Ein unerhörtes Selbstbekenntnis
Es muss Ende April gewesen sein. In unserer Wohnung Rue d’Alesia im 14. Arrondissement klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Jean Moreau, mein Kollege vom Nouvel Observateur. Das linksliberale Wochenblatt hatte am 11. April 1971 "die Liste der 343 Französinnen" veröffentlicht, "die den Mut haben, das Manifest zu unterzeichnen: Ich habe abgetrieben!". Die politische Provokation war die Idee des engagierten jungen Journalisten gewesen, und wir – ein Dutzend frischgebackener Feministinnen – machten sie zu unserer Sache. Mit dem Ergebnis, dass das Bekenntnis der 343 nicht nur Frankreich in Aufruhr versetzte, sondern auch international Aufsehen erregte.
Doch nun machte Jean, der Vater des Gedankens, sich Sorgen. "Hör mal, Alice", sagte er. "Bei uns hat eine komische deutsche Zeitschrift angerufen, Jasmin oder so ähnlich. Die wollen das Selbstbekenntnis nachstellen. Aber ich habe den Verdacht, die wollen daraus nur einen Werbegag machen. Kannst du nicht was tun?"
Ich überlegte nur kurz. Dann griff ich zum Telefon und wählte die Nummer des stern - Redakteurs Winfried Maaß. Mit ihm hatte ich als freie Korrespondentin in Paris manchmal zu tun. Maaß wusste selbstverständlich von der Aktion. Und als ich ihn fragte, ob der Stern mitziehen würde, wenn ich ihm 300 bis 400 Unterschriften von deutschen Frauen bringen würde, die sich selbst der Abtreibung bezichtigten, da überlegte Maaß nicht lange: "Wenn Sie das schaffen – sofort!"
Einen Monat später hatte der Stern die Liste von 374 Frauen auf dem Tisch. Und rückblickend staune ich bis heute, wie so eine Kleinigkeit wie ein Anruf ein ganzes Leben verändern kann. In diesem Fall nicht nur mein Leben, sondern das vieler Frauen.
Doch der Reihe nach. Ich lebte seit zwei Jahren wieder in Frankreich und war seit einigen Monaten eine der Aktivistinnen der Pariser Frauenbewegung. Doch ich erinnerte mich bestens an den Frankfurter »Weiberrat« und die legendäre Tomate, die anno 1968 eine Genossin ihren patriarchalen Genossen an den Kopf geworfen hatte, Motto: "Die Herrschaft der Schwänze hat ihre Grenze." Ich ging also davon aus, dass ich nur bei der deutschen Frauenbewegung anklingeln müsste, und schon hätten wir unser Abtreibungsmanifest.
Doch weit gefehlt. Es gab zwar die Dollen Minnas in Holland und Women’s Lib in Amerika, aber (noch) keine Frauenbewegung in Deutschland. Für die aufmüpfigen Studentinnen von einst war die Frauenfrage nichts als ein "Nebenwiderspruch", dem Hauptwiderspruch Klassenkampf nachgeordnet. Beim Frankfurter Weiberrat, dessen zwei, drei Dutzend Mitglieder eifrig "Kapitalschulungen" nach Marx machten, holte ich mir also eine kühle Absage; an einer so "reformistischen" und "kleinbürgerlichen" Aktion wolle man sich nicht beteiligen. Bei den Münchner Roten Frauen wäre ich auch beinahe gescheitert, wäre dort nicht eine Handvoll Frauen die Kapitalschulungen leid gewesen. Nur der unter DDR-Einfluss stramm organisierte Sozialistische Frauenbund Westberlin stieg kollektiv ein, in der Hoffnung auf Kontakt zu den Massen.
So kam etwa die Hälfte der 374 Unterschriften zusammen. Der Rest war Mundpropaganda: von Nachbarin zu Nachbarin, von Kollegin zu Kollegin, von Freundin zu Freundin. Ich reiste durchs Land und sammelte die Unterschriften. Denn meine Abmachung mit dem stern war strikt. Als Gegenleistung für die Unterschriften forderte ich von dem Magazin: ein kollektives Titelbild (also kein einzelner Star auf dem Cover), den ungekürzten Abdruck des politischen Appells und die Veröffentlichung meiner Reportage über die Aktion. Ich war schließlich nicht blauäugig. Mir war klar, dass ich auf der Hut sein musste, damit aus der Aktion keine Sensationshascherei würde.
