Schirrmachers Interview über Islamismus & Feminismus
Frau Schwarzer, der Hebel zur Modernisierung islamischer Gruppen in Deutschland ist die Emanzipation der Töchter in diesen Gruppen, sagen die einen. Andere meinen, das sei westeuropäischer Eurozentrismus.
Die Lage der Frauen ist für den Grad der Freiheit einer Gesellschaft und Gerechtigkeit für alle immer entscheidend. Der Schlüssel zur Emanzipation muslimischer Gesellschaften ist in der Tat die Stellung der Frauen. Hier müssen wir nicht nur die Töchter berücksichtigen, sondern auch die Mütter, denn die Mütter prägen die Kinder. Der Einwand, dies sei eine eurozentristische Einmischung, ist zynisch. Im Gegenteil: der Kulturrelativismus ist in meinen Augen ein Ausdruck von Verachtung der anderen. Was die Menschenrechte betrifft, gilt für uns alle der gleiche Maßstab.
Könnte es sein, dass manche Kinder oder Mütter sagen, je strenger eure Gesetze im Sinne einer säkularen Gesellschaft sind, desto besser können wir uns darauf berufen?
Wir wissen, dass es so ist. Und ich halte das sogar für unsere Pflicht. Auch wenn Gesetze natürlich nur ein Teil des Paketes sind, das nötig ist zur offensiven Integration, die wir bislang nicht geleistet haben. Wir müssen den Entrechteten und Entmündigten in diesen Communities beistehen. Das sind die Frauen. Das sind die Töchter. Das sind die Söhne. Beispiel Kopftuch: Ich habe gerade Enzensbergers Schreckensmänner gelesen. Er sagt: „Neben dieser ganzen Entrechtung scheint ja diese Kopftuchdebatte eine Art Ablenkungsmanöver zu sein.“ Das sehe ich ganz anders. Das Kopftuch ist die Flagge des Islamismus. Das Kopftuch ist das Zeichen, das die Frauen zu den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht. Als Symbol ist es eine Art „Branding“, vergleichbar mit dem Judenstern. Und real sind Kopftuch und Ganzkörperschleier eine schwere Behinderung und Einschränkung für die Bewegung und die Kommunikation. Ich finde es selbstverständlich, daß wir uns an Ländern wie Frankreich ein Beispiel nehmen und das Kopftuch in der Schule und im Kindergarten untersagen, für Lehrerinnen und Schülerinnen.
Kultur- relativismus: ein Ausdruck von Verachtung
Das betrifft den öffentlichen Raum. In die Familien selber kommen wir nicht rein.
Nein, da können wir nur Angebote machen und mit gutem Beispiel vorangehen. Es gibt Vorschläge, ab dem Kindergarten deutschstämmige und türkischstämmige Kinder zu mischen, um sie aus dem Ghetto herauszuholen. Aber auch, um der zunehmenden Dämonisierung der „Ungläubigen“ und des „dekadenten Westens“ entgegenzutreten, die von der Agitation der Islamisten ausgeht. Ganz wichtig sind auch Deutschkurse für die Mütter.
Die Politik geht jetzt in Sachen Integration in die Offensive. Bundesinnenminister Schäuble plant einen „Integrationsrat“, in den selbstverständlich auch muslimische Kräfte einbezogen werden sollen.
Das ist ein wichtiger Schritt, der ja auch in Frankreich mit Erfolg getan wurde. Ich bin nur sehr erstaunt, dass an einem runden Tisch auch Milli Görüs Platz nehmen soll.
Warum sind Sie erstaunt?
