Ein Mann sieht rot

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.9.05

Ein Mann sieht rot

Der nachfolgende Text von Alice Schwarzer erschien am 25. September 2005 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas ist hier anders als sonst. Aber niemand will es wahrhaben. Alle reden drumrum. Ganz wie beim so genannten "Familiendrama", das angeblich schicksalhaft ist, scheinen auch bei dieser Schicksalswahl höhere Kräfte zu walten. Es gibt da nur einen kleinen Unterschied: Beim privaten Familiendrama (auf Türkisch: Ehrenmord) bringt er sie um, weil sie geht. Bei diesem politischen Familiendrama will er sie umbringen, weil sie kommt.

Der Noch-Ehemann, der ohne seine Frau nicht leben kann (bzw. nicht will, dass sie ohne ihn lebt), handelt nach dem gleichen Gesetz wie der Noch-Kanzler, der für sie nicht weichen will. Beim ersten heißt das Motiv "Liebe", bem zweiten "Vaterlandsliebe". Denn jetzt gilt es, das Land nicht nur vor einem "Systemwechsel" zu retten, sondern vor etwas viel, viel Schlimmerem: vor dem Geschlechterwechsel.

Wir erkennen den typischen Tyrannen daran, dass er männlich ist; er macht, was er will; und es tödlich sein kann, ihm zu widersprechen. Innerhalb seines Universums gilt sein Gesetz, ob Eigenheim oder Kanzleramt. Unser Polittyrann spielt sich als Wahlsieger auf, obwohl er der Verlierer ist. Seine Herausforderin hat 2005 rund 450.000 Stimmen mehr als er - 2002 haben ihm schlappe 6.000 Stimmen mehr genügt, um sich als Kanzler bestätigt zu sehen. Und niemand hat es ihm streitig gemacht.

Doch ein Tyrann sieht das anders. Er verwandelte die gezählte Wahlniederlage in einen gefühlten Wahlsieg, und führte sich am Wahlabend so machtbesoffen auf, als hätte er die absolute Mehrheit in der Tasche. Nach sieben Jahren an der Macht kann der Cohiba-Kanzler es sich offensichtlich gar nicht mehr vorstellen, seinen Platz zu räumen. Weil "niemand außer mir in der Lage ist, eine stabile Regierung zu stellen. Niemand außer mir!" Noch Tage später verkündet sein Paladin Müntefering: "Gerhard Schröder bleibt Kanzler!" Und seine ganze Politfamilie klatscht dazu.

Denn das ist die Logik solcher geschlossenen Systeme: Der Tyrann macht das Gesetz. Das System hat nur eine Schwäche: Keiner wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Auch nicht, wenn es der falsche ist. So kommt es, dass die gesamte SPD die surrealen Szenarien des Tyrannen mit trägt.

Plan Nr. 1: Ich komme mit meiner Dreistigkeit durch, weil ich das A so gewohnt bin, und B in einer Mediendemokratie Inszenierungen schwerer wiegen als Realitäten. Plan Nr. 2: Ich werde mich mit den echten Männern in der FDP schon noch einigen. Plan Nr. 3: Okay, ich gebe den Weg für die große Koalition und damit für einen CDU-Kanzler frei, weil selbst ich ahne, dass meine Position unhaltbar ist - aber dann nehme ich sie mit. Wenn ich stürze, dann soll die mitstürzen. Denn schließlich ist es ja keine Frage, höhöhö, dass ein Mannsbild wie ich nicht ersetzt werden kann durch eine Frau.

Also bedrängt der Tyrann den Sieger und grölt: Gebt sie raus! Ich mach sie platt! Zunächst erreicht der Tyrann damit das Gegenteil. Er nötigt mit seinem brachialen Angriff die schwankende Mannschaft zur Solidarität mit der eigenen Kandidatin. Die Männer der Union scharen sich im Rücken der einsamen Frau an ihrer Spitze zusammen. Noch.

Aber wie lange noch?

Werden die SPD-Machos, die es bis heute verstanden haben, keine sozialdemokratische Kanzlerkandidatin auch nur hochkommen zu lassen, jetzt auch noch die christdemokratische Kandidatin verhindern? Werden sie es wagen, Ja zur großen Koalition zu sagen - und damit Ja zu einem CDU-Kanzler - aber Nein zu einer Kanzlerin? Wie wollen sie dann ihre Präferenz für die Wulffs oder Kochs begründen? Und was würden die stummen SPD-Frauen wohl dazu sagen? Wieder nichts?