Also übergab ich dem Stern die 374 Unterschriften erst in der Nacht des Redaktionsschlusses. Erst als ich, nach zähem Gefeilsche, ganz sicher sein konnte, dass das Selbstbekenntnis der 374 angemessen präsentiert sein würde, überreichte ich die Mappe mit den Unterschriften. Inzwischen war es zwei Uhr morgens…
Am 6. Juni 1971 platzte die Bombe, nur zwei Monate nach dem Nouvel Observateur. Die Bundesrepublik stand kopf. Denn trotz der Liberalisierungsdebatte von 1969 an war Abtreibung noch immer ein Tabu. Eine Frau, die abtrieb, tat das meist in totaler Einsamkeit. Sie redete in der Regel weder mit der besten Freundin noch der eigenen Mutter, ja oft noch nicht einmal mit dem eigenen Mann darüber. Eine Frau, die abtrieb, hatte entweder das Geld für die Schweiz – oder sie riskierte ihre Würde und so manches Mal auch ihr Leben bei illegal abtreibenden Ärzten und auf dem Küchentisch von Engelmacherinnen.
Zu der Zeit schätzte man die Zahl der illegalen Abtreibungen auf eine halbe Million, nur in der Bundesrepublik. (2008 waren es nur noch 114000, in ganz Deutschland; also weniger ungewollte Schwangerschaften dank Aufklärung und gestiegenem Selbstbewusstsein der Frauen.) Ein uneheliches Kind war eine Schande, und Ehefrauen hatten in der Bundesrepublik kein Recht auf Berufstätigkeit. Nur jede fünfte Frau nahm die Pille, viele Männer empfanden Kondome als kastrierend. Abtreibenden Frauen drohten bis zu fünf Jahren Gefängnis – doch wurde der Paragraf 218 schon lange nicht mehr angewandt. Ganze 276 Frauen waren 1969 wegen illegaler Abtreibung verurteilt worden. Geschriebenes Recht und gelebtes Rechtsempfinden klafften also meilenweit auseinander. Eigentlich ging es beim Paragrafen 218 nur noch um Einschüchterung und Demütigung der Frauen – und der sympathisierenden Ärzte.
"Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau dazu!", bekannten nun also 374 Frauen öffentlich; darunter auch einige, die es nie getan hatten, aber durchaus in Gedanken durchgespielt (wie ich). Bis heute bewundere ich den Löwinnenmut der 373 Frauen, die, mit mir, damals den Appell unterzeichnet haben. Keine von ihnen wusste, ob morgen nicht die Polizei vor der Tür stehen würde (was sie in einigen Fällen tat), ob sie ihre Stelle verlieren, ihre Nachbarn noch mit ihnen sprechen, ihr Mann sich von ihnen trennen würde.
Und die viel zitierten Prominenten? Diese insgesamt neun (von 374) bekannten Frauen – darunter Romy Schneider, Senta Berger und Veruschka von Lehndorff – riskierten fast noch mehr als die Unbekannten: nämlich ihren Ruf und ihre Engagements. Doch der Wagemut hatte sich gelohnt.
Das Bekenntnis der 374 wurde zur Woge, die Tausende mitriss. Und zum Auslöser der Neuen Frauenbewegung. Die Frauen begannen zu reden, endlich. Von ihrer Angst vor ungewollten Schwangerschaften, von ihrer überschatteten Sexualität ("Währenddessen denke ich nur daran"), von ihrer Einsamkeit. Wenig später machte ich ein Buch darüber: Bei 18 Frauen mit insgesamt 49 Abtreibungen hatte nur ein einziger Mann seiner Frau beigestanden.
Und die Medien? Die reagierten unterschiedlich: von positiv (Zeit) bis hämisch. Bild fuhr einen Zickzackkurs (da man ein Massenblatt nie auf Dauer gegen die Menschen machen kann), die Süddeutsche Zeitung geißelte den "Exhibitionismus" und die Frankfurter Rundschau den "Konsumwahn" der Frauen sowie die "Vernichtung unwerten Lebens".
