Stern - 4.9.1975: Der Männerschreck

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Sie gebraucht weder Lippenstift noch Büstenhalter, schmucklos sind ihre Kleider, weit geschnitten, wadenlang, hängig. Die Bild-Zeitung sagt ihr einen stechenden Blick nach, auf jeden Fall lassen die blauen Augen unter dem blonden Pony Intelligenz erkennen, Angriffslust, aber auch Humor. Ihre Nase ist groß, die Oberlippe dünn, das Kinn kräftig und der Redefluss gewaltig. Oft unterstreicht sie ihre Sätze durch schnelle Vorwärtsbewegungen der Rechten, so als schwinge sie einen unsichtbaren Säbel. Agitatorin und Amazone in einem, ist Alice Schwarzer angetreten, die Männerherrschaft zu brechen. Innerhalb von knapp fünf Jahren schrieb und redete sich die gebürtige Wuppertalerin an die Spitze einer bundesdeutschen Frauenbewegung, die nicht nur gleiches Recht in Ehe, Beruf und Staat anstrebt wie die Männer, sondern die Macht überhaupt. Zwar - nach außen erscheint die Frauenfront zersplittert in Hunderte von Debattiergruppen, aber ihre Ideen sickern unablässig in weibliche Gehirne. Ignoriert von den Männern, die nicht sehen wollen, was sie nicht sehen mögen, marschiert die Frauenrevolution auf Schleichwegen, und Alice Schwarzer vorne weg.

Spätestens eine spektakuläre Fernsehdiskussion im vergangenen Februar machte die 32-jährige Journalistin bei den unzufriedenen Frauen im Lande populär. Wie ein Maschinengewehr ratterte damals die Schwarzer auf ihre intimste Feindin ein, Esther Vilar. Die Bestsellerautorin hatte sich in Büchern wie "Der dressierte Mann" unterstanden, in Umkehrung aller Schwarzerschen Lehrmeinung zu behaupten, es würden nicht Frauen von Männern, sondern die Männer von den Frauen ausgebeutet. Alice zu Esther: "Das ist Verrat an ihrem eigenen Geschlecht!" Esther: "Ich kann Ihren Quatsch nicht länger anhören!"

Statt Wahrheit mehr in der Mitte zu suchen, spaltete sich in einer nachfolgenden Leserbriefdiskussion auch die Öffentlichkeit nach dem Beispiel der beiden "Kampfhennen" (FAZ) in zwei feindliche Lager. Männer und Muttchen vor allem schlugen sich auf die Seite der Vilar, während auf die Schwarzer der geballte Beifall unzufriedener Geschlechtsgenossinnen zukam, von Hausfrauen, die statt Kochen und Putzen lieber beruflich Karriere machen wollen; von berufstätigen Müttern, deren Arbeitstag 14 Stunden und mehr dauert; von Ehefrauen, die sich von ihren Männern vergewaltigt fühlen.

Ob Frauen Orgasmusschwierigkeiten haben, sich unausgefüllt fühlen, vorzeitig altern, an Neurosen leiden, wahnsinnig werden, Selbstmord verüben - für Alice Schwarzer ist das die Folge davon, dass Frauen durch Männer daran gehindert werden, als freie, gleichberechtigte Menschen zu leben. Gleich den Führerinnen der "Women's lib", der großen amerikanischen Frauenbefreiungsbewegung, träumt deren deutsches Nachbild von einer neuen Lebensordnung, in der es - Zeugen und Gebären notgedrungen ausgenommen - keine Unterschiede mehr zwischen den Geschlechtern gibt, wo Kinder nicht mehr "in männliche und weibliche Rollen gedrängt, sondern zu Menschen erzogen werden", die niemanden untertan sind und sich ihrer Begabung und Neigung entsprechend entfalten können. Weibliches Dienen und männliches Herrschen, so sagt sie, seien nicht angeboren, sondern anerzogen, kein Geschlecht sei von Natur aus körperlich und geistig minder leistungsfähig als das andere. Herkömmliche Ehen, in denen die Frau Haus und Kinder versorgt, der Mann dagegen einen Beruf ausübt und Geld verdient, sind in diesem Utopia nur noch Ausnahme.

Sie selbst hat ein befriedigendes Familienleben nie erfahren. 1942 kam sie unehelich zur Welt. Bei ihrer Geburt im Kreißsaal des Rote-Kreuz-Krankenhauses Wuppertal musste sich ihre gerade 22 Jahre alte Mutter von einem zynischen Arzt die Frage gefallen lassen: "Na, rein geht's besser als raus?" Mutterpflichten gegenüber der kleinen Alice übernahm später vor allem der Großvater, ein zärtlicher, sensibler Mann, den die Enkeltochter heute ein "leuchtend positives Beispiel positiver Unmännlichkeit" nennt. Er war Tabakwarenhändler von Beruf und hatte unter dem Missmut von Alices Großmutter zu leiden, die in dem Glauben dahinlebte, in ihrem Leben irgend etwas versäumt zu haben.