Weil es entscheidend sein wird, nicht mehr länger nur das terroristische Milieu ins Visier zu nehmen, sondern auch dessen Umfeld, die ideologischen Aufrüster. Und da ist die von Necmettin Erbakan gegründete, international auch ökonomisch agierende Milli Görüs der Hauptmotor in Deutschland. Diese vom Verfassungsschutz schon lange scharf beobachtete Organisation tritt offensiv für vieles ein, was nicht im Grundgesetz, aber in der Scharia steht: das Kopftuch für Lehrerinnen etc. etc. Nicht nur in den Augen der Islamkundlerin und Milli-Görüs-Expertin Prof. Ursula Spuler-Stegemann ist die Organisation „eindeutig antidemokratisch, antichristlich und antisemitisch“ orientiert. Es wäre fatal, wenn der bisher so schiefe „Dialog“ so fortgesetzt würde. Dialog ja. Aber mit den Richtigen.
Angst, als „Rassisten“ denunziert zu werden
Meinen Sie, dass wir die Islamisierung unserer westlichen Gesellschaften - planvoll oder sorglos - mit betreiben?
Absolut! Wir waren 25 Jahre lang naiv und ignorant - oder sogar Sympathisant. Und die wenigen, die begriffen haben, haben sich einschüchtern lassen. Sie hatten Angst, als „Rassisten“ denunziert zu werden - wie es ja auch mir passiert ist. Und das in erster Linie auf Kosten der Menschen im islamischen Kulturkreis. Aber es ist eine weltweite Offensive. Das Geld kommt aus Saudi-Arabien, die Ideologie aus Iran. In Afghanistan ging das Anfang der neunziger Jahre los. In Algerien hat es in den neunziger Jahren über hunderttausend Tote gegeben, einen blutigen Bürgerkrieg, der von Islamisten angezettelt wurde und der Westen hat weggeguckt. Amerika hat in den achtziger und neunziger Jahren gezielt islamistische Kräfte gefördert, um den sogenannten grünen Gürtel um die Sowjetunion zu legen. Der Kampf der Taliban gegen die Sowjetunion - den haben die Amerikaner unterstützt. Der Geist ist nun aus der Flasche.
Wie kann eine liberale, emanzipatorische Gesellschaft einer solchen Bedrohung widerstehen?
Durch einen unerschütterlichen Glauben an die Universalität der Menschenrechte! Doch es gibt ein besonderes deutsches Problem: dieses deutsche Minderwertigkeitsgefühl, das leicht in Größenwahn umschlagen kann. Diese Fremdenliebe, die Verherrlichung des Fremden ist ein Resultat dieser mangelnden Selbstachtung. Die Fremdenliebe ist natürlich nur die andere Seite der Medaille Fremdenverachtung. Da spielt in Deutschland der Protestantismus eine fatale Rolle und das schlechte Gewissen wegen der Nazizeit. Zu dieser deutschen Fremdenliebe hat sich in den achtziger Jahren in der Linken die Sehnsucht nach neuen Göttern gesellt. Die Idole hatten abgewirtschaftet: Stalin, Mao, Che Guevara waren Enttäuschungen. Doch gerade auch die deutsche Linke war von Gläubigkeit durchdrungen. Diese Töchter und Söhne ihrer Eltern sehnten sich nach neuen Göttern. Als Chomeini 1979 die Macht ergriff, sympathisierten weite Teile der westlichen Linken spontan mit diesem neuen „Volksaufstand“, diesen neuen „Helden“.
Sie waren 1979 in Teheran.
Zwei Wochen nach der Machtergreifung.
Warum?
Der Grund war ein Hilferuf von Frauen in Teheran an französische Intellektuelle. Dieser Hilferuf kam von Leuten, die selber gegen den Schah gekämpft und auf Chomeini gesetzt haben. Die glaubten, es ist gut, wenn die Perser im Zuge einer nationalen Selbstbesinnung „zu unseren Wurzeln“ zurückkehren - was immer das sein mag.
Der Beginn eines weltweiten Kreuzzuges
Und schon in diesen zwei Wochen hat sich herausgestellt, dass da irgendetwas nicht stimmt?
