(Sexual)Gewalt gegen Frauen:

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Sind Sie eine Frau? Wenn ja, dann stellen Sie sich nur einmal und wenigstens ein paar Minuten lang Folgendes vor: Wir leben in einer Welt, in der es alle Freuden und Probleme gibt, die Sie kennen. Liebe und Hass, Freiheit und Abhängigkeit, Sinnlichkeit und Gewalt. Nur ein Problem gibt es nicht: Es gibt auf der Straße keine Sexualverbrecher mehr, weder Vergewaltiger noch Lustmörder. Es gibt zwar immer noch die private (Sexual)Gewalt gegen Frauen, aber wenigstens keine öffentliche mehr.

Können Sie sich vorstellen, wie wir Frauen uns in einer solchen Welt bewegen würden? Wie wir durch die Straßen schlendern. Wie wir in langen Sommernächten im Park sitzen (zwar immer noch auf der Hut vor Räubern, aber befreit von der Angst vor Vergewaltigern). Wie wir auf Abenteuerreisen gehen, quer durch den Dschungel der Städte und der Natur. Wie frei wir wären. Wie übermütig und verwegen. Es wäre ein anderes Leben! Ein Leben, das jeder Mann kennt. Ein Leben, von dem Frauen noch nicht einmal etwas ahnen.

Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist seit Jahrtausenden ein Machtverhältnis, in dessen Strom sich nur Einzelne auf Inseln der Zärtlichkeit und des Respekts retten können. Machtverhältnisse aber, auch die zwischen den Geschlechtern, funktionieren nur, solange die Unterdrückten stillhalten. Dazu müssen sie Angst haben, müssen diesen Preis zahlen, sichtbar zahlen. Das ist logisch. Zur wahren Machterhaltung aber gehört immer auch die scheinbare Unlogik: die Willkür des Terrors. Es kann jede treffen. Egal, was sie tut.

Für uns Frauen bedeutet das: Eine jede ist Opfer von Sexualgewalt oder kann es werden - egal wie stark oder selbstbewusst sie ist. Für die Männer heißt das: Ein jeder ist Täter oder kann es werden - egal wie schwach oder bewusst er ist. Denn das Furchtbare ist, dass der Mann seinen eigenen Körper zur Waffe gemacht und Liebe mit Hass schier unlösbar verknüpft hat. Diesen Körper haben Frauen lieben gelernt - und hassen.

Alle Frauen wissen um die Gefahr, auch die, die sie nicht wahrhaben wollen: Unsere Mütter haben sie uns zugewispert, oft ohne Worte; unsere Schwestern werden vor unseren Augen ihre Opfer; und unseren Freunden sind wir dankbar, wenn sie keine Täter sind. Dieses Wissen um die drohende Erniedrigung und Zerstörung sitzt tief in uns allen. Es prägt jedes Gefühl, jeden Gedanken, jede Regung. Und sollten wir es in Momenten des Übermuts einmal vergessen, erinnert uns spätestens die rituelle Tagesmeldung über die Vergewaltigung oder den Sexualmord von nebenan wieder daran.

Im Interessenkonflikt zwischen Völkern und Rassen wird geschossen und gebombt. Im Interessenkonflikt zwischen den Geschlechtern wird gerammelt und gewürgt. Aber erst der Lustmörder macht uns wirklich klar, dass wir Frauen der allerletzte Dreck sind. Eine, die man nicht nur dumm anmachen, antatschen und vergewaltigen kann, sondern eine, die man auch zerstören und zerstückeln kann. Eine, die Lust macht - Lust zu töten.

Auf dem Schlachtfeld dieses längsten und nie erklärten Krieges der Menschheitsgeschichte haben Vergewaltiger und Lustmörder eine wichtige Funktion: Vergewaltiger sind die "Stoßtrupps, die terroristischen Guerillas" (Susan Brownmiller). Und Lustmörder, Lustmörder sind die Elite, die SS des Patriarchats. Ihre Opfer sind nie nur Zufallsopfer, sondern immer strategisch unentbehrlich zum Machterhalt. Denn sie dienen der Einschüchterung aller Frauen: Seht her, das machen wir mit einer wie euch.

Konfliktforscherinnen haben entdeckt, dass in Gesellschaften mit stabilen Geschlechterverhältnissen am wenigsten und mit instabilen am meisten vergewaltigt wird. Stabil meint: gefestigt gleich oder gefestigt ungleich. Instabil meint: erschüttert durch Frauen, die die Vorherrschaft von Männern in Frage stellen. Sexualgewalt ist also keine Frage von Lust, sondern eine von Macht. Und Sexualgewalt ist eine politische Gewalt: Ihre Opfer sind politische Opfer.

Dies zu Ende zu denken, ist bedrückend. Aber es ist auch ermutigend. Denn nur wenn wir der Wahrheit ins Gesicht sehen, können wir sie auch begreifen - und beginnen, sie zu verändern.

Von sympathisierenden Männern müssen wir die eindeutige Absage an jegliche Sexualgewalt fordern, Hilfe beim Schutz von Frauen und Bekämpfung der Sexualverbrecher. Von einem Staat, der vorgibt, nicht länger ein Männerstaat, sondern eine Demokratie für alle sein zu wollen, ist zumindest das Ernstnehmen der Sexualgewalt zu erwarten, das Erkennen ihres Ausmaßes und Bekämpfung ihrer Wurzeln. Dazu gehört auch, dass die Täter endlich ernstgenommen und nicht nur entschuldigt werden. Denn nur die Erkenntnis von Schuld ermöglicht auch die Verarbeitung und gibt damit eine Chance zur Veränderung.

Und wir Frauen? Verdrängen und Leugnen nutzt wenig. Sich beugen noch weniger. Erobern wir uns also den Stolz zurück. Greifen wir nach den Sternen - auch nachts.
Alice Schwarzer in EMMA 6/1994, veröffentlicht in "Alice im Männerland - eine Zwischenbilanz" (Kiepenheuer & Witsch, 2002).

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