„Es ist unser gemeinsamer Kampf!“
Liebe Waris Dirie, Sie haben mit Ihrem Buch "Wüstenblume" 1999 die Welt aufgerüttelt und dazu hat sehr viel Mut gehört. Sie werden die Laudatio für Cornelia Strunz halten, Berlinerin und Ärztin, die dazu beiträgt, zu versuchen, die schweren körperlichen Verstümmelungen rückgängig zu machen. Das ist natürlich nicht wirklich möglich und dann ist da auch noch die Seele - aber darüber werden Sie ja sprechen.
Ich möchte auch noch mal erinnern an Nasrin Sotoudeh, die den HeldinnenAward im letzten Jahr erhalten hat. Sie hat mir gestern geschrieben und lässt Sie alle sehr herzlich grüßen. Vor allem gratuliert sie den Preisträgerinnen, denn auch für die iranische Anwältin und Menschen- und Frauenrechtlerin, die im letzten Jahr den HeldinnenAward bekommen hat, ist natürlich auch die Genitalverstümmelung eine schwere Verletzung der Menschenrechte. Und sie ist selbstverständlich solidarisch mit Ihrem Kampf. Nasrin war im letzten Jahr mal wieder im Gefängnis. Sie war sehr viel im Gefängnis - Charakter und Mut-Haben, das kostet in einer islamistischen Diktatur wie Iran einen sehr hohen Preis. Zu unserer großen Freude ist sie drei Tage nach der Verleihung des HeldinnenAwards aus dem Gefängnis entlassen worden. Was ganz sicherlich auch etwas damit zu tun hatte, dass diese Veranstaltung von dem freien internationalen iranischen Fernsehen in die ganze Welt übertragen wurde, auch in den Iran und dort eine große Debatte ausgelöst hat.
Nasrin Sotoudeh hat mich gebeten, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesen Zeiten der internationalen Krisen und der Unruhen in ihrem Land die Verhängung der Todesstrafe sprunghaft gestiegen ist. Und wie wahnsinnig wichtig es sei, dass man gegenseitig Respekt und Hochachtung für den Kampf anderer ausdrückt und Schulter an Schulter vorangeht. Diese Solidarität und Gemeinschaft hat ihr ja auch sehr konkret geholfen. Beachten Sie also bitte die aktuellen Verhältnisse innerhalb des Iran, die im Schatten der internationalen Konflikte untergehen. Da denkt man jetzt wenig an die Menschen im Iran.
Doch lassen Sie mich auf das Hauptthema unserer Veranstaltung kommen: die genitale Verstümmelung. Feministinnen haben den Begriff Sexualgewalt geprägt. Sexualgewalt, das geht vom Missbrauch von Kindern bis hin zur Vergewaltigung. Diese Sexualgewalt ist der harte Kern der Unterdrückung von Frauen weltweit, in westlichen Demokratien wie Deutschland – wo zum Beispiel in Corona-Zeiten die Sexualgewalt gestiegen ist, innerhalb des eigenen Schlafzimmer genauso wie auf den Straßen - bis hin zu Ländern mit solchen dramatischen, so genannten Traditionen wie der Genitalverstümmelung.
Die Genitalverstümmelung hat vier verschiedene Formen. Bei der kleineren Verstümmelung - wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt klein sagen darf -, wird die Klitoris entfernt. Es kann aber so weit gehen, dass auch die äußeren und inneren Schamlippen entfernt werden, man noch hinein geht in die innere klitorale Struktur und die Wunde bis auf eine winzige Öffnung wieder zunäht.
Die Klitoris ist, wie wir inzwischen wissen, das körperliche Zentrum der sexuellen Lust. Vor 50 Jahren war das noch nicht so bekannt, da war das Gelächter groß in Deutschland, wenn ich zum Beispiel gesagt habe, dass es die Klitoris gibt und welche Funktion sie hat. Nach der tristen Tradition, die nicht religiös begründet ist und die in Afrika praktiziert wird, oder auch in Ägypten und Indonesien, wird die Klitoris entfernt und damit den betroffenen Frauen nicht nur das Zentrum ihrer sexuellen Lust geraubt, sondern sie in der Regel auch lebenslang verwundet. Diese Wunde schwelt, sie ist oft entzündet. Sowohl Geschlechtsverkehr wie Geburten sind wahre Folter.
