MainPost: Sie nannten sie "Alois"
Alice Schwarzer im Ort ihrer Kindheit im Frankenland. In ihrer frühesten Erinnerung sieht sich Alice Schwarzer einen Berg hinuntergehen. Da ist ein Haus, eine Küche, sie krabbelt unter den Tisch und spielt mit kleinen Kätzchen. Vielleicht sind es auch Hündchen. Die Erinnerung ist blass. Alice kann nicht viel älter als ein Jahr gewesen sein. Jetzt, fast 70 Jahre später, geht sie die abschüssige Gasse in Oberlauringen (Landkreis Schweinfurt) in Begleitung der Fotografin Bettina Flitner noch einmal hinunter. Den Bürgermeister und die Reporterin wird sie später treffen.
In der Mitte des Dorfes, am Plan 1, waren ihre Großeltern Ernst und Margarete Schwarzer am 12. August 1943 beim Dorfschmied Steigmeier einquartiert worden. Schwarzer zeigt Bettina Flitner die ehemalige Milchsammelstelle der Schmidts, wo der Großvater jeden Morgen die Milch für das Kind geholt hat. Siegfried, der Sohn der Familie, war damals 16. Bei ihrem letzten Besuch vor eineinhalb Jahren hat sie ihn getroffen, er hat ihr viel erzählt vom Großvater und sie hat dem Siegfried einen Absatz in ihrer Autobiografie „Lebenslauf“ gewidmet, aus der sie an diesem Abend in Stadtlauringen vorlesen wird.
Was für ein Leben: Am 3. Dezember 1942 wird Alice Schwarzer geboren, unehelich, neun Monate nach einem Flirt ihrer jungen Mutter mit einem Soldaten auf Heimaturlaub. Die Großeltern ziehen das Kind auf, Alice nennt sie Mama und Papa. Kindheit auf dem Dorf in Franken, Schulzeit in Wuppertal, Suche nach dem richtigen Beruf, endlich Journalistin, aufregende Jahre in Paris, Pionierin der Frauenbewegung, Aktion gegen den Paragrafen 218, 1976 Start der Frauenzeitschrift „Emma“ – um die wichtigsten Stationen der Feministin, Verlegerin, Journalistin und streitbaren Fernsehtalkerin zu nennen.
Im Klappentext ihrer Autobiografie steht ein Satz, der die Ambivalenz dieses Lebens auf den Punkt bringt: „Es gibt wohl kaum eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland, die über Jahrzehnte in einem solchen Übermaß Bewunderung und Aggressionen erfahren hat . . . wie Alice Schwarzer.“ In Stadtlauringen erfährt sie an diesem Tag nur Sympathie und Bewunderung und erwidert das mit großer Herzlichkeit.
Treffpunkt im Gasthaus Stöhr. Alice Schwarzer strahlt Bürgermeister Friedel Heckenlauer an. Sie kennt ihn seit ihrem Besuch 2004, als er die Freundinnen aus Kindergartenzeiten zusammengetrommelt hat, und sie mag ihn offensichtlich. Das Gespräch beginnt ansatzlos. Alice Schwarzer erzählt von der Stippvisite in Oberlauringen – von der der ehemalige Polizist Heckenlauer längst erfahren hat – und vom Abend vorher in Würzburg, als sie vor 800 Leuten im Audimax der Universität über Frauenrechte gesprochen hat. „Wussten Sie, dass noch 1976 ein Ehemann die Stelle seiner Frau kündigen konnte?“, fragt sie die Reporterin. Die nickt und ist damit sofort eingebunden.
Es ist kalt, es nieselt, aber Alice Schwarzer will vor der Lesung unbedingt durchs Dorf gehen. Gleich neben dem Stöhr steht das Haus Schweinfurter Straße 10, wo Schwarzers nach den ersten Monaten in Oberlauringen am 20. Dezember 1944 beim Bauern Hohn einquartiert wurden. 40 Quadratmeter im Erdgeschoss, drei Fenster zur Straße. Natürlich können wir ein Foto machen, Alice Schwarzer ist Profi, sie weiß, was die Kollegin von der Tageszeitung braucht.
Zwischen dem Stöhr und dem Bauernhaus geht wie früher der Weg hinunter zur Lauer, wo Alice mit den Kindern vom Dorf Schiffle schwimmen ließ. Eine Katze springt von der Mauer und streicht der Katzenfreundin um die Beine. Genau hier, in der Scheune vom Bauern, fand Alice ihre erste Katze, die Mucki, die sie fortan statt der leblosen Puppe im Kinderwagen spazieren fuhr. Mucki durfte übrigens mit nach Wuppertal, als die Großeltern 1949 zurückgingen. Alice war traurig, sie hatte das Dorf geliebt und verstand nicht, warum sie auf dem neuen Schulhof ausgelacht wurde, als sie fragte „Wolln wir fei Fangerles spielen?“ Aber sie lernte schnell, auch dass man in Wuppertal keinen „Schürzer“ trägt.