Ja, für die Frauen sofort! Sofort ging die Entrechtung los. Als wir ankamen, wir Schriftstellerinnen und Journalistinnen, war nicht klar, ob wir reingelassen werden. Die Stimmung auf den Straßen war noch euphorisch. Überall bärtige junge Männer mit Kalaschnikows, in denen Blumen steckten, und die uns freundlich begegneten. Wir haben in diesen Tagen alle Autoritäten gesehen, auch Chomeini. Zu dem sind allerdings nur drei Frauen aus unserer Gruppe gegangen, weil wir ein Kopftuch tragen sollten. Ich bin nicht mitgegangen, denn der Zwang zum Kopftuch war bereits zum Symbol der Entrechtung der Frauen geworden. Ich erinnere mich noch gut an eine ägyptische Filmemacherin in unserer Gruppe, die bat: „Ich flehe euch an, tut es nicht. Verratet uns nicht!“ Drei gingen dennoch zu Chomeini... Wir haben mit allen neuen Machthabern gesprochen, Frauen wie Männern, und sie haben uns offen gesagt, was sie vorhaben. Ich erinnere mich an die Tochter von Talegani. Sie hatte über Sartre promoviert, und sie erläuterte uns glühend das neue Recht: Steinigung der Frauen bei Ehebruch. Steinigung bei Homosexualität. Das steht so in der Scharia. Das Wort einer Frau gilt vor Gericht von nun an nur noch halb soviel wie das eines Mannes.
War Ihnen damals klar, was das für ein Vorgang ist? Dass damit eine Reislamisierung der Welt begann?
Mir war klar, dass die es ernst meinen. Ganz wie Hitler 1933. Auch bei ihm konnte man ja schon alles in „Mein Kampf“ lesen. Aber mir war in der Tat nicht klar, daß das der Beginn eines weltweiten Kreuzzuges war, unter Führung von Intellektuellen übrigens. Wir wissen ja schon lange, daß die führenden islamistischen Aktivisten Intellektuelle sind.
Selbst, wenn man dem Feminismus skeptisch gegenübersteht, könnte man argumentieren, er ist jetzt die einzige Waffe, um diese Bedrohung aufzubrechen.
Nicht ungestraft entrechtet man die Hälfte der Menschheit und lebt im engsten Familienzirkel die Tyrannei. Wie soll daraus Demokratie wachsen?
Wen weckt jemand wie Necla Kelek auf? Uns oder die türkischen Frauen?
Beide. Kelek versucht, die Deutschen in ihrer Ignoranz aufzurütteln - und ihren türkischen Schwestern Mut zu machen. Der Versuch, Necla Kelek als „zu radikal“ oder gar als „Verräterin“ zu isolieren, den finde ich aufschlussreich. Der erinnert mich an Reaktionen auf mich früher. Frauen wie Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali wagen es, nicht nur die Omerta zu brechen, das Tabu des Schweigens, und den Islamismus zu kritisieren, sondern auch den Islam.
Deutschland: Drehscheibe des islamischen Terrorismus
Durch den Islamismus bekommt die Frage der Emanzipation eine ganz andere Bedeutung. Unsere Gesellschaft wird eine sein, in der in den Großstädten die Mehrheit der Familiengenerationen aus Migrantenmilieus kommen.
Es heißt, dass 2010 jeder zweite Mensch in einer deutschen Großstadt einen Migrantenhintergrund haben wird.
Das heißt, die Einheimischen sind eine Minderheit unter Minderheiten. Schaffen wir es noch, prägende Kraft auszuüben?
Wir müssen es schaffen! Dabei läuft die Linie nicht unbedingt zwischen Deutschen und Migranten, sondern zwischen Rückschrittlichen und Fortschrittlichen. Zunächst waren die Islamisten auch innerhalb der türkischen Community nur ein kleiner Kern. Sie haben die mangelnde Bildung der Wirtschaftsmigranten und die vernachlässigte Integration genutzt, zu agitieren. Sie sind hier in die Viertel gegangen, in die Jugendarbeit, in die Sozialarbeit. Wir waren nirgendwo.
