Weltwoche - 8.10.1975: Wer hat Angst vor
Die Karikatur zeigt sie mit einer Kollegin vor einer Guillotine, die ein nackter Mann betreten soll; die Kollegin (in der Sprechblase): "Alice, mach dem Typ doch mal klar, dass er nicht seinen Kopf darunter legen soll!" Leserbriefschreibern gilt sie als "neurotische Kuh", als "Schreckgespenst"; eine Illustrierte kürte sie kürzlich - wie hilflos - zur "Miss Hängetitt". Freunde, die wussten, dass ich nach Berlin fahren würde, um sie zu sehen, fragten unisono: "Hast du keine Angst?" Alice Schwarzer, Repräsentantin und Kopf der deutschen Frauenbewegung, in weiten Kreisen bekannt seit ihrem Fernsehduelle mit Esther Vilar, gilt allgemein als der Haupt- und Staatsdrachen unter den Feministinnen, die man sich ohnehin nicht anders denn als Monstren vorstellen kann.
Berlin, Breitenbachplatz: eine kleinbürgerliche Wohngegend zwischen dem vornehmen Dahlem und dem fast dörflichen Friedenau, eine Gegend ohne das dufte Berlin-Gefühl. Ein Friseursalon, ein Sarotti-Geschäft, Kleinhändler, ein Zeitungsladen, dazwischen Kneipen, die ungelenk auf große Welt anspielen: das "Thassos", der "Gattopardo" und eine schon mehr als berlinerische "Künstler-Klause". Über den Rand des baumbestandenen Platzes zieht sich der Rohbau einer Stadtautobahn.
Hier wohnt Alice Schwarzer in einem gesichtslosen Mietshaus, gar nicht Bohème, mit zwei anderen Frauen zusammen, einer Sekretärin und einer Universitätsdozentin, beide in der Frauenbewegung tätig. Warum Berlin? Ein privater Zufall. Warum diese Wohngemeinschaft? "Ich komme grad aus einer sehr langen Beziehung, ich weiß, was es heißt, mit einem sanften Unterdrücker zusammen zu sein. Männer, das ist im Augenblick nicht mein Problem. Ich habe in den letzten Jahrzehnten soviel emotionale und intellektuelle Kraft vorrangig in Männer investiert, dass ich jetzt große Lust hab', auch mal vorrangig in Frauen zu investieren, mich mit ihnen auseinander zu setzen."
Wir sitzen im bewussten "Gattopardo", ein Journalist, der sich wundert, wie falsch Vorurteile sein können und wie schnell sie zustande kommen, und eine Alice Schwarzer, die ar nicht dem Feindbild entspricht. Eine Frau, 33, so blond-blauäugig-tapfer, hellwach und charmant, in einem dunkelblauen Kleid mit weißen Blümchen und einem feinen Halskettchen. Hie und da weht ein leichtes Parfum über die Scaloppine al vino bianco. Natürlich überhaupt kein Drachen, wenn auch sehr selbstbewusst, was sie von sich selbst auch mehrmals wörtlich sagt; dabei nicht rechthaberisch.
Sechzehn Frauen hat sie für ihr Buch "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen" (S. Fischer Verlag) interviewt; es wäre schon, wenn man das nach dem ganzen Gezeter noch unbefangen lesen könnte, Nämlich als Protokolle aus dem Frauenleben, die die Unterdrückung der Frau genauer beschreiben als jede Theorie darüber. Nun hat man in der Öffentlichkeit weniger diesen Tatbestand diskutiert, als Alice S.' anstößige Folgerung: dass die Unterdrückung der Frau im Sexuellen ihr Zentrum habe, und zwar so konkret: der Penis, der in die Vagina eindringt, macht aus der Partnerin ein Opfer. Also, sagt Alice Schwarzer, Schluss mit der "Penetration, und diesen Schluss vertritt sie so penetrant, dass er absurde Züge kriegt. "Was spricht für die Penetration? Nichts bei den Frauen, viel bei den Männern!" Nichts? Die hauptsächliche Liebepraktik von ein paar Jahrtausenden abgeschafft mit einem Federstrich?
