Männlichkeitswahn: Köln bis Kobane
Die Nachricht, deutsche Rocker seien „in den Krieg gegen den IS“ gezogen, kam Mitte Oktober. „Andere labern nur, wir tun was“, sagten die Männer, darunter Deutsch-Kurden aus Köln, und posierten breitbeinig, tätowiert und mit geschulterter Kalaschnikow für die Fotografen.
Die gewaltbereiten Rocker, die ihr Geld in der Regel mit Zuhälterei und Erpressung verdienen, treten an gegen eine ganz ähnliche Sorte Mann: gegen islamistische Söldner, die sich inszenieren wie Kreuzritter, nur ist ihr Pferd im 21.Jahrhundert ein Panzer und ihre Lanze ein Maschinengewehr. Beide Spezies sind nicht gerade zimperlich, schon gar nicht mit Frauen. Sie vergewaltigen sie, verkaufen sie, versklaven sie – ob nun auf dem deutschen Prostitutionsmarkt oder auf den Märkten in Syrien oder im Irak.
Wir haben es beim „Islamischen Staat“ mit der kollektiven und tödlichen Eskalation eines Phänomens zu tun, das wissenschaftlich „Rekonstruktion von Männlichkeit“ genannt wird: die Wiederherstellung von „Männlichkeit“, von „echtem“ Mannsein, von der diese Sorte Mann in Zeiten der Verunsicherung träumt und die Balsam ist auf die Seelen entwurzelter, frauenloser, marodierender Jungmänner.
Diese Sorte Mann träumt in Zeiten der Verunsicherung von "echtem" Mannsein.
Das Phänomen ist nicht neu, sondern seit den achtziger Jahren zu beobachten. Einer der komplexen Gründe dafür sind die erstarkten Frauenrechte. Nirgendwo waren in vorislamistischer Zeit die unter dem Einfluss des Westens wie der Sowjetunion juristisch verbrieften Rechte der Frauen im Nahen Osten so groß wie in Iran, Irak, Syrien, Ägypten, Tunesien und Libyen – auch wenn die muslimischen Sitten hinterherhinkten. Ausgerechnet in diesen Ländern sind die Flammen des Männlichkeitswahns zuerst hochgeschlagen.
Neu ist am IS nur, dass die unter der schwarzen Flagge der Islamisten vorpreschenden Horden inzwischen nicht nur die Guerrillataktiken, sondern auch die moderne Kriegsführung beherrschen und dass sie international agieren. Beim Kampf um Kobane sieht die Welt zu – und ist zu Recht erschüttert. Obama und Merkel erwarten ausgerechnet vom türkischen Präsidenten, dass er Kobane durch Einmarsch seiner Truppen zur Hilfe eilt (die eigenen möchten sie nun doch nicht verheizen). Was im besten Fall naiv ist. Denn Erdogan denkt gar nicht daran.
Schließlich war er es, der seit 2011 die islamistischen Söldner über die Grenze nach Syrien ziehen ließ. Und noch am 6. Oktober entließ er laut „Time“ 180 Dschihadisten aus türkischen Gefängnissen, die geradewegs ihren bärtigen Brüdern in Syrien zu Hilfe geeilt sein dürften. Denn der IS ist keineswegs der Hauptfeind des bekennenden Gottesstaatlers Erdogan, dessen Ehefrau und Töchter nur verschleiert auftreten, im Gegenteil: Er ist sein natürlicher Verbündeter.
Feind Nummer eins von Erdogan sind die Autonomie fordernden, unterdrückten Kurden und hier vor allem die militante PKK, die auch in Deutschland als „terroristisch“ verboten ist. Der Konflikt hat die Türkei in den letzten 30 Jahren rund 30000 Menschenleben gekostet, auf beiden Seiten. Der kurze Frieden ist dahin. Am 13. Oktober ließ Erdogan Stellungen der PKK im Südosten des Landes bombardieren. Auch der Türkei droht jetzt ein Bürgerkrieg.
