Zweiter offener Brief an Käßmann
Liebe Margot Käßmann, dies ist mein zweiter offener Brief an Sie innerhalb weniger Wochen. Doch auch in meinen kühnsten Vorstellungen hätte ich mir Anfang des Jahres – als ich Ihnen meinen Respekt für Ihre so klaren Worte zum Krieg in Afghanistan ausdrückte – nicht vorstellen können, dass Sie nur acht Wochen später nicht mehr im Amt sein würden. Denn dass ein Mensch wie Sie nichts tun würde, was ihn zwingt, dieses Amt aufzugeben, war anzunehmen. Und Ihre Gegner – diese nicht zu unterschätzenden ewig Gestrigen in Ihrer Kirche, die finden, dass eine Frau, und eine geschiedene dazu, als EKD-Vorsitzende unpassend ist – die hatten Sie ja gerade so strahlend überwunden. Grund zu eitel Freude also. Freude darüber, dass ein halbes Jahrhundert nach der ersten Pfarrerin endlich auch an der Spitze der Evangelischen Kirche Deutschlands eine Frau ist! War.
"Mein Herz sagt mir ganz klar: Ich kann nicht mehr mit der notwendigen Autorität im Amt bleiben", haben Sie bei Ihrem Rücktritt erklärt. Das ist sympathisch, sehr sympathisch. Aber ich hätte mir gewünscht, dass Sie auch Ihren Kopf sprechen lassen. Und der hätte Ihnen nicht minder klar gesagt: Eine Erste Bischöfin wie dich kann Deutschland bestens gebrauchen!
Sicher, es war ein Fehler, mit 1,54 Promille Auto zu fahren. Das gibt einem aufrechten Menschen wie Ihnen zu Recht Grund zu Scham und Reue, vom Ringen um zukünftige Glaubwürdigkeit ganz zu schweigen. Auch hätte es zweifellos noch lange Häme gehagelt.
Doch hätten Sie das alles nicht aushalten sollen? Die Mehrheit der Menschen hat ja längst verstanden, dass auch eine Bischöfin nur ein Mensch ist. Und selbst der oberste Rat der EKD hatte Ihnen sein uneingeschränktes Vertrauen ausgesprochen – auch wenn es zweifellos gleichzeitig reichlich Scheinheiligkeit in Ihren eigenen Reihen gibt. Zu vielen konservativen Kräften war es ja schon lange zu viel mit Ihnen: 1. Frau, 2. geschieden. Und jetzt auch noch 3. ein Glas zu viel.
Dennoch, Sie hätten es durchhalten können. Denn eine Frau wie Sie auf diesem Posten – das war für uns alle einfach zu wichtig. Für uns Frauen. Für die fortschrittlichen ProtestantInnen. Und für das ganze Land. Es ist ja auch nicht zu übersehen, dass Ihr Geschlecht selbst bei Ihrem Rücktritt eine Rolle gespielt hat. Nach innen wie nach außen.
Ein Mann in Ihrer Lage wäre nicht zurück getreten. Man hätte die Geschichte vermutlich gar nicht als so skandalös empfunden. Mit Männern in der Kirche sind wir schließlich ganz andere Probleme gewöhnt. Nicht selten werden da nicht etwa Kavaliersdelikte, sondern Verbrechen vertuscht – wie jetzt wieder im Fall des Kindesmissbrauchs durch Jesuitenpater.
Liebe Margot Käßmann, Sie sehen, ich bedauere über alle Maßen Ihren Rücktritt. Der einzige Trost, der mir bleibt, ist, dass es Ihnen persönlich vielleicht, hoffentlich damit besser geht.
Mit traurigen aber herzlichen Grüßen
Ihre Alice Schwarzer