Man muss sich einen Moment hineinversetzen: Das, was eigentlich Quelle der Freude und des Lebens sein soll, ist eine permanente Bedrohung und Qual. Damit ist das Leben eines weiblichen Menschen weitgehend zerstört.
Als EMMA in ihrer dritten Ausgabe 1977 zum ersten Mal darüber berichtete, bekamen wir Waschkörbe von Briefen von Frauen. Sehr kluge Briefe aus dem deutschsprachigen Raum. Von Frauen, die sagten: Das ist ja entsetzlich! Was können wir tun? Die aber auch sagten: Auch wir werden seelisch verstümmelt, auch wir kennen das Zentrum unserer Lust nicht. Und es ist in der Tat auch in unserer Kultur noch nicht so lange her, dass man Frauen die Klitoris ebenfalls operativ entfernte, weil ihre Auflehnung als „hysterisch“ galt und die Klitoris als Auslöser dieser Hysterie. Was ebenfalls erschütternd ist, aber natürlich kein Vergleich mit der körperlichen Genitalverstümmelung, die ein ganz anderes Ausmaß hat.
Von wem reden wir eigentlich? Wir reden von 230 Millionen betroffenen Frauen in der Welt. Alle acht Minuten wird erneut ein junges Mädchen, eine Frau verstümmelt. Und wir reden davon, dass das nicht nur in den fernen Ländern passiert, sondern hier bei uns, mitten in Deutschland, nebenan. Wir haben nach Schätzungen heute in Deutschland 75.000 genitalverstümmelte Mädchen und Frauen. Und 20.000 junge Frauen und Mädchen, die akut bedroht sind. Für sie bemühen sich unsere Preisträgerinnen um Hilfe und Schutz.
1977 wurde die Genitalverstümmelung besonders von Teilen der fortschrittlichen und antikolonialistischen, westlichen Linken noch kulturrelativistisch als „andere Sitten“ bezeichnet: So ist das eben bei denen. Wir Feministinnen, die damals anfingen, die betroffenen Frauen zu kontaktieren und sie mit ihnen gemeinsam – das war von Anfang an klar – zu helfen und zu schützen, wurden als „elitäre, weiße Europäerinnen“ beschimpft, die sich gefälligst aus anderen Traditionen raushalten sollen. Wir kennen das bis heute. Wir haben uns nicht einschüchtern lassen. Und so sind wir heute hier - Europäerinnen und Afrikanerinnen - verbunden in einem gemeinsamen Kampf.
EMMA hat 1977 als Erste über die Klitorisverstümmelung berichtet, das ist auch schon fast 50 Jahre her. EMMA war damals die einzige in Deutschland, aber nicht in der Welt. Da ging es los, dass man das Ausmaß des Desasters erkannt und versucht hat, gegen dieses Verbrechen anzugehen.
Das Erschütternde ist, dass seither die Klitorisverstümmelungen nicht etwa weniger geworden sind, sondern dass sie steigen. Lassen Sie sich das einmal durch den Kopf gehen: Das Verbrechen steigt! Es ist in den letzten 50 Jahre nicht etwa weniger geworden, sondern mehr. Warum? Die Gründe sind vielfältig, sicherlich ist es auch Armut und der damit verbundene Rückgang von Aufklärung. Aber ein Grund wird sein, dass auch in den afrikanischen und anderen betroffenen Ländern, wie Ägypten und Indonesien, die Frauen begonnen haben, aufzuwachen und unbequem zu werden. Mütter haben begonnen, ihre Töchter zu schützen. Also hat man dieses Instrument der Unterdrückung und Zerstörung der Frauen - auch seelischen Zerstörung -, noch verschärft. Das heißt, wir sind mehr denn je gefordert, Widerstand zu leisten!
