis heute nicht. Der stern-Klage hat sich zehn Jahre später unsere PorNo-Kampagne angeschlossen.

Warum eigentlich immer wir?
Weil wir gesagt haben: Der stern ist doch eigentlich ein hochpolitisches, links-liberales Blatt, verdammt. Warum behandelt er dann nicht auch uns Frauen anständig?

Würden Ihnen heute nicht zwei ältere weiße Männer gegenüber sitzen, sondern zwei junge Feministinnen, würden die sie mutmaßlich ordentlich in die Mangel nehmen – als frauenpolitisches Relikt, das immer noch die Schlachten der Vergangenheit schlägt. Was würden Sie denen sagen?
Vergangenheit? 50 Jahre Emanzipationskampf sind ein Nichts gegen 5000 Jahre Patriarchat! Ich würde denensagen: Guckt mal über eure Cappuccino-Tasse hinaus, was in der Welt los ist, welche dramatische Formen die Unterdrückung der Frauen zum Beispiel in islamischen Ländern angenommen hat. Die Rechte, die wir Pionierinnen erstritten haben, sind keineswegs garantiert! Frauen haben in Deutschland immer noch nicht das Recht, abzutreiben, uns wird nur die Gnade gewährt – so frau ein Gutachten vorlegt. Der Kern des Paragrafen 218 ist erhalten geblieben: die Bevormundung der Frauen. Alte Probleme existieren weiter und neue sind dazugekommen. Stichwort: Schlankheitswahn! Stichwort: Schönheitswahn! Stichwort: Sexuelle Gewalt und MeToo. Stichwort: Gender Pay Gap und Quoten. Stichwort: Jugendwahn! Auch die 25-Jährige von heute ist irgendwann 40 – und dann sieht das schon anders aus. Diese jungen Feministinnen täten gut daran, ihre eigene Geschichte nicht zu verachten und damit wieder bei Null anzufangen - sondern sich stattdessen stolz auf die Schultern der Pionierinnen zu stellen, um weiterzublicken.

Alice, der Kampf geht weiter?
Aber und wie!

Das Gespräch führten Andreas Hoidn-Borchers und Axel Vornbäumen. Es erschien am 2.6.2021 im stern.

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