Historiker Wehler über Schwarzer
Seit dem 19. Jahrhundert ist die Thomas Carlyle zugeschriebene Maxime "Männer machen Geschichte" zum Gemeingut geworden. Wahrscheinlich besitzt sie noch immer die Hoheit über den Stammtischen. Gedacht hatten diese Verfechter des Heroenkults an die grosse Staatspolitik. Weitet sich der Blick aber auf das ganze gesellschaftliche Leben, lässt sich die Zwillingsthese, dass auch Frauen Geschichte machen, nicht ernsthaft bestreiten. Sie mögen nicht immer so spektakulär auftreten wie Mrs Thatcher, die das soziale und politische Leben Englands derart umgestülpt hat, dass Tony Blair zehn Jahre lang mit effektiven Korrekturen regieren konnte. Aber: Weibliche Ideen und Aktionen können nicht minder folgenreich sein. Man denke nur an den dramatischen Erfolg der neuen Frauenbewegung, die seit den frühen 1970er Jahren in einem bis dahin unvorstellbaren Tempo die rechtliche, zusehends auch die soziale Gleichberechtigung der Frauen erstritten hat.
Es reicht aber nicht, die Schwungkraft einer anonymen Bewegung anzuerkennen. Ohne die Dynamik, die Argumentationsstärke, das kontinuierliche Engagement einer Wortführerin wie Alice Schwarzer wäre dieser Erfolg vermutlich nicht in der jetzt erreichten Form zustande gekommen. Man braucht nämlich diese Persönlichkeit nur einmal wegzudenken – im Jargon der Wissenschaft: kontrafaktisch zu überlegen –, um zu erkennen, in welchem Masse diese Publizistin und De-facto-Politikerin, oft im Alleingang, die Sache der Frauen überzeugend verfochten hat. Ohne diese ganz individuelle Motorik, ja sei’s drum, ohne diese Leidenschaft, im offenen Streit für ihre gerechte Sache unentwegt voranzugehen, hätte der Frauenbewegung, aber auch den Entscheidungsgremien der Parteipolitik ein wesentlicher Impuls gefehlt. Kein Wunder also, dass man auf das neue Buch von Alice Schwarzer, 'Die Antwort', gespannt ist.
Um es in martialischer Sprache auszudrücken: Sie blickt noch einmal, nicht ohne Befriedigung, meist aber voll geschulter Kritik, auf einige der Fronten, an denen sie in den letzten dreißig, vierzig Jahren so unverwechselbar gekämpft hat. Das Ergebnis ist ein Dutzend ganz so temperamentvoll wie sachkundig geschriebener Essays. Man kann sie jeweils für sich lesen, aber auch alle hintereinander, indem man dem roten Faden eines feministischen Plädoyers folgt, das namentlich die ungelösten Aufgaben präsentiert.
So belehrt Frau Schwarzer zu Beginn ihre Leserinnen und Leser noch einmal, denn offensichtlich hält sie es für geboten, über den Unterschied zwischen "Sex" als biologischer Grundausstattung und "Gender" als soziokulturell zugeschriebener weiblicher Rolle zu argumentieren. Und natürlich gehört ihre ganze Sympathie der Auflockerung, ja Beseitigung dieses starren Rahmens, innerhalb dessen, modisch gesprochen, weibliche Identität seit endloser Zeit so verbindlich fixiert worden ist, dass dieses kulturelle Kunstprodukt als schlechthin naturgegeben galt.
Mit rational fundierter Aversion attackiert Frau Schwarzer den fundamentalistischen Islam, der sich auch nach Europa in die muslimische Diaspora ausbreitet. Von ihrer Position aus vor allem deshalb, weil sein Männlichkeitswahn die unnachgiebige Unterdrückung der Frauen aufrechterhält. Im Kopftuchstreit steht Frau Schwarzer daher grundsatzfest auf der Seite der Gegner dieses antiemanzipatorischen Symbols.
Offensichtlich handelt es sich bei diesem militanten Islam um die politische Pest des 21.Jahrhunderts, so wie der Nationalsozialismus und der Bolschewismus die politischen Epidemien des 20.Jahrhunderts gewesen sind. Angesichts des gegenwärtig längst laufenden "Kampfes der Kulturen" à la Huntington sollte die mutige Stimme von Alice Schwarzer auch bei jenen Gehör finden, die trotz der erkennbaren Gefahren eine Vogel-Strauss-Politik vorziehen.
