Tabatabai: Nasrins mutiges Leben

Schauspielerin Jasmin Tabatabai hält die Laudation für die Preisträgerin Nasrin Sotoudeh.
Artikel teilen

Sehr geehrter Regierender Bürgermeister Kai Wegner, liebe Alice Schwarzer, sehr verehrte Damen und Herren,

am 29. Oktober wurde Nasrin Sotudeh gemeinsam mit 21 weiteren Frauen und 15 Männern auf der Beerdigung von Armita Geravand verhaftet.

Die Frau, der zu Ehren wir uns hier versammelt haben, Trägerin des Alternativen Nobelpreises 2020, des Sakharow Preises des Europaparlaments 2012, des Menschenrechtspreises des Deutschen Richterbundes 2020 – um nur einige ihrer Auszeichnungen zu nennen – verdiente Menschenrechtsanwältin, Mutter zweier Kinder, wurde zahlreichen Zeugenaussagen zufolge von Regimeschergen zusammengeschlagen, wir wissen mittlerweile, dass auch Elektroschlagstöcke benutzt wurden – so brutal, dass Nasrins Brille zerbrach. 

Ihr Vergehen: Sie hatte unverschleiert die Beerdigung eines 16-jährigen Mädchens besucht, das am 1. Oktober in der Teheraner Metro wegen Nichttragens des Schleiers ins Koma geprügelt und nach einigen Wochen gestorben war.

Nasrin Sotudeh wurde anschließend in das Gharchak Gefängnis gebracht, welches vom Center of Human Rights of Iran als „Kessel von Missbrauch und Gewalttätigkeit“ bezeichnet wird. Seitdem befindet sie sich dort in der sogenannten „Quarantänestation“ - einem Saal ohne Schlafstätten und Hygieneeinrichtungen, in den alle Neuankömmlinge gepfercht werden und unter entwürdigenden Bedingungen warten müssen, bis man sie in Zellen verlegt.

Die Preisverleihung des Heldinnenawards 2023 im Wappensaal des Roten Rathauses statt, vorne Kai Wegner, Regierender Bürgermeister. - Foto: Bettina Flitner
Preisverleihung des HeldinnenAwards im Roten Rathaus, vorne Kai Wegner, Regierender Bürgermeister. - Foto: Bettina Flitner

Nasrin Sotudeh ging sofort aus Protest gegen die Gewalt bei ihrer Verhaftung, in den Medikamentenstreik. Sie benötigt laut ihrem Mann Medikamente gegen Herz- und Nierenprobleme und wegen ihres erhöhten Cholesterinspiegels. Es ist schwierig, Informationen über ihren jetzigen Gesundheitszustand zu erlangen. Auf jeden Fall leidet sie – aufgrund der Haftbedingungen und der Drangsalierung mit Elektroschlagstöcken – unter massiven akuten Herzproblemen, ohne dass ihr eine adäquate medizinische Versorgung zugestanden wird.

Es ist nicht Nasrin Sotudehs erste Verhaftung. Tatsächlich befand sie sich gerade auf Hafturlaub – eben aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme.

Trotz aller Drohungen, sich in diesem Hafturlaub ruhig zu verhalten, solidarisierte sie sich öffentlich mit der „Frau Leben Freiheit“- Bewegung. Erst einen Tag vor Armita Geravands Beerdigung schickte Nasrin ein Video an Alice Schwarzer, in dem sie sich selbst filmt, wie sie unverschleiert auf Teherans Straßen geht. Nasrin Sotudeh wusste, dass man sie deswegen wahrscheinlich wieder einsperren würde. Ihr Mann berichtet, dass sie an diesem Tag ihre Gefängnistasche packte und ins Auto legte. In dem Video hören wir sie sagen: „Wir sind hier. Überall. Auf allen unseren Straßen und Kreuzungen. Wir sind hier um unsere Jugend zu unterstützen. Junge Frauen und Männer sollten das Recht haben sich in der Öffentlichkeit zu bewegen – so, wie immer sie es wollen.“

Dem Regime ist sie schon lange ein Dorn im Auge.

Nasrin Sotoudeh wurde überflutet mit Anfragen zur Verteidigung Verhafteter

1963 in Teheran geboren, schloss sie ihr Jurastudium 1995 ab. Schnell machte sie sich einen Namen als unerschrockene Anwältin, die sich vor allem für Kinder und Frauenrechte einsetzte und die die Fälle übernahm, vor denen sich andere Anwälte scheuten. Es gelang Nasrin Sotudeh in vielen Fällen, die Todesstrafe bei Minderjährigen in eine lebenslange Haft zu verwandeln.