Alice Schwarzer bezeichnet ihre Erziehung als sehr tolerant, betont antifaschistisch. Großeltern und Mutter hätten ihr schon als kleines Kind das Gefühl gegeben, als ein gleichberechtigter Partner anerkannt zu sein. Dass für Mädchen und Jungen zweierlei Maß angewandt wird, bekam Alice erst mit 16 Jahren zu spüren, als sie nach dem Handelsschulabschluss - "angeregt durch eine doofe Filmrolle mit Doris Day" - Innenarchitektin werden wollte. Um sich handwerklich darauf vorzubereiten, nahm sie eine Lehre in einer Schreinerwerkstatt an, wurde aber zu ihrem Kummer am ersten Tag wieder mit den Worten heimgeschickt: "Es gibt Ärger mit dem Gewerbeaufsichtsamt, wir dürfen keine Frauen ausbilden, weil wir keine Frauentoilette haben."

Als kaufmännischer Lehrling ärgerte sich das Mädchen danach über die dümmliche Arroganz, die jugendliche Chefs gegenüber weiblichen Untergebenen herauskehrten; und kritisch sah sie sich auch bei der Wuppertaler Happich GmbH um, einer Fabrik für Autozubehör, wo sie in der Maschinenbuchhaltung arbeitete und die Beobachtung machte, "dass ordentliche Lehrstellen immer nur an Jungen vergeben wurden, man Mädchen aber trotz gleicher Qualifikation nur als Anlernlinge, Tippsen, untergeordnete Hilfskräfte akzeptierte". Alices weiterer Berufsweg: Sekretärin in einer Düsseldorfer Werbeagentur und in einem Münchener Verlag.

"Es war der klassische Weg der Frauen", resümiert Alice Schwarzer heute, "die Umgebung, in der man arbeitete, wurde interessanter, aber man selbst blieb als Sekretärin weiter hinter der blöden Maschine und langweilte sich. Irgendwann wird einem klar, dass alle Versuche, das Leben sinnvoll zu gestalten, gescheitert sind."

Es ist die Situation, in der viele junge Mädchen ihre Job aufgeben und lieber heiraten. Auch Alice Schwarzer sah sich zeitweilig schon "ganz romantisch mit Baby auf dem Arm in der Dachstube". Ein kaufmännischer Angestellter hätte sie auch gern geheiratet. Doch die heimliche Bewunderin von Gräfin Dönhoff, der späteren Chefredakteurin der Zeit, mochte sich nicht in die Rolle einer dienenden Hausfrau einpassen, fuhr lieber zum Baden, als dem Freund beim Großreinmachen seiner von ihr nicht mitbenutzten Wohnung zu helfen. Sein Ansinnen, ihm die Leibwäsche zu waschen, konterte sie kühl: "Okay, und wer wäscht dann meine?"

Statt umsonst für den Freund putzte die Selbstbewusste dann lieber für Geld in Paris. Hart gegen sich selbst, steuerte sie eine neue Laufbahn an - Französisch lernen, und dann Journalistin werden. Fürs Putzen bekam Alice drei Franc in der Stunde, noch nicht einmal drei Mark, aber sie hielt sich damit über Wasser, behielt sogar noch so viel übrig, um davon einen Sprachkurs der Universität Sorbonne zu belegen. Dort lernte sie dann auch Bruno kennen, einen sanften französischen Völkerrechtler, dem sie ihre wesentlichsten Einblicke in das andere Geschlecht verdankt.

Das Pärchen zog bald zusammen und blieb über neun Jahre eng verbunden. Streng achtete die Deutsche während dieser Beziehung auf gerechte Teilung der Hausarbeit. Bruno freilich unterlief die Abmachung meist durch so viel Tapsigkeit, dass Alice am Ende doch den Laden schmiss. Heute ist ihr klar: "Selbst indem sie sich hilflos geben, verstehen es die Männer noch, den Frauen ihre Arbeit aufzulasten."