In der Abtreibungsfrage wiederholt Frau Schwarzer – nach einem Rückblick auf die seit der berühmten Stern-Aktion von 1971 verbesserte Lage der Frauen – ihre Forderung nach einer uneingeschränkten Fristenlösung, die anderswo in Europa längst konsensfähig geworden ist. Aber in Deutschland herrsche ja, polemisiert sie, kein Volksentscheid, "sondern der Vatikan".
Mit der ihr eigenen Emphase stellt Frau Schwarzer das Vorurteil, nur die Mutter sei die einzig wahre Bezugsperson für das Kleinkind, in Frage und wirbt für die Übernahme von Familienpflichten durch die Männer. Selbstverständlich hält sie die weibliche Doppelexistenz in Beruf und Familie für einen zumindest in den westlichen Ländern unaufhaltsamen Trend, dem jetzt endlich die verbleibenden Schwierigkeiten pragmatisch aus dem Weg geräumt werden müssen. Ihre helle Empörung löst das neue Schönheitsideal der aus Hungerkuren hervorgehenden Knabenfigur aus, gegen deren Ausbreitung – ihr Wort ins Ohr der Modellagenturen, Fotografen und Designer – endlich Barrieren errichtet werden müssten.
Doch diese Kritik ist sanft im Vergleich mit der Polemik, die Alice Schwarzer gegen die rapide um sich greifende Pornografie und Prostitution richtet. Wer die Blitzkarriere von Porno-Videos, Gang-Bang und Frauenhandel, zumal aus Osteuropa in den Westen, angewidert zur Kenntnis nimmt, kann ihren Argumenten nur Durchsetzungskraft wünschen, damit der Umgang mit Frauen als käuflicher Ware endlich eingedämmt wird.
Alle pointierte Kritik schließt aber Frau Schwarzers nüchternes Urteil nicht aus, dass der Fortschritt der Frauenemanzipation in den letzten vierzig Jahren eine der grössten sozialen Revolutionen des 20. Jahrhunderts ausgelöst hat. Nach der rechtlichen Gleichstellung steht freilich, wie ihr nur zu sehr bewusst ist, die soziale Durchsetzung des Egalitätsprinzips an vielen Stellen noch weiter aus.
Noch immer erhalten Frauen in der Industrie, die in diesen Jahren eine atemberaubende Feminisierung der Arbeitswelt erlebt haben, 25 bis 30 Prozent weniger als Männer, sehen sich in schlechtbezahlte Lohnleichtgruppen verbannt. Als Rentenempfängerinnen kommen sie auf die Hälfte des männlichen Alterseinkommens. In den Chefetagen der 626 umsatzstärksten deutschen Grossunternehmen fanden sich zwölf Frauen (0,5 Prozent) unter 2286 Männern. An den höchsten Bundesgerichten stellen Juristinnen 5 Prozent dieser Rechtselite. Von den Schulleitern sind in einem feministischen Beruf nur 18 Prozent Frauen, von den Schulräten sogar nur 9 Prozent. Erstmals gibt es neuerdings Intendantinnen in den Spitzengremien der öffentlichen Rundfunkanstalten.
Andererseits ergeben neue sozialwissenschaftliche Studien aus Westeuropa, die für Frau Schwarzers Recherchierkünste eigentlich ein gefundenes Fressen gewesen wären, ein erstaunliches Resultat. Denn sie stellen den männlichen Zweifel an der Kompetenz, der Belastbarkeit, der Führungsfähigkeit von Frauen radikal in Frage. In der Realität ist es, ihnen zufolge, inzwischen klar nachweisbar, dass Frauen, ganz im Gegensatz zum Vorurteilsyndrom des Machismo, Leitungsfunktionen besser ausfüllen, kommunikativer, integrativer, teambewusster, entscheidungs-freudiger, innovativer, die besseren Planer sind und, last, but not least, wirtschaftlich sogar mit Abstand erfolgreicher operieren als Männer in denselben Positionen.
Man darf Frau Schwarzer so verstehen, dass ihr die Durchsetzung dieser empirisch vorzüglich abgesicherten Ergebnisse im öffentlichen Diskurs willkommen ist, da sie ihre Grundüberzeugung bestätigen. Das tun solche Studien auch anderswo – in jenem hoffentlich weiterwachsenden Häuflein, das Alice Schwarzer als aufgeklärte Männer anerkennt.
Der Text erschien am 21.5.2007 in der Weltwoche.