2009, nach der Präsidentschaftswahl, kam es im Iran zu schweren Unruhen aufgrund des offensichtlichen Wahlbetrugs zu Gunsten des Hardliners Mahmud Ahmadinejad. Millionen Menschen demonstrierten auf den Straßen und riefen: „Wo ist meine Stimme?“ Das Regime reagierte wie immer - mit roher Gewalt. Das Internet und die SMS-Dienste wurden abgestellt, zahllose Protestierende wurden erschossen, Tausende verschwanden in Foltergefängnissen.

Nasrin Sotoudeh wurde regelrecht überflutet mit Anfragen zur Verteidigung Verhafteter. Sie übernahm so viele wie sie konnte. Unermüdlich setzte sie sich für ihre Mandanten ein, obwohl sie wusste, dass es für sie selbst gefährlich werden würde. Denn das Regime sperrt Anwälte ein, die es wagen, Dissidenten und Regimekritiker zu verteidigen.

Alice Schwarzer, Jasmin Tabatabai und Mansoureh Shojaee: Frau! Leben! Freiheit! - Foto: Bettina Flitner
Alice Schwarzer, Jasmin Tabatabai und Mansoureh Shojaee: Frau! Leben! Freiheit! - Foto: Bettina Flitner

Nasrin übernahm auch die Verteidigung ihrer Kollegin Shirin Ebadi, der ersten iranischen Friedensnobelpreisträgerin 2003. In dem Prozess, den die Islamische Republik gegen Ebadi vor dem Revolutionsgericht in Teheran anstrebte. Mit Shirin Ebadi hatte sie 2002 das „Zentrum für Menschenrechte“ gegründet. Gemeinsam mit anderen Frauen, darunter die aktuelle iranische Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi, hatte das Menschenrechts-Zentrum unter anderem die sehr erfolgreiche Kampagne „Eine Million Unterschriften“ ins Leben gerufen. Diese hatte nichts Geringeres zum Ziel, als die Gleichstellung der Geschlechter durch Gesetzesänderungen auf der Basis von Volksabstimmungen. Volksabstimmungen sind in der iranischen Verfassung legitim.

Mit Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi gründete sie 2002 das "Zentrum für Menschenrechte"

Denn eines ist bei Nasrin Sotudeh sehr wichtig zu verstehen: Was sie antreibt, ist ihr unerschütterliche Glauben an Recht und Gesetz. Sie sieht sich selbst nicht als Revolutionärin oder Aktivistin, sie ist Rechtsanwältin aus Überzeugung.

So hat sie zum Beispiel nie zum Sturz des Regimes aufgerufen, sie kennt nur das Recht des iranischen Gesetzbuches der Islamischen Republik, an das sich der iranische Staat selbst allerdings nicht hält. Und sie erinnert ihn, den Staat und seine Vertreter, an die Versprechen von Freiheit und Gleichheit, die sie den Menschen bei der Gründung der Islamischen Republik gegeben hatten.

In einem freien Land wäre Nasrin Sotudeh mit ihrer Liebe zu Recht und Gesetz, mit ihrem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn vielleicht Richterin geworden. Eine andere Regierung wäre vermutlich so klug gewesen, die ausgestreckte Hand jener Reformisten, die das Zusammenleben mit friedlichen Mitteln, auf Basis der bestehenden Gesetze, zu verbessern suchen, zu ergreifen. Auch wenn diese Gesetze für Frauen oft ungerecht und unzulänglich sind.

Hier aber kam es wie befürchtet: Nasrin Sotudeh wurde wegen ihrer Rolle als Anwältin von Shirin Ebadi und anderen Fällen im September 2010 erstmals verhaftet.

Zweieinhalb Monate war sie in Einzelhaft. Die von Narges Mohammadi als „Weiße Folter“ bezeichnete Isolationshaft in weißen Räumen ohne jede sinnliche Wahrnehmungsmöglichkeit wird von denen, die sie erleiden mussten als schlimmer bezeichnet als jede körperliche Folter. Als grausamste Art der Langzeitfolter. Sie zerstöre einen von innen. 