1966 trat sie, einziges Mädchen unter acht Volontären, in die Redaktion der bürgerlichen Düsseldorfer Nachrichten ein und fiel bald durch publizistische Rundumschläge auf, so etwa, als sie Teilzeitarbeiterinnen der Bundespost, die eine Versammlung ihrer Gewerkschaft geschwänzt hatten, mangelndes politisches Bewusstsein vorwarf. Aufgebracht fragten die Frauen bei der Zeitung an, woher jemand mit Haushalt und Kindern abends Zeit für Versammlungen hernehmen soll. Alice Schwarzer heute: "Das hat mir ein paar neue Lichter gesteckt."
Auf Schwierigkeiten bei der Verständigung mit Arbeiterinnen stieß die Reporterin aber auch in der Nieterei der Frankfurter VDO-Tachometer-Werke, wo sie einen Akkordjob angenommen hatte, um über die Ausbeutung weiblicher Arbeiterinnen schreiben zu können. Als die betont proletarische Schwarzer während einer Kaffeepause bemängelte, Arbeiterinnen verdienten bei gleicher Leistung schlechter als Arbeiter, wurde sie von den wohlondulierten Kolleginnen spitz zurechtgewiesen - das sei doch ganz natürlich, dass ein Mann besser verdiene, dafür sei er doch ein Mann. Auch Alices Forderung nach Seife in den Waschräumen stieß bei den Frauen auf höhnische Ablehnung: "Seife? Seife? Na, hören Sie mal, Seife für 6000 Mann. Das käme der Firma ja viel zu teuer!"

Nach kurzen Gastspielen bei Moderne Frau ("Da wurde immer nur über Klamotten gequatscht") und Pardon ging Alice Schwarzer wieder zurück zu Bruno und berichtete aus Paris Sozialpolitisches für Zeitschriften und Funkhäuser. Nebenher hörte sie Vorlesungen über Soziologie und Psychologie und freundete sich mit französischen Feministinnen an, radikale Frauenrechtlerinnen, die mitunter singend und untergehakt über den Boulevard St. Germain zogen, um von der Knechtschaft der Frauen zu künden.

Als Anfang 1971 französische Feministinnen öffentlich für das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung eintraten und sich selbst der illegalen Abtreibung bezichtigten, alarmierte die Journalistin den Stern, der sich für eine Liberalisierung des Paragrafen 218 eingesetzt hatte. Ob die Redaktion ähnliche Selbstbezichtigungen deutscher Frauen veröffentlichen würde? Nachdem das zugesagt worden war, brachte Alice Schwarzer in Hunderten von Gesprächen mit Frauen die größte Bürgerinitiative in der Geschichte der Bundesrepublik in Gang, die "Aktion 218". Anfang Juni 1971 konnte der Stern eine Liste mit 374 Namen von Frauen veröffentlichen, die sich des Verstoßes gegen den Paragrafen 218 bezichtigten, um ihn zu Fall zu bringen. Zehntausende weiterer Unterschriften folgten.

Alice Schwarzer sieht in der "Aktion 218" das Startsignal für die zweite deutsche Frauenbewegung. In einer ersten Bewegung dieser Art hatten sich Frauen Anfang des Jahrhunderts den Zugang zu den Universitäten und das Wahlrecht erkämpft. Damals waren es vorwiegend Intellektuelle, von Männern bespöttelte Suffragetten, die den Kampf führten, diesmal aber hatten sich Frauen aus allen Bevölkerungsschichten gegen des "staatlich verordneten Gebärzwang" solidarisiert. Über die gesamte Bundesrepublik verteilt, entstand ein Netz autonomer Frauengruppen, die bald auch die mangelnde Chancengleichheit für Frauen insbesondere im Beruf und in der Ehe attackierten.

Im Sog der Truppen, die sie mit gerufen hatte, ließ Alice Schwarzer ihren Bruno und eine Katze in Paris zurück, zog in Westberlin mit zwei Frauen zusammen und begann mit großem Fleiß, Fakten und Geschichten über die Unterdrückung der Frau zu sammeln und zu verbreiten - in Zeitschriften, im Fernsehen, auf Tagungen. Taktisches Kalkül: Je mehr man den Frauen bewusst macht, dass sie schlechter als Männer dran sind, desto leichter sind sie gegen Männerherrschaft zu mobilisieren.

Um die Unterdrückung der Frauen zu belegen, führte die Feministin eindrucksvolle Zahlen an. So errechnete sie beispielsweise an Hand einer Statistik der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, dass die weibliche Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung durch berufliche und hausfrauliche Tätigkeit im Jahr 64 Milliarden Arbeitsstunden leiste, doppelt so viele wie die Männer. Schwarzer: "So kommt es, dass heute Frauen, die durch Beruf und Haushalt belastet sind, sieben Jahre vor ihren Männern sterben."