Fast zu jedem Haus in ihrer alten Straße gibt es eine Geschichte. Der Zahnarzt Gerschütz versteckte zwei jüdische Frauen. Bei Bäcker Braun nebenan wusste man Bescheid. Es war das einzige Haus, in dem Mama und Papa verkehrten. Auch Brauns waren Nazigegner, man vertraute sich. Bei Tante Ellis in Nummer 4 hat sich Alice oft zum Essen eingeladen. Die Großmutter hatte es nicht so mit dem Kochen. Sie hatte es auch nicht so mit der Erziehung.
Alois, wie die Leute im Dorf das Mädchen nannten, weil der Name Alice gar zu fremd klang, war schon früh auf sich gestellt. Sie holte Wasser vom Brunnen, Wurst beim Metzger Lutz, passte auf, dass der Dorfpolizist die Großmutter nicht mit einem verbotenen Paket erwischte. Margarete Schwarzer war eine Städterin, sie konnte sich nicht im Dorf eingewöhnen, verließ kaum das Haus. Alice war sehr früh sehr selbstständig, bewegte sich zwischen Familie und Dorf, zwischen dem Rand der Gesellschaft und deren Mitte, wie sie es formuliert, und da sieht sie ihren Platz bis heute. Auch ihr extremes Verantwortungsbewusstsein führt sie auf diese frühen Jahre zurück.
Immer wieder legt Alice Schwarzer ihren warmen Mantel und den Schal für ein Fotoshooting ab: vor der Bäckerei Braun, an der Bushaltestelle und vor der Kirche, in der natürlich nicht mehr der Mohr am Eingang steht, der mit dem Kopf nickte, wenn man einen Pfennig für die „armen Negerkinder“ einwarf. Die protestantisch getaufte Alice liebte den Geruch von Weihrauch, die Prozessionen, bei denen sie besonders eifrig Blumenköpfe streute.
Am Marktplatz zeigt sie das Haus, in dem der Milchladen war. Die Karola vom Milchladen war eine Freundin, die Franziska vom Schäfer eine andere. Dann gab es noch die Heidrun, die war irgendwie was Feineres. Bei der Erinnerung daran lacht Alice Schwarzer so herzlich, dass ihr Gesicht nur aus Mund zu bestehen scheint. Schließlich will sie unbedingt noch zur Kapelle auf dem Berg. Weil es jetzt richtig regnet, lässt sie sich vom Bürgermeister chauffieren, vorbei an der ehemaligen Kinderbewahranstalt und dem Hohlweg, wo ihr die Großmutter die schwarz gekaufte Butter in die Unterhose steckte.
Eine Stunde vor der Lesung steht Alice Schwarzer auf der Bühne. Sie weiß aus Erfahrung, was schiefgehen kann. Und wirklich: Der Scheinwerfer steht falsch, der Lehnstuhl ist was für Großmütter, der Tisch ist zu groß. Also schleppt der Bürgermeister einen Stuhl heran, am Ende passt alles. Die Lesung vor ausverkauftem Haus kann beginnen, und es dauert nur wenige Minuten, bis Alice Schwarzer das Publikum mit ihren Geschichten, ihrem Witz und ihrem Charme bezaubert hat.
Beim anschließenden Gespräch geht es natürlich auch um die Kachelmann-Geschichte. Schwarzer sagt, sie habe sich eingemischt, weil die großen Zeitungen von vorneherein auf der Seite des Moderators gestanden hätten: „Ich weiß nicht, wer gelogen hat. Ich habe nur daran erinnert, dass in einem Vergewaltigungsprozess vielleicht doch das Opfer die Wahrheit sagt.“ Viel Applaus.
Schließlich fragt eine Frau, wie sie es geschafft habe, mit all den Anfeindungen in ihrem Leben fertigzuwerden. Einen Moment lang schweigt die Schwarzer, die Frage hat etwas Essenzielles berührt. Dann lacht sie ihr berühmtes Lachen und sagt, das habe sie wohl ihrem Humor zu verdanken. Da könnte was dran sein.
Alice Schwarzer wird 1942 in Wuppertal geboren, wächst bei den Großeltern auf. Die Familie wird ausgebombt, lebt von 1943 bis 49 in Unterfranken. Die Schulzeit verbringt sie in Wuppertal. Eine Lehre als kaufmännische Angestellte bricht Schwarzer ab, zieht nach München, später nach Paris, wo ihr klar wird, dass sie Journalistin werden will. Trotz einer großen Liebe in Paris beginnt sie 1966 ein Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten. 1969 wird sie Redakteurin bei der Satirezeitschrift Pardon. Sie wird zur Pionierin der Frauenbewegung. Ihrer Initiative verdankt der Stern 1971 die in Frankreich gestartete Initiative „Wir haben abgetrieben“. Das Geld, das sie mit dem Buch „Der kleine Unterschied“ verdient, steckt sie 1976 in die Gründung der Frauenzeitschrift EMMA.
Katharina Winterhalter, MainPost, 5.11.2012