Zweieinhalb Monate war sie in Einzelhaft,    der grausamsten Art der Langzeitfolter

Das Urteil später: Drei Jahre Haft wegen „Gefährdung der Staatssicherheit.“ Ihre Tochter ist zu diesem Zeitpunkt 10, ihr Sohn 3 Jahre alt.

Die Briefe, die sie in dieser Zeit ihren Kindern aus dem Gefängnis geschrieben hat, brechen einem das Herz. Wie erklärt man seinem dreijährigen Sohn, warum man als Mutter in seinem Leben fehlt? Wie der älteren Tochter, dass der Preis, den man für seine Ideale zahlt, bedeutet, dass man ihren Geburtstag verpasst, ihre Einschulung?

In einem Fernsehinterview später sagt sie: „Unsere Kinder sollten kein Schweigen von uns erben. Alle Gruppen, alle Menschen sollten frei von Angst und Bedrohung sein. Der einzige Weg unsere Rechte zu erlangen und in unserer Gesellschaft Ruhe, Frieden und Gerechtigkeit einkehren zu lassen, besteht darin, die Rechte beharrlich, mit gewaltfreien Methoden einzufordern. Ohne Opfer hat noch keine Gesellschaft etwas erreicht. Es ist wichtig, weiterzumachen.“

Insgesamt fünf Monate befand sie sich im Hungerstreik wegen schlechter Haftbedingungen ALLER Gefangener. Aus dieser Zeit stammen auch ihre großen gesundheitlichen Probleme, mit denen sie bis heute zu tun hat.

Zwei Tage nach ihrer Entlassung beginnt Nasrin Sotudeh einen Sitzstreik vor dem Justizpalast, weil man ihr droht, ihr die Anwaltszulassung zu entziehen. Achteinhalb Monate streikt sie. Hält Schilder hoch. Darauf steht: „Recht des Freien Denkens“, „Recht auf Dissens, des Andersdenkens“, „Recht auf Arbeit“ oder auf „Gleichbehandlung der Geschlechter“.

Zwei Tage nach ihrer Entlassung beginnt sie einen Sitzstreik vor dem Justizpalast

Später klagt sie gegen die Zwangsverschleierung von Frauen, sie sieht dafür keine rechtliche Grundlage im iranischen Gesetzbuch. Unterstützt wird sie von vielen Männern und Frauen der iranischen Zivilgesellschaft.

Im letzten Jahr haben wir viel von iranischen Frauen gehört. Shirin Ebadi, Narges Mohammadi, Sepideh Gholian, Nahid Taghavi, um nur einige zu nennen. Sie sind auf der ganzen Welt zum Symbol für Mut und Resilienz geworden.

Doch lassen Sie mich auch eine Lanze für die iranischen Männer brechen. Für Reza Khandan – Nasrins Ehemann – der unerschütterlich an ihrer Seite steht. In all den Jahren. Der ihren Kampf unterstützt. Der selber zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde – eben weil er sich von ihr nicht abgewendet hat – und trotzdem zu ihr steht.

Oder für Jafar Panahi, der weltberühmte Regisseur, dem ein 20-jähriges Berufsverbot auferlegt wurde. Und der Nasrin trotzdem in seinem undercover gedrehten Film „Taxi Teheran“ 2015 ein Denkmal setzte. 

Sie alle sind Teil dieser revolutionären Bewegung, die nicht erst mit Jina Mahsa Aminis Tod 2022 begonnen hat.

Lassen Sie mich auch eine Lanze für die solidarischen iranischen Männer brechen

2018 beginnt eine neue Protestbewegung. Eine junge Frau in Teheran nimmt ihren Schleier ab, bindet ihn an einen Stock, stellt sich auf der „Straße der Revolution“ auf einen Stromkasten und schwenkt ihn wie eine Fahne. Das Video geht viral. Viele andere Frauen schließen sich diesem Protest an und weigern sich den Schleier zu tragen.

Der Staat lässt sie verhaften und droht mit bis zu 10 Jahren Haft.

