Motiv Frauenhass?
Auf EMMAonline begann die Debatte bereits wenige Stunden nach dem Massaker. "Warum sind Amokläufer fast ausschließlich männlich?" fragt Susanne Weimann (alias Ms Brainshaker). Und Schauspieler Gerd Buurmann aus Köln klagt: "Mich macht es fuchsteufelswild, wenn ich höre, der Amokläufer hätte wahllos um sich geschossen. Er hat gezielt in die Köpfe von Mädchen geschossen. Das ist alles, aber nicht wahllos. Wieso wird das nicht deutlich gesagt?"
Die Polizei sagte es auf ihrer ersten Pressekonferenz am 11. März noch unmissverständlich: "Auffällig ist, dass es sich bei den Opfern vor allem um Mädchen handelte." In der Tat: Von den zwölf Toten in der Schule sind elf weiblich, nur einer ist männlich.
Was eigentlich wäre los, wenn Tim K. in einer gemischten deutsch-türkischen Klasse zu über 90 Prozent Türken erschossen hätte? Die Hölle wäre los! Im ganzen Land gäbe es Proteste und Demonstrationen gegen die Ausländerfeindlichkeit. Doch in diesem Fall hat es sich ja nur um Frauenfeindlichkeit gehandelt.
Der Amokläufer war keineswegs wahllos, er hat seine Opfer durch gezielte Kopfschüsse regelrecht hingerichtet. Tim K. erschoss drei Lehrerinnen und acht Schülerinnen. Nur einer der Toten in der Schule war männlich: ein Junge albanischer Herkunft, Ibrahim, der als "Frauenflüsterer" galt, als Frauenliebling. Ganz im Gegensatz zu Tim.
Erst außerhalb der Schule hat der Amokläufer dann auf der Flucht wahllos um sich geballert und dabei auch noch drei zufällig anwesende Männer getötet.
Ist das Drama in der schwäbischen Kleinstadt Winnenden damit das erste Massaker mit dem Motiv Frauenhass in Deutschland – und das zweite weltweit in einem Nicht-Kriegsland? Und, wenn ja: Welche Schlüsse werden daraus gezogen?
Die ARD-Nachrichten sprachen am zweiten Tag von "drei Lehrern und neun Schülern", die getötet worden seien. Und die politischen TV-Magazine problematisierten am Abend danach zwar zu recht den privaten Waffenbesitz oder den jugendlichen Internetkonsum. Doch dieser zentralste, offensichtlichste Aspekt – der Frauenhass – kam mit keinem Wort mehr vor. Am dritten Tag erwähnten die FAZ und die SZ in ihren ausführlichen Erörterungen des Dramas zwar in einem Satz, dass Tim K. gezielt auf Mädchen geschossen und einen "Hass auf Frauen" (Süddeutsche Zeitung) hatte. Doch welche Schlüsse wurden daraus gezogen? Keine.
Der 17-Jährige kommt aus einem wohlsituierten Elternhaus, der Vater ist Unternehmer. Er galt als verklemmt und war ein mittelmäßiger Schüler, hatte im vergangenen Jahr jedoch den Realschulabschluss geschafft und danach eine Privatschule besucht. Tim K. soll sich früher von einer Lehrerin "gemobbt" gefühlt haben: "Er hat sie regelrecht gehasst, wie Frauen allgemein", so ein Nachbar der Familie zu Bild.
Am Tag nach dem Amoklauf, am 13. März, interviewt Bild dazu Dieter Lenzen, den Präsidenten der Freien Universität Berlin. Der Erziehungswissenschaftler erklärte: "Die Jungen sind die Verlierer im deutschen Bildungssystem." Und er wusste auch schon warum: "Vor allem die Tatsache, dass Jungen schon in der Grundschule meistens von Lehrerinnen unterrichtet werden, verhindert, dass sie eine männliche Identität ausbilden können."
Eine "männliche Identität" – was ist das? Wohin die Verunsicherung eines Mannes führen kann, das hatte am 6. Dezember 1989 in Kanada Marc Lepine gezeigt. Der 25-Jährige stürmte einen Unterrichtsraum der Montrealer Ecole Polytechnique mit dem Ruf: "Ich will die Frauen!" Sodann erschoss er 14 Ingenieur-Studentinnen und schrie: "Ihr seid Feministinnenpack. Ich hasse Feministinnen!" Am Schluss tötete er sich selbst.
Der Täter war in der Tat zwischen den Identitäten, zwischen verschiedenen Männlichkeitsmodelle, zerrissen: als Sohn einer Kanadierin und eines Algeriers. Hinzu kam: Er war ein arbeitsloser Elektriker, der nicht an der Ingenieursschule angenommen worden war.
