Abtreibung: Nur ein halber Sieg
Haben wir dafür 22 Jahre gekämpft? Für diesen scheinheiligen Kompromiss, der es dem Papst genauso recht machen will wie der mündigen Bürgerin? Gewiss nicht! Aber unter den herrschenden Umständen hätte es in der Tat noch schlimmer kommen können. Und darum mischt sich in meinen Zorn eine gewisse Erleichterung.
Das Bundesverfassungsgericht hat lange gezögert mit dem Urteil, vermutlich weil starke Kräfte eigentlich die ganze Reform kippen wollten. Was jetzt herausgekommen ist, ist für uns Frauen ein halber Sieg und eine halbe Niederlage zugleich. Der halbe Sieg ist wieder einmal ausschließlich dem Druck von Frauen zu verdanken.
Das Entscheidende am jetzigen Verfassungsurteil: Abtreibung ist kein Recht, sondern eine Gnade. Frauen dürfen abtreiben, aber sie sollen ein schlechtes Gewissen haben und schön Bittebitte machen. Und: Zur Strafe müssen sie auch noch selbst zahlen was die Frauen ohne eigenes Geld treffen wird, vor allem junge Frauen und Hausfrauen. Der Karlsruher Spruch ist also eine Verbesserung der westlichen Indikationslösung von 1975 und eine Verschlechterung der östlichen Fristenlösung von 1972.
Die Verschlechterung für den Osten: Ungewollt Schwangere müssen sich für einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen in Zukunft eine formale Erlaubnis holen. Diese Zwangsberatung kann allerdings auch anonym stattfinden, was nicht unwichtig ist. Und sie müssen den Abbruch selbst bezahlen was die noch häufig arbeitsloseren und noch unterbezahlteren Frauen im Osten noch härter treffen wird.
Die Verbesserung für den Westen: Bei der so genannten Indikationsregelung lag es nicht in der Hand der Schwangeren, sondern in der Hand der Beratenden, ob die Abtreibung gemacht werden durfte oder nicht. Je nach Bundesland und Beratungsstelle wurde der ungewollt Schwangeren bisher die Gnade gewährt oder auch verwehrt. Jetzt kann die Frau, nach erfolgter Beratung, selbst bestimmen, ob sie Mutter werden will oder nicht.
Sehr aufschlussreich ist, dass bei diesem Urteil genau das, worauf es den BefürworterInnen des § 218 in all den Jahren ankam, erhalten bleibt: nämlich die Entmündigung und Bevormundung von Frauen. Denn genau darum geht es ja seit den 122 Jahren, in denen Frauen in Deutschland unter allen Umständen (sogar bei drohender Todesstrafe im Nazireich) abgetrieben haben. Der Streit um den § 218 ging in Wahrheit noch nie darum, ob abgetrieben wurde, sondern wie abgetrieben wird. Tun wir es selbst bestimmt, in Würde und mit maximalem medizinischen Beistand? Oder tun wir es bevormundet und gedemütigt mit widerwilligen oder gar sich verweigernden Ärzten?
Das Weib soll in Schmerzen gebären, und es soll in Demut und mit schlechtem Gewissen abtreiben das ist die Moral von der Geschicht. Sie wollen uns Frauen auch noch an der Schwelle des 21. Jahrhunderts eine selbst bestimmte Mutterschaft verbieten. De jure werden wir nun erst einmal mit diesem Urteil leben müssen. Doch den symbolischen Gehalt dieses hohen Richterspruchs Gnade statt Recht dürfen wir nicht hinnehmen. Schließlich ist Deutschland kein Gottesstaat, sondern eine Demokratie. Und Abtreibung ist keine Gnade, sondern unser Recht.
Wann eigentlich dürfen wir Frauen endlich weiterdenken, über die Mutterschaft, gewollt oder nicht gewollt hinaus? Ist das eines der Motive dieser nicht endenden Abtreibungsdebatte: dass wir ewiglich auf der Stelle treten, statt endlich nach neuen Horizonten zu blicken?
Alice Schwarzer in EMMA 4/1993, veröffentlicht in "Alice im Männerland - eine Zwischenbilanz" (Kiepenheuer & Witsch, 2002).
Weitere Texte zu Abtreibung
Abtreibung, die unendliche Geschichte (Alice im Männerland 2002)
Der Appell der 374 (Stern 1971)
Und ewig zittere das Weib (EMMA 9/1990)
Gesamtdeutsches Recht - oder Unrecht? (EMMA 4/1993)
Neue Offensive der Dunkelmänner (EMMA 2/1998)
EMMA Kampagne Abtreibung