Algerien: Zwischen Hoffnung und Sorge
DEUTSCHE WELLE Frau Schwarzer, woher rührt Ihr Interesse an Algerien?
Alice Schwarzer Ich habe zwei Mal länger in den 1960ern und 1970ern Jahren in Paris gelebt und da war Algerien allgegenwärtig. Algerien ist sozusagen das Vietnam Frankreichs, die Chiffre für die Politisierung, Entkolonialisierung, Empörung und so weiter. Dann kam hinzu, dass ich 1989 in Tunis ein Seminar für Journalistinnen im Maghreb gemacht habe. Unter den Teilnehmerinnen waren Algerierinnen. Da habe ich unter anderem zu Djamila Kontakt gehalten, die die zentrale Figur meines Buches "Meine algerische Familie" ist. Djamila geriet in den 1990er Jahren als Journalistin und emanzipierte Frau in schwere Bedrängnis. Ich habe sie fünf Jahre nach Köln geholt, was ihr das Leben gerettet hat. Über diese Aktion habe ich mich mit der Familie angefreundet. Die Familie kam zu mir, ich fuhr nach Algier und diese Familie habe ich sozusagen prototypisch porträtiert, eine große Familie mit drei Generationen.
Was ist vielleicht der Vorteil daran Algerien aus der Perspektive einer Familie zu erzählen anstatt einer Analyse?
Beides ist legitim. Die Geschichte einer Familie ist natürlich Algerien von innen erzählt. Das Buch ist vor einem Jahr in Deutschland erschienen und vor zwei Wochen in Frankreich. In Frankreich sagt man, es ist das erste Buch über das Leben in Algerien heute. Wir wissen heute wenig von Algerien. Algerien war in den 1960er und 1970er Jahren weltberühmt und wurde als das Land bewundert, das sich aus eigener Kraft von den Kolonialherren befreit hat und dann das Mekka aller Revolutionäre wurde. Alle sind hin - Che Guevara, die Black Panthers und so weiter. Und dann ist es ein bisschen in der Vergessenheit versunken und vor allem in dem Trauma der neunziger Jahre. In den Neunziger Jahren, die von den Algeriern die "Schwarzen Jahre" genannt werden, sind in dem von den Islamisten angezettelten Bürgerkrieg über 200.000 Menschen gestorben. Und dieses Trauma wirkt nach. Es sind im Grunde zwei Traumata, die Algerien heute hat: Es ist der Postkolonialismus. Der älteste Bruder von Djamila hat noch als Kind gegen die Kolonialherren gekämpft, wie er mir erzählte. Und es ist der Islamismus der 90er Jahren. Das sind ja die beiden großen Themen unserer Zeit und diese beiden großen Themen können wir an diesem Land studieren.
Es finden Demonstrationen gegen Präsident Bouteflika statt. Mich würde sehr interessieren, wie Sie diese Entwicklung im Lichte Ihrer langjährigen Erfahrungen einschätzen.
Ich habe schon in meinem Buch diese Unruhen prophezeit. Dazu muss man keine Hellseherin sein. Es war damit zu rechnen dass Bouteflika ein fünftes Mal von einem undurchsichtigen, mafiösen Clan hinter ihm vorgeschoben würde, obwohl er kaum noch handlungsfähig ist. Allerdings - das konnte niemand wissen- habe ich nicht mit so breiten und so entschlossenen Protesten gerechnet. "Meine ganze Familie" geht auf die Straße und hält mich täglich auf dem Laufenden. Und da kann ich Ihnen sagen dass sowohl in Algier wie in Oran, in Setif und in Tipaza, überwiegend die jungen [Menschen] und sehr stark die Frauen die auf die Straße gehen. Weil sie bei den Bürgerrechten noch ein bisschen was nachzuholen haben. Sie sind immer noch keine gleichberechtigten Bürger. Und die Stimmung war zunächst und ist noch sehr friedlich und sehr heiter. Die Frauen stoßen "Yuyus" aus, dieser arabischen Jodler und es geht fast familiär zu, sagen mir meine Familie und die vielen Menschen, die mir schreiben. Seit in Frankreich das Buch erschienen ist, schreiben mir fremde Algerier, die ich nicht kenne. Aber gleichzeitig haben die Menschen Angst, berechtigterweise, denn sie protestieren gegen das Bestehende. Sie wissen nicht was kommen könnte. Es ist nichts da und man weiß auch noch nicht wie das Regime letztendlich reagieren wird, wenn der Widerstand anhält. Und natürlich lauern im Hintergrund die Islamisten.
Und das ist genau der Grund weshalb sich Algerien 2011 zurückgehalten hatte...
Beim arabischen Frühling haben die Algerier gleich gesagt "Nein danke". Und sie hatten Recht. Denn der "Arabische Frühling" wurde ja sehr schnell zum "Arabischen Winter". Es haben zwar ein paar wirklich nach Freiheit dürstenden Menschen diesen Frühling ausgelöst. Aber sehr schnell sind die gut organisierten und gut mit Petrodollars ausgestatteten Islamisten in dieses Chaos gestoßen und haben in allen Ländern versucht, die Macht an sich zu reißen. Diese Gefahr war den Algeriern klar, und sie werdennach den neunziger Jahren nicht mehr offen für die Islamisten votieren. Sie wissen, was das für eine Mörderbande ist.
Aber es besteht natürlich die Gefahr einer religiösen Radikalisierung als Folge der Traumata. Es gibt sehr viel Hoffnung und ein ganzes Stück Sorge. Wie wird es werden? Da kommt es natürlich sehr auf den Westen an. Wie wird der Westen reagieren? Wird er versuchen, die wirklich demokratischen Kräfte dort zu unterstützen? Was nicht einfach ist. Oder wird er sich letztendlich für die Friedhofsruhe entscheiden und das bestehende Regime unterstützen? Denn eins ist klar: wenn Algerien ins Chaos oder in die falschen Hände fällt, dann fällt ganz Nordafrika. Und dann lernen wir richtig, was eine Flüchtlingswelle ist. Das algerische Schicksal sollte uns nicht nur aus Mitgefühl interessieren.
Das Interview führte Luisa von Richthofen für die Deutsche Welle