Alice Schwarzer in anderen Medien

Was macht Ihnen Hoffnung?

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Welches Tier ist das politischste?
Alle Tiere sind ein Politikum! Nämlich indem sie Opfer der Hybris der Menschen sind, unserer mangelnden Achtung vor anderen Lebewesen. Der einzige Verein, in dem ich je in meinem Leben Mitglied war, war der „Bund gegen Missbrauch der Tiere“. Da war ich noch ein Kind. Seither hat sich einiges geändert, im Bewusstsein der Menschen und in den Gesetzen. Aber die Viehtransporte und die Laborversuche gehen weiter.

Welcher politische Moment hat Sie geprägt – außer dem Kniefall von Willy Brandt?
Als Angela Merkel die Hand zum Eid hob. Am 22. November 2005.

Wo waren sie da?
Ich saß oben auf den Besucherrängen, das ZDF hatte mich als Kommentatorin eingeladen. Ich fand es wirklich ergreifend: Diese eine Frau da unten, umringt vor allem von Männern. 87 Jahre nach Erringung des Frauenwahlrechts. Endlich! Die erste Kanzlerin. Seither müssen Mädchen in Deutschland nicht mehr nur davon träumen, Friseurin oder Prinzessin zu werden – sie sehen nun leibhaftig, dass sie auch Kanzlerin werden könnten. Übrigens, ein paar Meter entfernt saß die Familie Merkel. Ich fand erstaunlich, dass die keine Miene verzogen, während ich feuchte Augen hatte. Protestantisch diszipliniert eben. Anschließend haben sie anscheinend Kartoffelsalat gegessen. Ich hätte die Champagnerkorken knallen lassen! Aber ich bin ja auch Rheinländerin.

Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Das war die Wiederaufrüstung in den 1950er Jahren. In meiner Familie wurde darüber sehr leidenschaftlich. Die Schwarzers fanden, nach dem von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieg hätten wir unbewaffnet und neutral bleiben sollen. Und da waren wir ja nicht die Einzigen.

Wann und warum haben Sie wegen Politik geweint?
Nie.

Haben Sie eine Überzeugung, die sich mit den gesellschaftlichen Konventionen nicht verträgt?
Sehr viele! Ich weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Das ist nicht nur in der Frauenfrage so. Denn ich finde es nicht nötig, mit den Wölfen zu heulen.

Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl mächtig zu sein?
Ich gehöre ja noch zu der Protestgeneration, die Mächtigen gerne auf die Füße getreten hat. Im Zuge des „Ich habe abgetrieben“-Aufstandes, den ich angezettelt hatte, fand irgendwann 1971 eine Live-Sendung im Fernsehen statt. Ich saß mit mehreren Feministinnen im Publikum. Und vorne diskutierten eine Reihe hochwichtiger Herren, vom Gynäkologen bis zum Bevölkerungswissenschaftler. Nur Männer. Da bin ich dann mit einer anderen Frau nach vorne gegangen, habe dem Moderator das Mikrofon aus der Hand genommen und gesagt: Schluss, jetzt reden wir! Ich sah mich da stehen und dachte: Schick, so einfach ist das.

Und wann haben Sie sich besonders ohnmächtig gefühlt?
In der Pornografiedebatte. Damit wir uns recht verstehen: Unter Pornografie verstehe ich nicht nackte Haut oder Sex, sondern die Verknüpfung von sexuellem Begehren mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt. EMMA hatte 1988 mal wieder einen neuen Vorstoß gemacht, die PorNO-Kampagne. Und da war ich eingeladen beim SFB zu einer Diskussion mit einer linken Professorin, die war etwa zehn Jahre älter als ich und im Existenzialismus steckengeblieben. Was dabei eine Rolle spielte. Wir stritten, und dann sagte sie: Also, ich finde Pornografie geil! Abgesehen von der Obszönität dieser Aussage war ganz klar, dass sie sich anbiedern wollte bei den Männern. Zu spät. Ich fand das so tragisch, dass es mir die Sprache verschlagen hat.

Wenn die Welt in einem Jahr untergeht - was wäre bis dahin Ihre Aufgabe? Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum pflanzen.
Ich würde genauso weitermachen wie jetzt. Vielleicht ein bisschen den Fuß vom Gas nehmen.

Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Es ist spannender, dagegen zu sein, natürlich. Aber eigentlich bin ich ein harmoniesüchtiger Mensch und bin gerne auch dafür.

Sie sind wirklich harmoniesüchtig?
Naja, harmoniesüchtig ist vielleicht das falsche Wort. Aber ich mag Menschen und freue mich über Gemeinsamkeiten. Wenn es sein muss, mache ich mich allerdings auch unbeliebt. Manchmal sogar sehr gerne.

Welche politischen Überzeugungen haben Sie über Bord geworfen?
Sehr wenige. Aber ich gehöre natürlich schon zu einer fortschrittsgläubigen Generation, die lange dachte, jetzt geht alles immer weiter voran. Da musste ich, wie viele andere, lernen, dass die Geschichte ein ständiges Vor und Zurück ist. Was ich gerade als Frau noch lernen musste: Die Linke ist nicht immer modern. Und es gibt auch Konservative, die fortschrittliche Menschen sind. Ich habe mir also schon lange angewöhnt, nichts auf Labels zu geben, auf links oder rechts und diese ganzen Schubladen.

Könnten Sie jemanden küssen, der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Ja, natürlich. Aber nur der erste Kuss. Danach würde ich sagen: Wir müssen reden.

Haben Sie mal einen Freund wegen Politik verloren? Und wenn ja – vermissen Sie ihn?
Ich habe etliche Freundinnen verloren. Ich erinnere mich zum Beispiel, als Sarkozy zur Wahl stand, machte Liberation eine Umfrage, und ich wurde auch gefragt: Was halten Sie von Sarkozy? Ich antwortete, dass ich ihn nicht unbedingt wählen würde, aber dass ich seinen Lebenslauf interessant fände. Aufgewachsen bei jüdischen Großeltern, die vor den Nazis fliehen mussten, und aus für das klassenarrogante Frankreich atypischen Verhältnissen. Am Tag vor der Wahl telefonierte ich mit einer feministischen Freundin, einer algerischen Jüdin. Die schrie durchs Telefon, wie ich sowas über so einen Rechten sagen könne. Ich musste das Telefon weghalten. Über Jahre sprach sie nicht mehr mit mir. Und ich war‘s auch leid. Rigidität finde ich unerträglich.

Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Mindestens drei. Erstens, indem ich die Zinsen meines Schweizer Kontos nicht versteuert habe. Zweitens, indem ich gelegentlich schwarz gefahren bin. Drittens, indem ich, obwohl ich persönlich nie abgetrieben habe, 1971 die Selbstbezichtigung der 374 Frauen initiiert habe, die sagten: „Ich habe abgetrieben“.

Waren Sie als Schüler beliebt oder unbeliebt, und was haben Sie daraus politisch gelernt?
In der Grundschule war ich ein bisschen einsam. Ich komme ja aus sehr randständigen Verhältnissen und stand ziemlich daneben. Die Bluse war nicht immer ganz fleckenfrei, das Heft verknittert… Ich musste also lernen: Es geht auch alleine.

Welche politische Ansicht Ihrer Eltern war Ihnen als Kind peinlich?
Gar keine, ich war eher stolz auf sie. Ich fand meine Großeltern, bei denen ich aufgewachsen bin, vor allem meine Großmutter, politisch immer großartig, gerade weil sie so kritisch waren. Und auch so mutig. Tapfere Anti-Nazis, was auch nach 1945 nicht unbedingt angesagt war. Es gab in unserem Dreierboot - meine Großmutter, mein Großvater und ich - nur ein tödliches Vergehen: Spießig sein. Das waren in der Regel die anderen, wir nicht.

Nennen Sie eine gute Beleidigung für einen bestimmten politischen Gegner.
Den ignoriere ich doch noch nicht mal.

Welcher Politiker hat Ihnen zuletzt leid getan?
Politiker tun mir oft leid, das ist ja ein Höllenjob. Zuletzt war es Andrea Nahles. Ich kannte sie nicht gut, vieles an ihr war mir fremd. Aber diese demütigende Art, wie es zu Ende ging. Das erinnerte mich an eine andere SPD-Politikerin: Marie Schlei, eine tolle Frau, zuletzt Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sie hat ihre Entlassung aus dem Schmidt-Kabinett im Jahr 1978 aus der Zeitung erfahren. Ihr folgten viele geköpfte Genossinnen. Die SPD scheint ein ganz besonderes Händchen zu haben beim Frauendissen.