Womit wir bei der Rolle der katholischen Kirche wären, für die abtreibende Frauen bis heute "Mörderinnen" sind. Die hatte es schon zuvor geschafft, die von der sozialliberalen Regierung 1969 versprochene Fristenlösung (das Recht der Frauen auf Abtreibung in den ersten drei Monaten) durch organisierten Protest zu stoppen. Statt das hundert Jahre alte Gesetz endlich zu reformieren, ruderten die Sozialdemokraten zurück. Ganz wie heute bei der Debatte um die sogenannten Spätabtreibungen.
Dabei hält es die Kirche selbst mit dem "werdenden Leben" mal so, mal so. Noch 1869 erließ Papst Pius IX. das Verdikt, der männliche Fötus habe vom 40. Tag an eine Seele, der weibliche jedoch erst vom 80. Tag an. Jetzt, im 21. Jahrhundert, will die Kirche Schulter an Schulter mit der CDU/CSU und Teilen von SPD und FDP via Hintertüre "Spätabtreibungen" sogar die sogenannte medizinische Indikation – bei Gefahr bis Lebensgefahr für die Mutter – weiter einschränken. Und aus der 1974 ursprünglich verabschiedeten Fristenlösung wurde bereits Mitte der siebziger Jahre in Deutschland dank dem Druck der katholischen Kirche eine Indikationslösung mit Beratungspflicht: Gnade statt Recht.
Die Tabubrecherinnen, deren Mut es zu verdanken ist, dass abtreibende Frauen heute in Deutschland trotzdem nicht mehr ihr Leben riskieren müssen – noch nicht! –, werden heutzutage oft verkannt: als leichtfertig oder gar zynisch. Der provokante Slogan "Mein Bauch gehört mir" – der übrigens erst später aufkam – soll als Beweis dafür herhalten.
Doch damals, an diesem denkwürdigen 6. Juni 1971, stockte allen der Atem vor der Unerhörtheit dieses so selbstlosen, öffentlichen Bekenntnisses. Und eines war aufgeklärten Menschen ganz klar: Es ging nicht etwa um die Propagierung der Abtreibung, sondern es ging nur um die Humanisierung der Umstände unvermeidbarer Abtreibungen. Denn eine ungewollt Schwangere treibt ab, egal, unter welchen Umständen. Zur Debatte stand und steht also nicht das Ob, sondern das Wie von Abtreibungen: legal und mit medizinischer Hilfe – oder illegal und in Lebensgefahr.
Als Henri Nannen, den ich erst viel später persönlich kennenlernte, am 6. Juni die zum Skandal passende Pressekonferenz gab, da saß ich längst wieder im Zug nach Paris. Mission erfüllt. Meine initiative Rolle bei dem Appell der 374 hatte ich bewusst verschleiert. Ich begriff mich bei der Aktion schließlich weniger als Journalistin und mehr als Mittlerin zwischen den französischen und den deutschen Frauen.
Dass ich dann nur wenige Monate später, im Herbst 1971, dennoch mein erstes Buch über die Frauen gegen den § 218 veröffentlichte, lag daran, dass die deutsche Debatte über den Paragrafen 218 aus meiner Sicht sehr schnell sehr schieflief. Denn da war auf einmal nur noch von der "Seele des Fötus" die Rede, von den "bevölkerungspolitischen Aspekten" und dem "zu schützenden Rechtsgut". Aber nicht von der Würde und Selbstbestimmung der Frau. Wir engagierten Journalistinnen – und damals waren wir viele! – hatten quasi Schreibverbot. Wir galten als Frauen als "viel zu befangen". Heute hat Deutschland eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa, gleich nach Irland und Polen. In den übrigen Nachbarländern hingegen gilt schon lange selbstverständlich die Fristenlösung.
In Frankreich, dem Ursprungsland des Protestes, führte Simone Veil als konservative Familienministerin im Jahr 1975 die uneingeschränkte Fristenlösung ein. Und es kommt dort bis heute niemandem in den Sinn, dieses so fundamentale Recht von Frauen auch nur infrage zu stellen.
Alice Schwarzer in der ZEIT, 23.4.2009