Wann würde Alice Kopftuch tragen?
Die Presse Seit den Neunzigerjahren besuchen Sie die Familie einer muslimischen Freundin in Algerien. Daraus ist Ihr eben erschienenes Buch erwachsen, das Einblick in das Leben mehrerer Generationen gibt. Was hat die Familie zu diesem raffinierten Gruppenporträt gesagt?
Alice Schwarzer „Meine Familie“ ist eine sehr typische, algerische Familie: zwischen Tradition und Moderne. Die Großeltern waren noch Analphabeten, die Großmutter hat zwei ihrer Töchter noch zwangsverheiratet – und die Enkelinnen tragen im Urlaub im Ausland die höchsten High Heels und die kürzesten Miniröcke. Sie sind einerseits exemplarisch, andererseits sehr konkret. Das Buch zeigt sie ja auch auf zahlreichen Fotos. Darum habe ich meine Kollegin Djamila, die Deutsch kann, das Manuskript vorher lesen lassen. Sie hat grünes Licht gegeben. Meine gesamte Großfamilie konnte bis auf Weiteres nur die Fotos bestaunen.
Warum haben Sie das Buch geschrieben?
Ich wollte den Unterschied zwischen frommen Muslimen, wie es auch viele in meiner Familie sind, und fanatischen Islamisten zeigen. Und klarmachen, dass Algerien heute ein Schlüsselland ist, auch für Europa. Kippt diese autokratische Semidemokratie bei den Wahlen 2019 ins Chaos, kippt ganz Nordafrika – und dann schwappt die Welle direkt nach Europa.
Können Sie differenzieren, wie diese Generationen zur Gleichberechtigung stehen?
Unterschiedlich. Djamilas Nichten habe in den „schwarzen Jahren“ studiert und sind, trotz Lebensgefahr, Tag für Tag ohne Kopftuch zur Uni gegangen. Da hingen Plakate mit Sprüchen wie: „Frauen ohne Kopftuch schlagen wir den Kopf ab.“ Einmal entkamen sie um wenige Meter einem Attentat, das ihnen galt. Ihr jüngerer Bruder, der in dieser Zeit zwischen seiner liberalen Familie und seinen fundamentalistischen Kumpels in der Moschee zerrissen war, hat eine emanzipierte Frau geheiratet, wünscht sich aber, dass sie das Kopftuch trägt, „freiwillig“ natürlich, wie er sagt. Sie sehen, in meiner Familie ist die ganze Bandbreite vertreten.
Was lässt Sie hoffen, dass der Fundamentalismus in Algerien nur Episode bleibt?
Mit den Islamisten sind die Algerier durch. Sie haben einfach am eigenen Leib erlebt, wie diese Leute alles massakrieren, was nicht bei drei auf den Knien ist. Aber Algerien ist aufgrund der „schwarzen Jahre“ heute ein tief traumatisiertes Land. Viele flüchten sich in den Glauben, einen rigiden Glauben, der vorher in Algerien unbekannt war. Und die Regierung mit dem alten, kranken Präsidenten Bouteflika an der Spitze ist abwesend. Sie geht weder die ökonomischen Probleme an, noch führt sie offene politische Debatten. Die Algerier sind entsprechend resigniert. Was gefährlich ist, denn 2019 sind Wahlen. Wir müssten also dringend unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu Algerien intensivieren und die wahren demokratischen Kräfte unterstützen.
Hat Ihre algerische Familie zur Silvesternacht in Köln eine Meinung? Was wird von diesen gewaltbereiten Jugendlichen gehalten, die offenbar vor allem aus den Slums von Algier nach Europa gekommen sind?
Die Ansichten sind unterschiedlich. Die meisten wollen es nicht wahrhaben, gucken weg, schämen sich. Eine Minderheit erkennt: Das sind frustrierte, in den Moscheen verhetzte junge Männer, die wegen ihrer Perspektivlosigkeit nach Europa gegangen sind, die traditionelle Frauenverachtung im Gepäck. Nicht nur inmeiner Familie bewundern restlos alle die deutsche Kanzlerin – aber niemand versteht ihre „Naivität“, wie sie sagen, in der Flüchtlingsfrage.
Der Islam wird hierzulande gern auf die Kopftuchfrage reduziert. Sie eignet sich dazu auch optimal, weil es um Macht geht, um ein Symbol der Unterdrückung. Wie sieht das Ihre algerische Familie?
Einerseits wird das Kopftuch toleriert, eine von Djamilas Schwestern, die liebenswürdige Akila, trägt Kopftuch. Seit den Neunzigerjahren, aus Angst. Andererseits wird es von den Frauen der Familie strikt als „Unterdrückungsinstrument“ abgelehnt. Wie von vielen Algerierinnen, auch gläubigen.
Gibt es Situationen, in denen Sie in solch einem Land ein Kopftuch tragen würden?
Ja. In Lebensgefahr.
Sehen Sie in Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Verbündete?
In welchem Punkt?
Als konkretes politisches Beispiel für erfolgreiche Emanzipation.
Merkel hat allein durch ihre Existenz und auch mit der in ihrer Verantwortung gemachten Frauenpolitik viel zum Fortschritt der Emanzipation beigetragen. In Fragen des politisierten Islam allerdings pflegt sie eine mir unverständliche Ignoranz. Bis heute unterscheidet sie nicht zwischen dem Islam als Glauben und dem Islamismus als politischer Machtstrategie und redet bei beiden von „Religion“. Genau das ist übrigens eines der Hauptprobleme bei ihrem zum Teil zu Recht kritisierten Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. Sie solidarisiert sich mit der Minderheit der Vertreter der rückständigen bis islamistischen, scharia-gläubigen Verbände – statt mit der Mehrheit der aufgeklärten Musliminnen und Muslime.
Wer sind dazu also Ihre größten Gegner?
Meine größten Gegner sind die schariagläubigen Muslime und ihre beflissenen, oft auch linken Sympathisanten.
Müssen Sie in reiferem Alter auch über manche Tollheiten der Emanzipation lachen, die vor 40, 50 Jahren abgingen?
Nun, ich bin nicht für alle Torheiten des Feminismus verantwortlich, sondern nur für das, was ich und EMMA geschrieben oder getan haben. Und da bin ich relativ in Frieden mit mir. Eine gewisse Radikalität ist ja auch der Zeit geschuldet. Wir sind damals gegen verschlossene Türen gerannt – und nicht zum Sektempfang zum Frauentag ins Rathaus eingeladen worden.
Das Gespräch führte Norbert Mayer, es erschien am 8. März in "Die Presse".