Über Krieg & Kompromiss
Höre ich das Wort „Helden“ im Zusammenhang mit Krieg, zucke ich zusammen. Denn ich weiß: Jetzt wird wieder gestorben. Und es sind selten die großen Helden, die sterben, meist die kleinen Leute. Jetzt schlägt also wieder die Stunde der Kriegshelden. „Wir sterben auch für euch“, verkündet der ukrainische Präsident Selenskyj am 14. Tag des Krieges in einem Interview mit einer deutschen Zeitung. Danke. Aber ich möchte das nicht. Ich möchte nicht, dass auch nur ein Mensch für mich stirbt. Und ich will auch nicht für andere sterben.
Ich bin gegen Kriegsende geboren und habe keine eigenen Erinnerungen an den Krieg. Aber ich habe bis heute die Stimme meines Großvaters im Ohr, bei dem ich aufgewachsen bin. Er war im Ersten Weltkrieg in der Schlacht an der Somme, es muss ein Massaker gewesen sein. Auf mein Drängen hin erzählte er mir von seinen Erlebnissen. In lustigem Ton, doch umso schrecklicher schien es mir.
Wie er vom Unterfeldwebel zusammen mit einem Kameraden in den Kugelhagel geschickt wurde, um die Gulaschkanone zu holen. Und wie er ein zweites Mal da reingejagt wurde, um den beim Transport verlorenen Topfdeckel zu suchen. Es schien mir so absurd. Ihm auch. Er hat es überlebt, aber ist seelisch und körperlich traumatisiert zurückgekommen.
Ich habe das Glück, in einer bisher kriegsfreien Region zu leben, in Europa. Nun ist er da, der Krieg. Gleich nebenan. Es wird wieder gestorben. Auf allen Seiten. Die ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht verlassen. Und die jungen russischen Soldaten wussten so manches Mal nicht einmal, wohin sie geschickt worden waren.
ihren Kindern. Wenn sie erschöpft die Grenze erreichen, warten da schon die Männer, die sie in die Prostitution abschleppen wollen. Auch an deutschen Bahnhöfen haben die Gentlemen sich bereits positioniert. Die Polizeigewerkschaft warnt.
Auch die Freier sind in freudiger Erwartung. Gleich am ersten Kriegstag schnellte die Google-Suche nach „Ukrainian Girls“ in die Höhe. Und auf Porno-Portalen wie Pornhub oder xHamster wird vermehrt nach Videos unter dem Stichwort „Kriegsvergewaltigungen Ukraine“ gesucht. Es Ukraine“ gejubelt und dass „nun endlich in einen Krieg mit Russland (und seinem Verbündeten China) ziehen lassen wird. Denn das wäre ja Wahnsinn. Es würde einen dritten Weltkrieg bedeuten.
Präsident Selenskyj hatte schon nach wenigen Kriegstagen von der Nato gefordert, ein „Flugverbot über der Ukraine“ zu garantieren. Das wäre es dann gewesen. Doch es gibt tatsächlich auch in Deutschland Scharfmacher, die einen „militärischen Widerstand“ durch die Nato fordern, sonst sei der „ganze Westen geschwächt“ (so zum Beispiel Springer-Chef Mathias Döpfner). Und auch Selenskyj bezichtigte nach der Absage der Nato den Westen der „Schwäche“. Schwächlinge eben, keine Helden.
Zum Glück sind nicht alle Helden. Denn wir brauchen jetzt das Gegenteil: Menschen, die bescheiden und diskret versuchen, zu verstehen und zu vermitteln. Kurzum: den Krieg zu stoppen! Jenseits der Dämonisierung von Putin, der für den Westen jetzt ein „Teufel“ ist. So ist das in Kriegszeiten. Die Schurken, das sind immer die anderen. Wir sind die Guten. Bei einem Kompromiss jedoch muss nach Fehlern und Zugeständnissen auf beiden Seiten gesucht werden.
Ja, es ist eine Schande, dass Putin die Ukraine überfallen hat! Ausgerechnet die Ukraine. Was hatte noch mal die Ukrainerin in den ersten Tagen im Fernsehen gesagt? „Ist der Genosse Putin denn verrückt geworden? Wir lieben uns doch, wir Ukrainer und Russen!“ Schließlich war die Ukraine über Jahrhunderte Teil Russlands und gilt als die Wiege der russischen Kultur. Aber sie ist seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums 1991 eben ein souveräner Staat. Empörung ist also angebracht. Und Hilfe für die so brutal Überfallenen sowieso! Aber Krieg?
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Vor über 20 Jahren, am 21. September 2001, hielt Putin eine viel bejubelte Rede im deutschen Bundestag. Er streckte Deutschland die Hand hin: „Russland ist ein freundlich gesinntes Land“, sagte er. „Wir leisten unseren gemeinsamen Beitrag Da waren seit Deutschlands Krieg mit Russland gerade mal zwei Generationen vergangen. Der hatte 27 Millionen Tote gekostet, was bis heute in fast allen russischen Familien präsent ist. Auch Putins älterer Bruder war eines der Opfer. Er starb als Kind in dem von der deutschen Wehrmacht 27 Monate lang belagerten Leningrad, heute Petersburg. Putins Eltern überlebten nur knapp. Ihr dritter Sohn, Wladimir, kam 1952 zur Welt.
Hat Putin also nicht nur geopolitische Ambitionen, sondern tatsächlich Angst, dass so etwas wieder passieren könnte? Fürchtet er auch darum die Erweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands? Oder hat er uns getäuscht, wie manche vermuten?
Doch was auch immer Putins Motive in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewesen sein mögen, heute scheint er verbittert und verhärtet. Trotzdem muss ein Kompromiss mit ihm gefunden werden! Und zwar bald. Denn Tag für Tag werden weitere Städte zerstört und sterben noch mehr Menschen.
Vermutlich wird die Zusicherung, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied wird, eine EU-Mitgliedschaft in weiter Ferne liegt und der Donbass eine relative Autonomie erhält, Teil eines solchen Kompromisses sein. Doch hätte das nicht schon in den allerersten Kriegstagen angeboten werden können?
Zu guter Letzt noch ein Wort über wahre Heldinnen und Helden. Das sind für mich zum Beispiel die Russinnen und Russen, die es heute, trotz der eiskalten Repressionen, wagen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen. Auch wenn sie zunächst verhaftet werden, werden sie es sein, die allzufernen Frieden beitragen.
Der Text erschien am 17.3.2022 im STERN.