"Ich wollte zeigen, dass die Geschlechtsverhältnisse Machtverhältnisse sind. Zum andern, dass der übliche Koitus an den Bedürfnissen der Frau vorbeigeht. Das war am Anfang eine Hypothese. Wie sehr sie zutrifft, habe ich letztlich gar nicht gewusst. Dass zwei Drittel aller Frauen chronisch oder vorübergehend frigide sind. Das heißt ja nicht - ich hab's vielleicht nicht deutlich genug gesagt - dass Koitieren von Mann und Frau auf keinen Fall Spaß machen darf. Das heißt nicht einmal, dass es nicht Frauen gibt, die beim Koitieren auf ihre Kosten kommen. Das heißt nur grundsätzlich, dass man die zentrale Bedeutung einer solchen Praxis in Frage stellen muss, dass man sich fragen muss: Wie kommt es, dass so was zur absoluten Norm werden konnte?"
"Sie suchen eine politische Erklärung und vernachlässigen dabei die biologische."
"Welche biologische Erklärung?"
"Dass durch Penetration unter anderem auch Kinder gezeugt werden."
"Das ist richtig, ja, das ist richtig. Aber wir schlafen nun seit einiger Zeit nicht nur miteinander, weil wir Kinder machen wollen."
"Und da darf nun plötzlich nicht mehr koitiert werden?"
"Doch, wenn's Spaß macht. Wenn's aber keinen Spaß macht? Wenn es dem Großteil der Frauen keinen Spaß macht?"
Dem Großteil? Das scheint nun wieder eine ihrer Verallgemeinerungen zu sein. Doch da bleibt sie fest.: "Gucken sie sich mal den Kinsey-Report an. Die Untersuchung von Masters und Johnson. Da gibt es Fakten, da kommen wir einfach nicht mehr drum rum. Ich habe mich ja nicht eines Tages hingesetzt, so, das soll jetzt alles keinen Spaß mehr machen. Neun. Sondern wir sind gestolpert über die Frustration der Frauen, über ihr Unglücklichsein, über ihre Verwirrtheit auch. Es geht nicht um die Abschaffung des Koitus, wohlgemerkt, es geht um die Hinterfragung seiner zentralen Bedeutung."
Dass es das Leistungsprinzip auch beim Koitus gibt, das wusste man nun ja auch schon vor Schwarzer - wie sehr es aber auf Kosten der Frau geht, das wird in ihren Protokollen erschreckend deutlich. Über ihre Motivation zum ersten Beischlaf sagen mehrere Frauen übereinstimmend: "Da musste ich es eben bringen." Da gibt es einen liebenden Gatten, der zum Wochenende massenhaft Eier frisst, "dann kann er 17 Mal". Ein anderer tritt einmal beinahe die Tür zum Kinderzimmer ein, als seine Frau sich dort verkriecht. Für viele Frauen ist der "Spaß" nur Schmerz und Mühsal. Unmöglich, nicht betroffen zu sein - und das erwartet die Autorin denn freilich auch: "Wo es diese Betroffenheit nicht gibt, also da verhalten sich die Männer aus meiner Sicht zynisch. Es geht nicht an, dass Männer, diese Welt seit Jahrtausenden dominieren und schwafeln und zuschwafeln, und dann da, wo für die Frauen wieder einmal der historische Moment gekommen ist. Sich zu artikulieren, dass sie da nicht mal hinhören. Das irritiert mich so an den ganzen Männern, dass wenn sie so auf den Schwanz getreten sind, dass sie da nicht einmal gewillt sind hinzuhören. Und ich finde es auch ein ganz übles Manöver der Erpressung, das nun alle gleich aufjaulen und sagen: Aber denkt doch mal an uns!"