Feind Nummer zwei von Erdogan ist Assad, der weltliche Staatschef Syriens. Er unterstützt, wie jetzt bekannt wurde, nicht zufällig die Kurden in Kobane mit Waffen. Dort kämpft inzwischen an vorderster Front die YPJ, die syrisch-kurdische Frauenguerilla. Anfang Oktober ließ sich Erdogan von seinem Parlament das Recht auf Einmarsch in das benachbarte Land bestätigen – allerdings mitnichten, um gegen den „Islamischen Staat“ zu kämpfen, sondern um Assad zu stürzen. Daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Dann wäre endlich er der Herrscher der Region.
Sollte Assad stürzen, würde das Vakuum von Gottesstaatlern besetzt.
Doch wie eigentlich konnte es dazu kommen, dass sich im Norden von Syrien und Irak 30000 bis 50000 schwer bewaffnete Söldner zusammenrotteten – und die westlichen Geheimdienste davon nichts mitbekamen? Oder wollten sie es nicht merken in der Hoffnung, dass die Horden Assad umrennen? Doch sollte Assad stürzen, fiele innerhalb von nur zwanzig Jahren zum vierten Mal ein machtpolitisch sozialistisch orientierter, zwar autokratischer, aber immerhin weltlicher Herrscher im arabischen Raum. Und auch diesmal würde das Vakuum zweifellos von den Gottesstaatlern besetzt werden, ganz wie nach dem Sturz von Muammar al Gaddafi in Libyen (2011), Husni Mubarak in Ägypten (2011) und Saddam Hussein im Irak (2003). Der Irak ist seither eine Drehscheibe der Dschihadisten im Nahen Osten, und gerade marschieren sie scheinbar unaufhaltsam auf Bagdad zu. Libyen ist in ein rasch von den organisierten Islamisten dominiertes Chaos versunken; seit Wochen bombardiert Ägypten dort Stellungen von Islamisten, damit der Virus nicht wieder übergreift. Das Land war zunächst in die Hand des Muslimbruders Mursi geraten, der jedoch von einem repressiven Militärregime gestürzt wurde. Im Vergleich mit der Peitsche der Gottesstaatler waren und sind diese autokratischen Herrscher das kleinere Übel. So traurig das ist.
Die Schlüsselworte für die fatale Entwicklung, die den ganzen arabischen Raum erschüttert und hundert Jahre nach den willkürlichen Grenzziehungen durch die Kolonialherren wohl zu einer erneuten Aufteilung führen wird – diesmal nach dem Gesetz der Gottesstaaten –, lauten „grüner Gürtel“ und „arabischer Frühling“. Den sogenannten grünen Gürtel – nach dem grünen Stirnband der islamischen Gotteskrieger – legte Amerika in den achtziger Jahren, als es Islamisten in Afghanistan mit Waffen unterstützte. Mit Erfolg. 1988 bezwangen die Taliban die sowjetischen Besatzer. Mit den bekannten Folgen.
Die nun arbeitslosen Söldner zogen weiter, vorzugsweise nach Tschetschenien und Algerien. Dort zettelten die sogenannten „Afghanen“ in den neunziger Jahren einen Bürgerkrieg an, der rund 200000 Menschen das Leben kostete und den die traumatisierten Algerier heute „die schwarzen Jahre“ nennen. Auch in Algerien entführten die islamistischen Söldner die Frauen und Mädchen in die Wälder, vergewaltigten, versklavten und töteten sie, wenn sie schwanger wurden. Das war kein Geheimnis, aber es interessierte in der westlichen Welt damals niemanden.
Der Sturm des "arabische Frühlings" wurde sehr schnell zur Eiszeit.
In Tschetschenien, der sowjetischen Teilrepublik unter dem Stiefel Moskaus, mischten die Gotteskrieger schon im ersten Tschetschenien-Krieg kräftig mit, den zweiten zettelten sie an. Bereits 1993 hatten sie die Scharia als geltendes Gesetz eingeführt, 1996 den Islam zur Staatsreligion erklärt. Auch das interessierte niemanden. Stattdessen wurde darüber spekuliert, ob der russische Geheimdienst die blutigen Attentate in Moskau nicht selbst angezettelt habe (wer derlei Spekulationen im Zusammenhang mit 9/11 anstellte, wurde zu Recht als Verschwörungstheoretiker belächelt).