Nicht nur der überraschend knappe Sieg, auch Schröders Pöbeleien haben Angela Merkel angefasst. Und vorgeführt. Denn es liegt in der Logik des Tyrannen-Systems, dass die Schwächeren von ihm fasziniert sind. Auch die Medien sprechen plötzlich nicht mehr von einem Verlierer und einer Siegerin, sondern von den "beiden Kandidaten", die das jetzt "miteinander austragen" sollen. Wir ahnen schon, wer da als Leiche auf dem Schlachtfeld zurückbleiben würde...

Oder, noch kommoder: Beide ziehen sich zurück. "Mit dieser Lösung", schreibt gestern Bild, "könnte Schröder gesichtswahrend abtreten. Motto: Wenigstens hab ich Angela Merkel verhindert." Ein offenes Wort. Der Schröder-SPD geht es in der Tat schon lange nicht mehr um das Wohl der Partei oder gar Deutschland, nein: Es geht darum, dass ein Mann sein Gesicht nicht verliert. Es geht um Männerehre. Und wenn die verletzt wird, sieht ein echter Mann bekanntlich rot.

Auf dem Altar dieser Männerehre soll nun die Frau geopfert werden, die es gewagt hat, IHN herauszufordern. Da sind alle Mittel recht, auch der klägliche Winkelzug einer Geschäftsordnungsänderung. Denn dieser Alien, dieser Ossi, diese Frau muss verhindert werden! Das fordert der Tyrann.

Schon vor den Wahlen war die große Koalition im Kalkül. Doch niemand wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, bei einem Wahlsieg der Union die Kanzlerschaft von Merkel jetzt noch infrage zu stellen. Die einzige Frage schien: Welcher Mann ist selbstbewusst und gelassen genug, um unter ihr Vize sein zu können? Jetzt aber hat der stürzende Tyrann es geschafft, sie mit ins Wanken zu bringen. Was den diversen Kanzleramts-Aspiranten in ihren eigenen Reihen so unrecht nicht sein wird.

Nein, es hat keinen Sinn, noch länger drumrum zu reden. Deutschland scheint nicht reif für eine Kanzlerin. 60 Jahre nach dem Führer und 87 Jahre nach Erringung des Frauenstimmrechtes hat zwar das Volk sie gewählt, doch scheint die Mehrheit der Mächtigen dieses Landes weit davon entfernt, einer Frau das höchste Staatsamt zugestehen zu wollen. Zutrauen vielleicht. Aber zugestehen? Nein!

"Suboptimal" soll die Kanzlergattin, his masters voice, den Auftritt ihres Mannes am Wahlabend genannt haben, plauderte der Immer-noch-Kanzler von eigenen Gnaden vor laufenden Kameras aus. Denn er hat es sich angewöhnt, seine Privatangelegenheiten für Staatsangelegenheiten zu halten. Subminimal ist die Rolle der Politikerinnen bei diesem Männerpoker. Bis auf die eine. Darum soll sie weg.

Es ist nicht ohne Tragik, dass die Kandidatin bis zuletzt davon überzeugt war, es spiele "keine Rolle, dass ich eine Frau bin". Sie war, trotz einschlägiger Erfahrungen, auf einen so kruden Angriff nicht gefasst. Ich gebe zu: Selbst ich habe das so enthemmt nicht mehr erwartet.

Da erleben wir im Jahre 2005 den Versuch eines scheidenden Kanzlers, seine designierte Nachfolgerin in einer Art und Weise öffentlich zu desavouieren, die er sich auch mit dem härtesten politischen Gegner nie erlaubt hätte - und die der ihm auch nie durchgehen ließe. Schröders Motiv ist unübersehbar Verachtung, ja Hass auf die Frau, die ihm gewachsen sein könnte.

Sollte ich mir vor den Wahlen noch Fragen gestellt haben - weil der kaltherzige und frauenignorante Wahlkampf beider großen Parteien nicht gerade einladend war - so ist es mir spätestens seit dem gewalttätigen Auftritt des Tyrannen am Wahlabend klar: Eine Kanzlerin für Deutschland ist überfällig! Denn was auch immer sie täte - so tritt diese Frau nicht auf, die am Wahlabend "demütig und akzeptierend den Wählerwillen zur Kenntnis" nahm. Genau darum wäre kein anderer als sie jetzt der wahre Systemwechsel.

Alice Schwarzer, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.9.05

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