Welcher Politiker müsste Sie um Verzeihung bitten?
Herta Däubler-Gmelin. Für manches schätze ich sie, aber sie hat als Sozialdemokratin ab 1975 diesen gefährlichen § 218 als guten Kompromiss bejubelt. Das Gesetz gibt bis heute Frauen nicht das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, sondern gewährt nur die Gnade. Mich hat sie öffentlich geschmäht, weil ich gewarnt hatte vor der gefährlichen Reform.

Welcher Politiker sollte mehr zu sagen haben?
Ich sehe niemanden. Vielleicht kenne ich zu wenige wirklich gut. Darf ich was anderes sagen? Ich wünsche Ursula von der Leyen alles Gute für ihren neuen Job.

Welche politische Phrase möchten Sie verbieten?
Das Bohren dicker Bretter.

Finden Sie es richtig, politische Entscheidungen zu treffen, auch wenn Sie wissen, dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Ja, selbstverständlich. Ich finde es ganz fatal, verachte es regelrecht, dass sich die Politik so sklavisch nach den Meinungsumfragen richtet. Die Politiker müssten mehr Mut haben, auch mal zu sagen: Ja, ich mache mich unbeliebt, aber es ist richtig, das zu tun. Ich glaube, das fänden letztendlich auch viele Bürgerinnen und Bürger gut.

Was fehlt unserer Gesellschaft?
Mehr Mitgefühl und mehr Miteinander. In den letzten Jahrzehnten erleben wir eine rasante Entwicklung zum Individualismus und Egoismus. Das hat auch mit dem Kapitalismus zu tun, klar. Die Menschen sind zu einsam.

Welches grundsätzliche Problem kann Politik nie lösen?
Mich hat mal eine sehr tüchtige Journalistenkollegin, mitten in ihrer Midlife Crisis, in einem Interview verzweifelt gefragt: Frau Schwarzer, wie sollen wir das jetzt machen mit den Männern? Da habe ich geantwortet: Die Politik kann nicht das ganze Leben regeln.

Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Ja. Ich bin Teil des Klimaproblems, wie wir alle. Und spätestens seit Greta, die ich wirklich beeindruckend finde, habe ich ein schrecklich schlechtes Gewissen. Wir bei Emma verteilen neuerdings Thunbergs, das sind Negativpunkte, wenn wir Klimasünden begehen. Ein Flug kostet zehn Thunbergs. (lacht)

Nennen Sie ein politisches Buch, das man gelesen haben muss.
Es ist natürlich „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir, das Fundament des modernen Feminismus. Und von Judith Herman „Narben der Gewalt“. Die amerikanische Psychiaterin zeigt auf brillante Weise die Parallelen bei den Traumata von Kriegsveteranen oder Holocaust-Überlebenden; mit Frauen in der Prostitution oder Opfern so genannt privater Gewalt. Und sie analysiert dabei die immer gleichen geschlossenen Systeme.

Bitte auf einer Skala von eins bis zehn: Wie verrückt ist die Welt gerade? Und wie verrückt sind Sie?
Ist die Welt wirklich verrückter als früher? Oder erfahren wir nur mehr über den Wahnsinn dank der modernen Medien? Ich habe in den 60er Jahren hochintelligente Linke erlebt, die allen ernstes die Mao-Bibel zum Maß aller Dinge erklärt haben und nicht mehr von Kilometern, sondern in dem chinesischen Längenmaß Li sprachen. Also, die Welt heute: Fünf. Und ich? Vermutlich auch fünf.

Der beste politische Witz?
Ich kann mir keine Witze merken.

Was sagt Ihnen dieses Bild (AKK, Angela Merkel, Ursula von der Leyen)?
Wow! Ich war begeistert von dem Anblick! Okay, Mädels, legt los!

Wovor haben Sie Angst - außer dem Tod?
Vor Gewalt.

Was macht Ihnen Hoffnung?
Wenn ich morgens aufwache, auf dem Land, die Sonne geht auf, der Tau liegt noch auf der Wiese, und die Vögel fangen an zu singen.

Die Fragen stellte Stephan Lebert.

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