Über Alice

Jugend im Vorfeminismus - 5.3.05

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Zwei sechzigjährige Frauen auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Deutschlands prominenteste Feministin und ihre "beste Freundin" aus den Mädchenjahren schreiben einander Briefe im Jahre 2004. Die beiden habe sich lange nicht gesehen, mögen sich bei erneuter Bekanntschaft wie eh und je und beschließen, ihre Erinnerungen an die Jahre 1957 bis 1964, als sie 14 bis 21 Jahre alt waren, in einer Korrespondenz auszutauschen. Barbara Maia, die Freundin, um es vorwegzunehmen, schreibt ebenso zügig wie die berühmtere Autorin Alice Schwarzer.

Der Ton ist salopp und ironisch, manchmal zornig, manchmal lustig, im Grunde heiter. Sie nehmen die Mädchen, die sie waren, ernst, doch ohne Nostalgie. Wer Erinnerungsliteratur gern liest, kommt hier auf seine, beziehungsweise ihre, Kosten: Schultage, Schwärmereien, Verliebtheit, amerikanische Filme, Pop Musik, Mode (verhaßte Nylonstrümpfe, begehrte anliegende Jeans), Loslösen von der Familie - alles unter dem Blickwinkel: "Weißt du noch?"

Weißt Du noch, die Nylonstrümpfe?

Sie gehen chronologisch vor, doch das Format Brief und Briefantwort gibt der Sache dialogischen Schwung und gedankliche Breitenspanne. Man streitet darüber, wer sich "richtig" erinnert, denn die Einzelheiten der Vergangenheit verschwimmen bei allen Menschen, doch bei jeder ein wenig anders. Da die Briefe Jahre nach den Ereignissen und Erlebnissen, von denen sie handeln, geschrieben sind, wird unvermutet das Erinnerungsvermögen selbst zum Gegenstand.

Die beiden stammen aus Wuppertal - wie Else Lasker-Schüler, die Lieblingsdichterin von Alice Schwarzer -, besuchen dieselben Schulen, sind unzertrennlich, übersiedeln später aus Unabhängigkeitsdrang nach München, wo sie ein Zimmer teilen, und sehnen sich nach Paris. Das Ende der Freundschaft, das ihnen auch das Ende der Jugend bedeutete, fällt mit Alices Umzug nach Frankreich und ihren Anfängen als Journalistin zusammen und dem Beginn von Barbaras unglücklicher Ehe und ihrer Mutterschaft.

Anfänglich sind diese Texte freilich ein wenig oberflächlich und glitzernd, sie strahlen nur so von Frohsinn und Übermut. Politische und soziale Probleme sind bloß ein tropfenweiser Niederschlag im Bewußtsein von Jugendlichen, denen das Tanzen und die Klamotten auf der Seele liegen. Dabei hatten sie's beide als Kinder nicht leicht.

Beide waren vaterlos mit hilflosen Müttern, die ihnen kein Vorbild sein konnten. Schwarzer, ein uneheliches Kind, betrachtete ihre Mutter als ältere Schwester, und nur die Großeltern, bei denen sie wohnte ("meine outcastige Familie"), besonders der geliebte Großvater, waren Autoritäten. Barbara verachtete ihre Mutter, die regelmäßig Schreianfälle bekam. Die Mädchen waren in ihrer Entwicklung weitgehend auf sich selbst angewiesen. Es gab jede Menge Verbote, aber keine Warnungen, die Gesellschaft war prüde und mehr an der Einschränkung als an der Aufklärung der Heranwachsenden interessiert. Das Schweigen, wo man hätte sprechen sollen, ein durchgehendes Thema, äußert sich auch im zaghaften Umgang mit der Nazi Vergangenheit. In München begegnen sie einigen zugewanderten Juden. Die sind ihnen zwar sympathisch, aber man wagt nicht, sie auf ihre Vergangenheit anzusprechen.

Mit der Münchener Zeit werden die Briefe ernster, die Erinnerungen ambivalenter. Woran scheiterte die Freundschaft? Etwa an den Männern, die doch beiden jungen Frauen nicht so wichtig waren wie ihre Beziehung zueinander? Sehr spannend liest sich der teils widersprüchliche Austausch zu dieser Zerreißprobe, als Freundschaften und Liebschaften einander in die Quere kamen.

Nicht minder fesselnd sind die Erinnerungen an Vergewaltigungsversuche, von denen beide aus eigener Erfahrung zu berichten wissen. Barbara hat das nicht weniger als fünfmal erlebt. "Plus anderen gefährlichen Situationen." Alice meint, daß solche Übergriffe unweigerlich Todesdrohungen enthalten und kommentiert: "Wo stecken wir Frauen das eigentlich alles hin? Und woher kommt unser Gottvertrauen, ein paar Tage später wieder baden, tanzen und flirten zu gehen?" Und warum spricht man nicht darüber? Wohl um das Selbstgefühl nicht zu sehr zu belasten.

Alice Schwarzer ist keine naive, einsträngige Feministin. Sie tritt ein für Frauen und ihre Rechte, aber sie kann auch scharfe Kritik an Frauen üben, und was sie für weibliche Untugenden hält kritisieren und analysieren. Über die frauenfeindliche Filmkritik einer Journalistin schreibt sie: "Frauen können ganz schön gemein und feige sein. Mir ist aufgefallen, daß nur Männer präzise über diesen Film geschrieben haben." Und anderswo: "Komisch, diese intriganten Gemeinheiten haben mich mein ganzes Leben lang verfolgt. Und sie kamen immer nur von Frauen, natürlich. Weil die zu schwach sind, frontal anzugreifen, tun sie es hintenrum." Umgekehrt und doch verwandt hatte "die Wut und die Revolte einer Ulrike Meinhof... sicherlich viel tiefere Gründe als nur die große Politik. Es war, glaube ich auch ihr kleines, gedemütigtes Frauenleben, das sie ausflippen ließ."

Heute geht's uns Frauen besser!

Das sind feministische Thesen, hier abgehandelt anhand des Privatlebens der "Emma"-Gründerin. Es geht vor allem um Alice, auch in Barbaras Briefen. Doch Barbara erzählt auch anschaulich von einem Frauenleben, das Alice nicht kannte, von der Hausfrauenmisere, die man sich unter dem Druck der Gesellschaft in den fünfziger und sechziger Jahren nicht anmerken lassen durfte.
Einstimmiges Fazit dieser Briefsammlung: Heutzutage geht's uns Frauen besser als damals.

Das Bestechende an dem Buch ist die Mischung von Nachdenklichkeit und Alltagsblödelei, von erwachendem politischen Bewußtsein und den Lockenwicklern (wörtlich!) des Privatlebens, von der geisttötend langweiligen Büroarbeit - es gab ja damals kaum etwas anderes für Frauen - und der Überzeugung, man könnte mehr aus sich machen. Das Mit- und Gegeneinander von zwei Frauenstimmen drückt letztlich Lebensbejahung, Freundschaftsbejahung aus.

Ruth Klüger, Die Welt, 5.3.2005 

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