Wessen Mütter? Wessen Väter?
Ich hatte in dem Moment eingeschaltet, als es um das Thema ging (denn in solchen Talkshows geht es ja meist um viele Themen). Der Historiker Arnulf Baring, Talkshowdauergast und ehrenvoll platziert zur Linken von Lanz, plauderte gerade über seine schöne Kindheit in Berlin. 1943 war er elf, sah optimistisch in die Zukunft. Und verteilte im Kreis seiner Kameraden die Weltherrschaft unter Freunden – denn dass Hitler-Deutschland die erringen und er zu den Herrschenden gehören würde, war klar.
Noch jetzt denkt der heute 80-Jährige gerne an die Zeit zurück. Juden? Ach, das haben wir doch alles gar nicht mitgekriegt! Es gab doch überhaupt nur 500.000 Juden in Deutschland, von denen 350.000 ins Exil gegangen waren. Und die restlichen 150.000… Na, die fielen doch kaum auf. Endlösung? Auch das konnte keiner ahnen!
Und irgendwann kommt das Gespräch auf die Serie und auf Babi Jar. In dieser Schlucht am Stadtrand von Kiew haben SS und SD (Sicherheitsdienst) mit Hilfe der Wehrmacht 1941 innerhalb von 48 Stunden 33.000 Juden ermordet: erschossen, erschlagen, lebendig begraben. Es fällt schwer, auch nur zu versuchen, sich das vorzustellen.
Und da sagt die bis dahin schweigende Marina Weisband, 25, die da sitzt wegen ihres neuen Buches („Wir nennen es Politik“), einen Satz in das Stimmengewirr hinein: „Meine Verwandten haben mir erzählt, dass sich die Erde noch wochenlang bewegt hat.“ Weisband ist in Kiew geboren, gleich neben Babi Jar, und hat dort ihre Kindheit verbracht.
Wenden sich jetzt alle Marina Weisband zu? Sind sie erschrocken? Stellen sie ihr Fragen? Was ihre Verwandten denn erlebt haben? Ob sie manchmal davon träumt? Wie sie, die Jüdin aus der Ukraine, die als Piraten-Politikerin im Netz auch gerne mal als „dreckige Jüdin“ tituliert wird, denn heute mit dieser Geschichte in Deutschland leben kann?
Nein. Weisbands Satz fällt komplett ins Leere. Niemand scheint ihn gehört zu haben. Es wird weiter schwadroniert.
Der Historiker Baring hat, raumnehmend, stimmgewaltig und selbstgefällig, zu allem was zu sagen. Auch zu Babi Jar. Etwas, was Weisband sicherlich noch nicht weiß. Die SS hatte nämlich „nur mit 6.000 Juden gerechnet“. Es kamen aber 33.000. Baring: "Da haben die Deutschen gemerkt: Kinder, so können wir das nicht machen!“ (Wir ZuschauerInnen dürfen den Satz weiter denken: Wie sollte man schließlich mit dieser Menge von Juden fertig werden? Da musste beim Massakrieren ja einiges schiefgehen).
Und überhaupt, wir haben doch alle nichts davon gewusst. KZs, sicher. Aber die hat man für Arbeitslager gehalten. Das haben ihm, dem Historiker, der bei Kriegsende ja erst 13 war und also gar nichts wissen konnte, auch die Herren Weizsäcker, Scheel und Schmidt bestätigt. Die Ex-Bundespräsidenten und der Ex-Kanzler, die als junge Männer an der Ostfront waren, haben auch nichts gewusst. Und was heißt hier überhaupt Täter und Opfer? Schließlich haben „auch Juden Juden verraten“, so Baring. Das muss doch mal gesagt werden: „Auf allen Seiten gab es Täter und Opfer!“
Währenddessen sitzt das Opferkind Weisband neben dem Täterkind Baring und schweigt.
Baring aber macht munter weiter. Fast alle lachen amüsiert über seine Anekdoten. Nur ein deutscher Journalist aus Wien schweigt sichtbar nachdenklich. Zuvor hatte schon die in der DDR aufgewachsene, sehr aufrecht dasitzende Schauspielerin Christiane Paul – die als Schülerin KZ-Gedenkstätten besucht hatte und bestens informiert worden war über die Verbrechen in Hitler-Deutschland – ihrer Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, dass die bis dahin zu dem Thema beharrlich schweigende Marina Weisband sich so gar nicht äußerte, sie „als Jüdin“. Nun pöbelt auch Baring Weisband erneut an: Das könne ja wohl nicht sein, dass sie sich mit diesem Thema nicht beschäftige und anscheinend nichts davon wissen wolle (Weisband hatte gesagt, sie wolle jetzt nicht über ihre Familie sprechen). Da sagt der deutsche Journalist aus Wien: Aber das müssen Sie schon Frau Weisband selber überlassen, wie sie mit dem Thema umgeht.
Ja, das müssen wir wohl Frau Weisband selber überlassen. Wir können nur eines tun: zu einem Klima beitragen, in dem eine Jüdin mit dieser Familiengeschichte es überhaupt wagen kann, ihren unendlichen Schmerz zuzulassen - geschweige denn, darüber zu reden. An diesem Abend aber war das Gegenteil passiert – und Marina Weisband wieder verstummt.
Irgendwann habe ich den Fernseher ausgeschaltet. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Und Marina Weisband aus Kiew bei Babi Jar hat auch kein Wort mehr gesagt.
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Alice Schwarzer: Von Herren- und Untermenschen (EMMA 4/2002)