Der im Dezember 2010 ausgebrochene Sturm des „arabischen Frühlings“ war zwar zunächst eine Hoffnung für die versprengte Minderheit von Frauenrechtlerinnen und Demokraten, wurde jedoch kräftig angefacht von den organisierten Islamisten und finanziert von den Petrodollars Saudi-Arabiens, Qatars und der Vereinigten Emirate – also von genau den Staaten, die bigotterweise jetzt die „Verbündeten“ sind im Kampf von Amerika gegen den IS. Sie scheinen inzwischen zu befürchten, dass sich der Geist, den sie aus der Flasche ließen, gegen sie selber wendet.
In Syrien schließlich war es ebenfalls der arabische Frühling, der zum Auslöser des Bürgerkriegs wurde. Der hätte vielleicht vermieden werden können, wenn das starre Assad-Regime nicht so fatal repressiv auf die ersten Proteste reagiert hätte. Dennoch: Vor gar nicht so langer Zeit galt Syrien als das muslimische Land mit den emanzipiertesten Frauen und der größten religiösen Toleranz, auch gegenüber Juden und Christen. Das ist vorbei. Und zu recht betont heute Asya Abdullah, die Vorsitzende der kurdischen „Partei der demokratischen Einheit“, in einem FAZ-Interview, es handle sich in Kobane nicht nur um kurdischen Widerstand, sondern „um die Verteidigung universeller Werte“.
Die kriegserprobten Söldner des „Islamischen Staats“ kommen aus Afghanistan, Ägypten, Tunesien, Libyen, Algerien, Bosnien oder Tschetschenien. Sie haben schon jetzt Hunderttausende Tote und Millionen Flüchtlinge auf dem Gewissen. Geschätzte 4000 eifernde Gotteskrieger (plus ein paar Bräute) aus dem Westen mischen ebenfalls mit im „Heiligen Krieg“; darunter, heißt es, 450 Deutsche. Jene, die ihr blutiges Geschäft in Syrien und im Irak überleben, werden zurückkehren. Sie haben dann die Menschenverachtung, das Vergewaltigen und Morden so richtig gelernt. Und werden damit weitermachen. Mitten unter uns.
Dreißig Jahre lang gefiel sich der Westen in der Attitüde einer falschen Toleranz.
Gerade brechen wegen dieser sich nähernden Gefahr Erschrecken und Hektik in Deutschland aus. Dabei hätte es wahrlich nicht so weit kommen müssen. Dreißig Jahre lang gefiel sich der Westen in der Attitüde einer falschen Toleranz, die keineswegs alarmiert war von der Entrechtung der Frauen und auch nicht unterschied zwischen Muslimen und Islamisten. Er setzte der Agitation in den Multikultivierteln nichts Positives entgegen, sondern sah weg. Wir sahen weg. Denn die ersten Opfer dieser falschen Toleranz waren ja nicht wir, sondern es war die von den Fanatikern eingeschüchterte Mehrheit der (noch) nicht fundamentalistischen Musliminnen und Muslime.
Mehr als alle Bomben wären Bildung und Gleichberechtigung der Mädchen und Frauen im muslimischen Kulturkreis die effektivste Waffe gegen die Gottesstaatler, zumindest langfristig. Doch auch und gerade die Musliminnen haben wir im Stich gelassen, indem wir lieber über das Recht aufs Kopftuch debattieren als über die Menschenrechte für Frauen. Stattdessen sollte die westliche Politik in den bedrohten Ländern besser endlich zu mehr Bildung und Frauenrechten beitragen. Was durchaus möglich wäre – wenn wir nur wollten.
Alice Schwarzer für die FAS / 26.10.2014