Um das Leben berufstätiger Hausfrauen erträglicher zu machen, fordert die Journalistin von den Männern nicht nur "gnädige Mithilfe" im Haushalt, sondern "hier und heute die Übernahme der Hälfte aller Hausarbeit". Die andere Lösung, dass Hausfrauen lieber den Beruf sausen lassen, statt sich ständig kaputt zu machen, lehnen die Feministinnen als unrealistisch ab: Nur durch Berufstätigkeit werde die Frau vom Mann ökonomisch unabhängig. Dass Frauen, allein auf die Familie konzentriert, ein befriedigendes oder sogar glückliches Leben führen können, wird von Feministinnen milde bezweifelt - wohl nach dem Motto: Was uns nicht behagt, kann anderen auch nicht behagen.

In 16 Protokollen von Gesprächen mit Frauen, die Alice Schwarzer jetzt im S. Fischer Verlag herausbringt ("Der kleine Unterschied und seine großen Folgen"), wird denn auch kein sonderlich anziehendes Bild vom deutschen Familienleben gemalt. Selbst Ehefrauen, die von sich beteuern "zufrieden" zu sein und einen "netten Mann" zu haben, entpuppten sich im Interview als unausgefüllt, physisch überfordert, psychisch labil, ausgebeutet von Angehörigen, frustriert im Bett.

Zu viele Frauen, so will die Autorin vor allem deutlich machen, würden in der Ehe durch Unverständnis des Mannes und erniedrigende Lebensumstände um ihre Sexualität betrogen. Zu oft stelle der übliche Koitus, das Eindringen in die passiv daliegende Frau, nichts weiter als einen Akt sexueller Unterdrückung dar. Nur der Mann finde dabei Befriedigung, nicht aber die Frau, ihre seelischen und körperlichen Bedürfnisse (Reizung der Klitoris) würden ignoriert. Und obendrein würde der frustrierten Frau dann auch noch weisgemacht, dass nicht etwa der Mann als Liebhaber versage, sondern dass sie selbst "unnormal" sei.

Das sexuelle Dilemma vieler Frauen veranlasste inzwischen eine Reihe Frauengruppen, von sich aus in Broschüren und Vorträgen Sexualaufklärung für Frauen zu betreiben. Mitunter bereichert das auch Ehen, aber es kommt auch vor, dass Frauen das neue Wissen benutzen, sich statt vom Mann von Frauen streicheln zu lassen.

Alice Schwarzer, die für sich selbst "emotionale Beziehungen sowohl zu Männern als auch zu Frauen" befürwortet, sieht heute in der Homosexualität von Frauen "etwas genauso Natürliches wie Sexualität zwischen Mann und Frau". Aber sie weiß auch, dass Liebe zwischen Frauen ein Kampfmittel gegen Männer sein kann: Die Frauen können ihnen dann leichter den Koitus verweigern, um ihre Forderungen nach totaler Gleichberechtigung besser durchzusetzen.

Das sind Gedanken, die Männer aus dem Gleichgewicht bringen können. Als Alice Schwarzer an der Universität Münster ein - inzwischen über 200 Teilnehmer zählendes - "Seminar über den Stellenwert der Sexualität in der Emanzipation der Frau" zu halten begann, gaben Studenten der unheimlichen Dozentin den so brutalen wie unverdienten Spitznamen "Schwanz-ab-Schwarzer".

Nur langsam gewöhnt sich die Neo-Suffragette daran, ein Männerschreck zu sein. Es trifft sie, wenn ihr einstiges Lieblingsorgan, die Zeit, unfein eine Heiratsanzeige druckt, in der ein Anonymus eine Frau such, die Alice Schwarzer "nicht ähnlich" sieht, wenn ihr im Spiegel von einem Dr. Albert Ochmann vermännlichte bis "leicht akromegale Züge" (Riesenwüchsigkeit) nachgesagt werden oder wenn die Bild-Zeitung über sie schreibt, sie sähe aus wie "früher im Märchen die böse Hexe".

Unter einem Marilyn Monroe-Poster im Gemeinschaftsraum ihrer Berliner Frauenwohnung sinnt Alice Schwarzer über die Ursachen der Ungehörigkeiten nach. Klar, da marschiert die männliche Gegenrevolution: "Das überrascht mich doch schon gar nicht mehr, das stammt doch alles von Männern, deren Frauen anfangen unbequem zu werden, wo die Frauen sagen, hier passt mir das nicht mehr und das nicht. Und nun kriegen die Männer Aggressionen gegen mich, weil sie meinen, ich hätte ihren Frauen den Floh ins Ohr gesetzt."

Winfried Maaß, Stern, 4.9.1975

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