Seit 1992 haben wir das Mittelalter nach Deutschland importiert.
Seit Mitte der Achtziger schon! Seither gilt Deutschland Experten als europäische „Drehscheibe des islamischen Terrorismus“. Die islamistischen Terroristen aller Länder haben bei uns Asyl erhalten. Heute sympathisieren junge Muslime zunehmend mit dem Fundamentalismus, das hebt ihr angeknackstes Selbstwertgefühl. Aber gleichzeitig gibt es eben auch die anderen. Die Mehrheit ist weiterhin erreichbar.
Ich glaube, wir haben nur noch drei Jahre Zeit, weil die, die auf der Rütli-Schule sind, dann auf dem Arbeitsmarkt sind.
Hinzu kommen die Russlanddeutschen. Das sind keine Muslime, aber: das ist exakt derselbe Männlichkeitswahn. Sie kommen aus Exmilitärdiktaturen, aus Machokulturen. Aber sie haben deutsche Pässe, sie tauchen in keiner Ausländerstatistik auf. In ihren Familien ist die Gewalt gegen Frauen und Kinder ebenfalls signifikant höher als in deutschen Familien.
Das ist klar. Bei den Russlanddeutschen gibt es die größte Kriminalitätsrate.
Und auch in dem Milieu haben wir Tendenzen des religiösen Fundamentalismus, in dem Fall des christlichen.
Die Quote kommt nicht vom Feminismus
Wird die Entwicklung nicht dazu führen, dass wir irgendwann Gesellschaften mit einem starken muslimischen Kern haben?
Das kann so kommen, muss aber nicht. In den sechziger und siebziger Jahren waren die Türken in Deutschland integrierter als heute. Ich habe gerade gelesen, daß die dritte Generation schlechter Deutsch spricht als die zweite. Das liegt daran, dass diese Community völlig schutzlos über ein Vierteljahrhundert dieser faschistoiden Agitation ausgeliefert war. Vor zehn Jahren ist in Bonn die saudiarabische Fahad-Akademie eingeweiht worden. Sie ist nun seit kurzem im Gespräch. Überraschung: Das soll eine dunkle Quelle islamistischer Agitation sein. Aber: das alles stand schon 1995 in „Emma“. Man hätte es also von Anfang an wissen können - wenn man gewollt hätte.
Die zwei Dinge, die wir nicht gesehen haben, sind die demographische Entwicklung und die Zuwanderung.
Wenn wir das jetzt als politische Bewegung erkennen und denen mit allen Mitteln begegnen - und dieses ignorante Gerede von anderen Sitten, anderem Glauben, anderen Kulturen lassen -, dann ist die muslimische Mehrheit noch immer erreichbar. Es gibt in den als „islamistisch“ eingestuften Organisationen in Deutschland laut Verfassungsschutz 25.320 Aktivisten. Die muss man mindestens mit sechs multiplizieren, denn das sind ja Familienchefs und Söhne, die das Sagen haben.
Und dann kommen noch die Beziehungen ins Ausland dazu.
So ist es. Aber wir rechnen einfach mal sechs. Das sind rund 150.000 Islamisten - bei über drei Millionen Muslimen.
Ist es nicht so, dass wir ein immer stärkeres Ungleichgewicht bekommen, weil sich bestimmte Mittelklasseschichten im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht genügend reproduziert haben, und dass die anderen immer mehr zunehmen?
Familie ist wichtig. Aber überschätzen Sie nicht den Stellenwert der Familie. Ein Kind ist sehr vielen Einflüssen ausgesetzt. Immer wichtiger wird das Fernsehen, das verdummt und brutalisiert - und das von Jungen in muslimischen Familien vielfach höher konsumiert wird als von Mädchen oder Deutschen. Der eklatanteste Denkfehler von Philip Longman, dem amerikanischen Propagandisten des Patriarchats, ist übrigens auch, dass er glaubt, das Patriarchat wird triumphieren, weil patriarchale Familien die meisten Kinder kriegen und die dann wie ihre Väter und Mütter werden. Dabei wissen wir nur zu gut, dass das keineswegs immer so funktioniert.
