Der Fall Ludin

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Alice Schwarzer über das Kopftuch-Urteil in Karlsruhe - 24.9.03

Der Fall Ludin

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes, dass muslimische Lehrerinnen in deutschen Schulen im Prinzip das Kopftuch tragen dürfen - oder den iranischen Ganzkörperschleier oder die afghanische Burka, beide ließen sich in diesem Sinne ebenfalls durchaus "religiös" begründen - ist eine folgenreiche Entscheidung. Sie wird Konsequenzen haben, sowohl rechtlich wie in ihrer symbolischen Auswirkung. Dabei zeigt die Tatsache, dass von den acht VerfassungsrichterInnen nur fünf pro Kopftuch plädiert haben - und drei Richter dagegen -, dass dieses Urteil in der Form keineswegs zwingend war, sondern auch anders hätte ausfallen können.
Ganz wie im Streit um das Recht auf Abtreibung gibt es auch im Kopftuchstreit ein höchstrichterliches "Sondervotum" gegen die Mehrheitsentscheidung: Die drei unterzeichnenden Verfassungsrichter erinnern an die selbstverständliche Neutralitätspflicht von Beamten und beklagen "prozessuale Versäumnisse" ihrer Kollegen angesichts dieser "Überraschungsentscheidung". Und sie wundern sich, dass die "Senatsmehrheit" sich nicht mit der Auffassung auseinander gesetzt hat, eine "Verhüllung der Frauen gewährleiste ihre Unterordnung unter den Mann".
Hier geht es um den Kern des Rechtsstaates: um die Trennung von Staat und Religion, eine mühsam erkämpfte Errungenschaft der Aufklärung. Doppelt unverständlich ist die Aufweichung dieser Trennung in einer Zeit, in der die weltweite Offensive der Gottesstaatler nicht nur Länder mit muslimischen Mehrheiten unter ihre ummenschlichen "Gottesgesetze" (inklusive Schleier) zwingt, sondern auch weltliche Demokratien bedroht. Länder wie Frankreich haben daraus längst Konsequenzen gezogen. So setzt der konservative Innenminister Sarkozy die Zeichen verstärkt auf Integration, erinnert an "die republikanischen Grundregeln" auch für MuslimInnen. Aber auch der sozialistische Ex-Kultusminister Lang, beim von drei Schülerinnen 1990 ausgelösten so genannten Kopftuchstreit noch ganz pro Kopftuch, übt inzwischen seine Selbstkritik und ist heute überzeugt, dass diese "Mädchen manipuliert werden".
Doch noch ist auch in Deutschland nicht alles verloren. Denn in Wahrheit spielt Karlsruhe den Ball an die Politik zurück. Die VerfassungsrichterInnen fordern in ihrem Urteil die Bundesländer auf, die "bislang fehlenden gesetzlichen Grundlagen zu schaffen" für ein angemessenes Maß "religiöser Bezüge" in der Schule. Das heißt, es liegt jetzt in der Hand der einzelnen Länder, im Bereich ihrer Schulpolitik die Aufweichung der Trennung von Staat und Religion entweder mitzumachen - oder aber ihr entschieden Einhalt zu gebieten. Und es wird aufschlussreich sein, welche Bundesländer sich wie entscheiden werden. Denn die klassischen Kategorien von Links/Rechts gelten in dieser Frage nicht. Eher hatte die Linke bisher noch stärker Tendenzen als die Rechte, das Kopftuch und seine Folgen verharmlosend für eine Frage der "Toleranz" zu halten und für eine "Multikulti-Gesellschaft" zu plädieren.
Erstmals erheben sich dagegen jetzt auch in Deutschland öffentlich Stimmen aus dem Lager der bisher schweigenden Mehrheit der Muslime. Darunter die der deutsch-türkischen SPD-Bundestagsabgeordneten Lale Akgün, die vor "Multikulti" als "besonders gefährliche Verharmlosung der Ausgrenzung" warnt: "Multikulti ist nichts anderes als eine verschleierte Form von Rassismus", sagt sie. "Denn dadurch bleiben die Zugewanderten immer die 'Anderen'. Sie werden im Exotikbereich gehalten und bleiben vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig."
Die ersten Betroffenen von diesem Urteil wird in der Tat die Mehrheit der in Deutschland (noch?) unverschleierten muslimischen Mädchen und Frauen sein. (Selbst von den zur Zeit 300 an deutschen Schulen unterrichtenden Musliminnen tragen nur zirka 20 ein Kopftuch, also noch nicht einmal zehn Prozent, darunter auffallend viele Konvertitinnen.) Sie alle werden jetzt verstärkt unter Druck gesetzt werden können. Ganz zu schweigen von den Mädchen, die schon heute häufig von ihren Familien zum Kopftuch genötigt und im Namen der "Natur der Frau" vom Sportunterricht oder von Ausflügen ausgeschlossen werden. Demnächst auch von der Mathematik? - An weltlichen deutschen Schulen!
Kein Zweifel, das Urteil ist ein halber Sieg für die Fanatiker, für die Glaube identisch ist mit Politik, die den Rechtsstaat abschaffen, die Scharia einführen wollen. Denn spätestens seit der Machtübernahme der Ayatollahs im Iran 1979 ist das Kopftuch zum blutigen Symbol dieser Gottesstaatler geworden. Als "Ausdruck von Toleranz" begrüßte auch der bis zum 11. September eher durch Intoleranz aufgefallene "Zentralrat der Muslime" das Urteil. Er vergaß allerdings hinzuzufügen, dass er keineswegs im Namen der rund drei Millionen MuslimInnen in Deutschland spricht, wie es sein Name suggeriert, sondern nach Expertenmeinung nur ein bis zwei Prozent der MuslimInnen in diesem "Zentralrat" organisiert sind.
Ein Gutes allerdings hat das umstrittene Karlsruher Urteil: Bisher hatte die deutsche Politik diese existenzielle internationale Debatte verschlafen, die unsere zukünftige Welt prägen wird. Nur vereinzelte Individuen hatten eine Haltung. Das wird sich jetzt ändern. Denn spätestens à propos der Erlassung konkreter Ländergesetze zur Verschleierung wird die Diskussion endlich auch in Deutschland geführt werden müssen.

Alice Schwarzer
Mehr zum Thema:
Lale Akgün über die wahre Integration - EMMA September/Oktober 2003 

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