Auch der Jugendliche Tim K. scheint als Mann verunsichert gewesen zu sein. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass es ihm an männlichen Vorbildern mangelte. Im Gegenteil, sein Vater inszeniert sich offensichtlich als Superman: Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, Porschefahrer und Waffennarr. Als Mitglied des örtlichen Schützenvereins besitzt er insgesamt 15 Waffen und in seinem Waffenschrank fand die Polizei 4.600 (!) Schusspatronen. Der Sohn, der häufig mit dem Vater Schießübungen machte, entwendete die 15. Waffe, die unverschlossen im Schlafzimmer lag, und Hunderte von Patronen dazu. Das hätte noch für viele Menschen gereicht.
Tim K. befand sich seit seiner Musterung in psychiatrischer Behandlung, er hatte die Therapie jedoch nach fünf Sitzungen abgebrochen. Der 17-Jährige soll "Depressionen" gehabt haben. Wir alle kennen depressive Frauen. Morden sie? Nein, höchstens sich selbst.
Es ist auch keineswegs eine Überraschung, dass der unauffällige Tim K. wie viele Jungen seiner Generation Porno- und Gewaltvideos konsumierte und täglich Stunden im Internet surfte. Seit er das tat, soll er sich verändert haben. Auf seinem Rechner fand die Polizei 200 Pornobilder, darunter 120 so genannte Bondage-Inszenierungen: Das sind Fotos, auf denen man nackte gefesselte Frauen sieht, die vergewaltigt und gefoltert werden, manchmal zu Tode. Vielleicht sollte also statt über Tims früheren Lehrerinnen eher über sein heutiges Parallelleben in einer virtuellen Welt voller ballernder, gewalttätiger Helden nachgedacht werden?
Internationale Studien belegen seit Jahren, ja Jahrzehnten etwas, was nicht überraschend ist: Der Konsum von Pornografie - also von Bildern und Texten, in denen die sexuelle Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt verknüpft wird - prägt nicht nur das Bild von Frauen, sondern stumpft die Empathiefähigkeit dieser Pornokonsumenten gesamt ab, und je jünger umso beeinflussbarer (mehr).
Auch diese Jungen müssten vor der dank moderner Medien allgegenwärtigen Gewaltpornografie geschützt werden. Sie laufen sonst Gefahr, sich bei Verunsicherung in Dominanzphantasie gegen Frauen zu flüchten, was ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht nicht gerade besser macht.
In quasi allen Fällen von Männergewalt in Friedenszeiten spielt der Männlichkeitswahn - also die verunsicherte Männlichkeit verbunden mit einem unrealistischen Größenwahn - eine zentrale Rolle. Diese männlichen Allmachts- und Todesfantasien werden zu Dynamit. Da kann eine, vermeintliche, Kränkung durch eine Frau (wie zum Beispiel eine Zurückweisung) leicht zum auslösenden Funken werden.
Diese so kontaminierten Jungen sind wandelnde Zeitbomben. Und es ist zu befürchten, dass Tim K. aus dem Eigenheim in der idyllischen schwäbischen Kleinstadt nicht der letzte Amokläufer war.
Wie aber können potenzielle Opfer in Zukunft geschützt werden, vor allem: Wie kann verhindert werden, dass diese „Verlierer“ zu Verbrechern werden? Ganz sicher nicht durch ein mehr an Männlichkeit, wie Professor Lenzen es fordert, sondern nur durch das Gegenteil: durch ein Mehr an Menschlichkeit!
Auf der ersten Pressekonferenz nach der Tat erhob ein hilfloser Polizeichef die Forderung nach Einlass-Chips für Schulen. Er scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass das Böse nicht von draußen kommt. Es ist mitten unter uns. Es sind unsere eigenen Söhne, Nachbarn und Mitschüler, die zu Vergewaltigern und Mördern werden können. Wir können uns vor diesen ausrastenden Jungen mitten unter uns nicht mit Schlössern und Chips schützen.
Wir können sie nur vor sich selbst schützen. Das Rezept dazu heißt: aufmerksame, zugewandte Eltern und LehrerInnen, mehr Psychologen und Sozialarbeiter in Schulen und Jugendhäusern – sowie eine Erziehung nicht etwa zum Selbstmitleid und zur "Männlichkeit", sondern zur Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit.
Doch vor dem ersten Schritt zur Änderung der Verhältnisse muss die Bereitschaft stehen, die Wurzeln des Übels zu erkennen. Und sie endlich auch zu benennen!
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