Der Widerstand hier in Europa hat nicht zufällig in Frankreich begonnen, wo sehr viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien leben, die ihre dusteren Traditionen mitgebracht haben. Es ist in Frankreich immerhin gelungen, klarzumachen, dass Klitorisverstümmelung ein Verbrechen ist. Ein Verbrechen, das bestraft werden muss, auch wenn die Menschen, die das Verbrechen begehen - wie die Beschneiderinnen oder die Mütter und Tanten, die die Opfer bringen - sich dessen selbst nicht bewusst sind. In Frankreich wurde erstmals 2009 eine Beschneiderin verurteilt, was heftige Debatten auslöste.
Was ist die Rolle der Eltern, zum Beispiel auch, wenn sie hier in Europa leben? Die ist natürlich schwierig. Zum einen machen die Männer das Gesetz. Die Frauen sind in der Regel noch so ohnmächtig, dass sie ohne die Solidarität der Männer nicht dagegen ankommen, nichts ausrichten können. Darum richtet sich aktuell schon seit längerem die Aufklärung verstärkt auch an die Männer in den betroffenen Ländern, vor allem: an die mächtigen Männer. Das Ziel ist, wie das in der jüngeren Vergangenheit öfter gelungen ist, die mächtigen Männer für die Sache zu gewinnen, so dass sie sagen: Es muss nicht mehr so sein, dass eine Frau genitalverstümmelt wird. Sie ist nicht nur dann eine „richtige Frau“ oder kann heiraten. Denn eine nicht verstümmelte Frau gilt für die Familie noch bis heute als Schande.
Die Sache ist also komplex und man muss schon sehr an diesem dusteren Verließ, in das die Frauen eingesperrt sind, rütteln. Der erste Schritt ist, Bewusstsein zu schaffen, auch in Deutschland. Da sind die 75.000 Frauen und Mädchen und 20.000 aktuell weiterhin Bedrohte. Wir sind angewiesen auf Ärzte, die genau hinschauen; wir sind angewiesen auf Lehrerinnen, die aufmerksam sind; wir müssen die Mütter dieser bedrohten Töchter stärken und die Väter aufklären.
Wir haben es schon, aber wir brauchen es noch mehr: Das gemeinsame Engagement von den so genannten privilegierten weißen Europäerinnen oder Amerikanerinnen und den schwarzen betroffenen Frauen. Es ist kein Zufall, das heute von der Stiftung eine Afrikanerin und eine Europäerin, eine Berlinerin geehrt werden. Denn angesichts dieses dusteren Verbrechens, von dem Millionen Frauen betroffen sind, sind wir alle gefordert, und zwar Arm in Arm, Schulter an Schulter. Ich freue mich, dass wir das heute hier richtig sinnlich erleben!
Sie werden jetzt gleich einen Film sehen, einen Auszug aus dem Dokumentar-Spielfilm „Warrior Marks“ aus dem Jahr 1993 – was keine Rolle spielt, er könnte auch gerade gestern gedreht sein -, der gemacht worden ist von Alice Walker. Die Afro-Amerikanerin ist ihnen sicherlich als Autorin der „Farbe Lila“ ein Begriff. Und Pratibha Parmar, eine renommierte Dokumentarfilmerin, die in England lebt.
Ich bin glücklich, hier sein zu dürfen und dieses Instrument des HeldinnenAwards zu haben. Denn ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir uns gegenseitig achten und bewundern, wenn wir mutig sind. Und ich möchte den beiden Preisträgerinnen und auch der Laudatorin Waris Dirie sagen, dass ich sie aus tiefstem Herzen für ihren Kampf bewundere.
ALICE SCHWARZER, VORSTANDSVORSITZENDE DER ALICE-SCHWARZER-STIFTUNG
Verleihung des HeldinnenAwards am 25. Oktober 2024 im Roten Rathaus Berlin.