Fehlt in unserer Wertediskussion nicht die Überlegung: Wie schaffen wir es, unsere eigene Gesellschaft zu erhalten, auch quantitativ?
Ich würde eher von den durch unsere Gesellschaft errungenen Werten reden: Aufklärung, Gleichberechtigung, Demokratie. Mit der Vermittlung dieser Werte müssen wir früh anfangen. Auch dazu brauchen wir Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen. Ich glaube, dass auch die christlichen Institutionen in unserem Lande sehr gut beraten wären, ihre Privilegien bis zu einem gewissen Punkt aufzugeben - und für eine klare Trennung zwischen Staat und Religion einzutreten.
Kelek schreibt jetzt ein Buch, das hat vielleicht eine Auflage von siebzigtausend. Was wäre der nächste Schritt, um diese Milieus besser zu erreichen?
In Frankreich geht eine Minderheit von mutigen Frauen seit einigen Jahren in den Vorstädten in die Offensive und artikuliert sich. Hier sind es bisher nur einzelne. Noch. Es gibt Basisarbeit, Mädchenhäuser, Frauentreffs, die müssen gefördert werden. Gleichzeitig muß man auf der Ebene der Männer wirken, die in patriarchalen Kulturen das Gesetz machen. Wir dürfen nie vergessen: Musliminnen und Muslime sind die ersten Opfer der Islamisten. Dann kommen die Juden. Der Rest steht in der dritten Reihe.
Emanzipation verändert die demographische Entwicklung
Wir im FAZ-Feuilleton haben gegen den Irak-Krieg geschrieben. Wenn ich mir nun die Situation in Afghanistan anschaue, sehe ich, dass es auch dort nicht besser, sondern eher schlechter wird. Aber für die Frauen ist die Intervention, soweit man es hört, gut gewesen.
Das höre ich anders. Die Talibane sind wieder im Vormarsch - und Frauen verhüllen sich weiterhin aus Angst. Und im Irak hat es vor dem Krieg mehr Studentinnen als Studenten gegeben. Ich bin auch gegen den Irak-Krieg gewesen, weil mir völlig klar war, dass der Irak - bei allen Problemen mit dem Tyrannen Saddam Hussein - eine weltliche Bastion gegen diese ganzen Gottesstaaten war. Man kann Saddam Hussein viel vorwerfen, nur, fundamentalistisch war er nie. Nun ist Irak zum Tummelplatz der Islamisten geworden. Ganz davon abgesehen, dass man davon ausgehen muss, dass es der Mehrheit der Menschen im Irak heute bedeutend schlechter geht als unter Saddam Hussein. Ich bin mir ganz sicher, dass auch der Irak nun ein fundamentalistischer Staat wird.
Jemen hatte im Jahr 1952 drei Millionen Einwohner, jetzt sind es etwa zwanzig Millionen, und irgendwann werden es siebzig Millionen sein. Und achtzig Prozent werden unter achtzehn sein.
Auch das ist eine Frage des Grades der Gleichberechtigung der Frauen. Je emanzipierter die Frauen sind, desto weniger kriegen sie ungewollte Kinder. Der Faktor Emanzipation verändert die demographische Entwicklung.
Meine Generation ist groß geworden mit einer Aversion gegen Quotenregelungen.
Ist Ihnen eigentlich klar, dass die Quote nicht vom Feminismus kommt?
Nein.
„Emma“ war zunächst gegen die Quote. Die Quote kommt von den Parteifrauen. Die kamen und kommen ohne diese Krücke in ihren Männerparteien nicht voran. Meine Bedenken gegen die Quote sind, daß damit Frauen von Männergnaden gefördert werden - und das sind nicht immer die besten. Andererseits: Auch Kanzlerin Merkel war Anfang der Neunziger noch eine Quotenfrau!