Nun hat sie ihr Buch nicht für die Männer geschrieben. "Erstarrte Symbole und unmenschliche Fratzen" sind die ihr, da wendet sie sich mit Grausen: "Für uns habe ich diese Buchs geschrieben." Auf das alter ihres Zielpublikums will sie sich nicht festlegen, doch sieht sie eine Hauptgruppe bei den Mittdreißigern; hier, glaubt sie, kommen die ehelichen Frustrationen erst so recht zum Durchbruch. Hier gipfelt der Passionsweg von Erziehung zum Heimchen am Herd, früher Heirat, ausschließlicher Partnerbindung und häuslicher Resignation.
Ihr eigener Lebenslauf folgt diesem Paradigma nicht. Die kleine Alice darf ein Mädchen sein ohne Zwang zur Weibchenrolle, sie, ein uneheliches Kind, das seinen Vater nie kennenlernt, wird vom Großvater erzogen, einem sanften und sensiblen Mann. Kein Männliches Über-Ich also, das sie terrorisiert.
Sie sei eine schlechte, faule Schülerin gewesen, sagt sie, aber "atypisch interessiert". Begann eine Bürolehre (Wuppertal), wechselte in eine Werbeagentur (Düsseldorf) und dann in einen verlag (München); "Ich hab' was Typisches gemacht, immer die Branche gewechselt und gemeint, ich würde damit die Situation wechseln." Mit 19 hatte sie ihren ersten Freund, auch sie "musste es mal bringen". Einmal lernt sie einen Journalisten kennen: "Da hab' ich mich nachts aufrecht im Bett hingesetzt und habe gesagt: Also was der kann, das kann ich auch."
Sie geht nach Paris, als Au-Pair-Mädchen, "da hab' ich die Sachen gleich wieder hingeknallt, weil es eine bestialische Ausbeutung ist." Sie schreibt über das Leben deutscher Mädchen in Paris einen bösen Artikel, ihren ersten, und ist damit eigentlich gleich schon beim Thema.
Sie jobbt in Düsseldorf und Hamburg als Journalistin, dann wieder in Paris als Freie, nebenbei Studium im linken Vincennes, wo sie eines Tages am beginn der französischen Frauenbewegung, den Satz hören muss: "Le pouvoir est au bout de phallus" ("Die Macht ist an der Spitze des Phallus"). Da war sie Mitglied des "Mouvement pour la Libération des Femmes", hat die Abtreibungsdiskussion nach Deutschland hinübergetragen "Ich hab' nie selbst abgetrieben. Aber im Kopf hundert Mal. Ich kenne die Situation, wo man zählt. Ich kenn' die Punkte in meinem Leben, wo ich gedacht habe, wenn du jetzt schwanger bist, ist es aus. Das heißt, ich habe gewusst, worum es bei der Abtreibung geht, und das hat mich elementar getroffen."
Die Sache der Frau artikuliert sie jetzt mit der Maßlosigkeit all derer, die das Gefühl haben, in einem Gefängnis zu schreiben. Sperrt sie die Frau mit ihrer Ausschließlichkeit nicht in ein neues Ghetto? Sie glaubt es nicht, und den Angriffen der "Männermedien" hält sie jede vielhundert Briefe entgegen, die sie allen nach der Vilar-Sendung erhalten habe und von denen 95 Prozent zustimmend gewesen seien.
Niemand in Deutschland (in Amerika gibt es Vorbilder) hat die Männer bisher so vehement angegriffen, niemand die Verweigerung so radikal gefordert. Also Emanzipation ohne und gegen den Mann? Das ist ihr "albernes Geschwätz". Fett hat sie es setzen lassen auf der drittletzten Seite ihres Buchs: "Es geht nicht darum, sich ohne Männer zu emanzipieren, sondern es geht darum, Männer nicht länger mit der Bitte um Einsicht, sondern mit eigenen Einsichten und draus gezogenen Konsequenzen zu konfrontieren." Verständnis möchte sie, Versöhnlichkeit predigt sie nicht. Wer hat eigentlich Angst vor Alice S.?
Dieter Bachmann, Weltwoche, 8.10.1975