Nasrin Sotudeh vertritt drei von ihnen vor Gericht. Für sie geht es hier nicht - und es ging nie darum - um ein Stück Stoff. Es geht um viel mehr. Die Anwältin fragt: „Auf welcher Rechtsgrundlage basieren diese Strafen? Das ist eine wichtige Frage, die wir uns seit 40 Jahren stellen. Aber eine rechtliche Antwort haben wir nicht gefunden. Selbst wenn heute verkündet würde, dass alle Frauen ihre Hidjabs draußen abnehmen dürften, hätte das für uns keinen Wert. Solange sie bestimmen, dass der Hidjab obligatorisch ist oder eines fernen Tages abgenommen werden kann, hängen wir mit unseren Entscheidungen von ihnen ab. Erst wenn wir es aber schaffen, unsere Kleidung frei wählen zu können, wird es eine dauerhafte Freiheit sein. Deshalb ist mir ein solcher Fall wichtig.“ Es geht ihr um nichts Geringeres als das Recht auf Selbstbestimmung.

Ihre Verteidigung der „Mädchen von der Revolutionsstraße“ führt im Juni 2018 zu Nasrins zweiter Verhaftung. In Abwesenheit wird sie vor Gericht gestellt und verurteilt. „Spionage“ lautet die Anklage. Und „Schüren von Prostitution“.

Das Urteil ist niederschmetternd. 38,5 Jahre Haft und 148 Peitschenhiebe. Vor allem die martialische und sinnlose Verurteilung zu 148 Peitschenhieben empört, dient sie doch vor allen Dingen dazu, die Angeklagte zu demütigen.

Wir wissen heute nicht, wie es mit Nasrin Sotudeh weiter geht. Das Regime scheint die Situation eskalieren zu wollen. Das Regime versucht, Frauen wie Nasrin Sotudeh und Narges Mohammadi mit allen Mitteln zu brechen. Aber die Frauen weichen nicht zurück. Nasrin Sotudeh sagt: „Ich stehe nun am Scheideweg.“

Ich kann mich vor Nasrin Sotoudehs Standhaftigkeit nur verbeugen

Ich kann mich vor dieser Standhaftigkeit nur verbeugen. Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage wäre.

Umso dankbarer bin ich, dass du, liebe Alice, dich entschlossen hast mit deiner Stiftung Nasrin Sotudeh - und damit allen Frauen und Männern der Bewegung „Frauen! Leben! Freiheit!“ - den HeldinnenAward zu überreichen. Internationale Aufmerksamkeit ist für politische Gefangene im Iran oft die einzige Lebensversicherung.

Als Iranerin habe ich es nicht vergessen, dass du bereits 1979, kurz nach der Islamischen Revolution, nach Teheran geflogen bist und als eine der Ersten davor gewarnt hast, was auf die iranischen Frauen zukommen wird. Auch wenn du dir damit damals nicht viele Freunde gemacht hast.

Und ich möchte mich auch bei Ihnen bedanken, Herr Wegner, dass Sie uns als Regierender Bürgermeister die Möglichkeit geben, in diesem würdevollen Rahmen diese außergewöhnliche Frau und ihr Lebenswerk zu ehren. Besonders in diesen Tagen, wo die Aufmerksamkeit der Welt woanders liegt und wo man manchmal resignieren möchte, weil es scheint, als hätten die Fanatiker und der Hass die Oberhand gewonnen. 

"Nur aus Liebe zu einer besseren Welt kann ich es ertragen, von dir getrennt zu sein"

Wie kann ich besser schließen, als mit den Worten von Nasrin Sotudeh, die sie damals, während ihrer ersten Haftstrafe, ihrem dreijährigen Sohn aus dem Gefängnis schrieb: „Es ist meine Liebe zu dir, die das Gefängnis erträglich macht. Lieber Nima, bitte wisse, dass ich daran arbeite, eine bessere Welt für dich und deine Schwester zu schaffen. Deshalb hege ich keinen Groll gegen irgendjemanden. Nur aus Liebe zu einer besseren und friedlichen Welt kann ich es ertragen, von dir getrennt zu sein. Dieser Traum ist nicht unerreichbar. Ich bin zuversichtlich, dass wir ihn eines Tages erreichen werden. Die Gerechtigkeit wird kommen, auch wenn es scheint, als wäre alle Hoffnung vergebens. Sie wird kommen, wenn wir sie am wenigsten erwarten.“

In diesem Sinne und in der Hoffnung Nasrin Sotudeh diesen Preis eines Tages persönlich übergeben zu dürfen:

Zan Zendegi Azadi! Jin Jiyan Azadi! Frau Leben Freiheit!
 

Die komplette Aufzeichnung der Veranstaltung, 72 Minuten, steht auf youtube.
Weitere Informationen auf der Website der Alice-Schwarzer-Stiftung

Artikel teilen
 
Zur Startseite