Wie ist denn Ihr Gefühl über Deutschland im Jahre 2006?
Deutschland hat die Wiedervereinigung noch nicht überwunden. Ökonomisch haben wir die Probleme, die die ganze Welt hat. Das ganze System wird sich rütteln, bis irgendwann alle auf dem gleichen Level sind - und da ist doch klar, dass das für den privilegierten Westen Abstieg bedeutet.
Kein alarmierendes Gefühl?
Nicht unbedingt. Denn wir Frauen sind an einem entscheidenden Punkt. Die Töchter und Enkelinnen der Emanzipation greifen jetzt zur Hälfte der Welt. Das führt zu neuen Verteilungskämpfen. Das heißt für die Männer: Privilegien abgeben. Es war die Frauenbewegung, die Anfang der siebziger Jahre zum ersten Mal über Kinderarbeit und Hausarbeit gesprochen hat.
Es gibt eine Studie über vierzig Jahre, bei der Frauen des Jahrgangs 1920 bis Mitte der siebziger Jahre begleitet wurden. Die klügsten, kreativsten Frauen hatten die meisten Kinder. Die heutige Frauengeneration hat andere Möglichkeiten, weshalb die klügsten, kreativsten Frauen die wenigsten Kinder bekommen.
Aber auch die werden wieder Kinder bekommen, sobald die Mutterschaft nicht mehr mit einem Berufsverbot verknüpft ist. Siehe die Geburtszahlen in Schweden oder Frankreich, da hat ja sogar die potentielle Präsidentschaftskandidatin Selogene Royal vier Kinder! Die große Gefahr für Frauen ist auch, dass sie immer das Angebot haben, sich ins Privatleben zu flüchten. Ich sage bewusst flüchten. Man kann auch sagen: Ich möchte ein Kind, und wie manage ich das. Ich habe in einer Bielefelder Studie gelesen, dass 96 Prozent der Mütter, die in Elternzeit waren, nicht vorher mit den werdenden Vätern darüber geredet haben, wie man das organisiert.
Früher war man Sonntagsvater. Das geht so nicht mehr.
Es gibt vom Max-Planck-Institut eine Studie über das Reproduktionsverhalten bei Männern. Neunundneunzig Prozent der jungen Männer zwischen zwanzig und dreißig wollen Kinder. Waren sie in einer festen Beziehung, änderte sich das sofort. Wurde es konkret, wollten sie plötzlich keine Kinder mehr.
Je konkreter es wird, um so genauer begreifen diese jungen Männer, was Vatersein bedeutet. Früher war man Sonntagsvater. Das geht so nicht mehr.
Das wird sich im nächsten Jahrzehnt mit der Berufstätigkeit der Frauen zuspitzen. Qualifizierte Frauen werden dringend gebraucht.
Ob sie gebraucht werden oder nicht: Frauen wollen berufstätig sein! 95 Prozent aller jungen Frauen können sich keine Zukunft ohne Beruf vorstellen. Seit Anfang der siebziger Jahre, seit dem Beginn der neuen Frauenbewegung, sind die Frauen nicht aufzuhalten. Die einzige Lösung ist, auf der einen Seite die Emanzipation der Frauen konstruktiv zu unterstützen und auf der anderen Seite dem Männlichkeitswahn den Kampf anzusagen. Bei Gesellschaften, die sich entwertet fühlen und die dann auf die Entwertung mit Größenwahn reagieren, wie die muslimischen beziehungsweise arabischen Gesellschaften, drückt sich das ja immer so aus, dass die Männer in den Männlichkeitswahn flüchten. Was auch die Männer einengt. Stolz und Ehre. Wir kennen das auch. Dieser Männlichkeitswahn ist der dunkle Kern des Problems. Der Männlichkeitswahn ist eine tickende Bombe. Höchste Zeit, sie zu entschärfen.
Das Gespräch mit Alice Schwarzer führte Frank Schirrmacher
© FAZ 4.7.2006