"Die Rolle der Kirchen ist fatal"
Andreas Main: Hoffentlich formuliere ich jetzt nichts, was sich sexistisch anhört, nicht dass die berühmteste deutsche Feministin das Studio verlässt. Vor mir liegt ein Magazin mit einem Cover, das mich seit Tagen nicht loslässt. Eine schöne Frau dominiert den Titel, eine sehr schöne Frau, südländisch, bronzefarbene Haut, ihr Haar fliegt gen Himmel. Als Mann, der nie so richtig lange Haare hatte, kann ich nur schätzen: Dieses Haar dürfte mehrere Kilo wiegen und dennoch erhebt es sich. Es scheint sich nicht bändigen zu lassen. Es lässt sich nicht zügeln, es lässt sich nicht einsperren. Und während dieses lockige, lange Haar sich dreht und windet, wirkt diese Frau auf dem Cover absolut entspannt, tiefenentspannt, ja, womöglich glücklich. Vor mir liegt die neueste Ausgabe von "Emma" und die Titelgeschichte, sie kommt aus dem Iran. Der Titel lautet: "Unser Kampf gegen das Kopftuch". Alice Schwarzer, die Gründerin, Chefredakteurin und Herausgeberin der EMMA ist bei uns im Studio zu einer Aufzeichnung kurz vor der Sendung. Wir wollen sprechen über das Kopftuch, über ihr neues Buch, bei dem die Religion eine große Rolle spielt, und über das eine oder andere heiße Islamismus-Eisen. Frau Schwarzer, herzlich willkommen.
Alice Schwarzer: Ja, guten Morgen Herr Main.
Main: Sie haben das Studio noch nicht verlassen.
Schwarzer: Nein, ich höre fasziniert zu, wie genau Sie den Titel beschreiben und in der Tat, auch ich gehe davon aus, dass diese Frau glücklich ist und auch stolz, glücklich und stolz, denn sie ist eine dieser todesmutigen Frauen im Iran, die demonstrativ ihr Kopftuch ablegen und ihr Haar zeigen. Das ist ja zurzeit eine Aktion im Iran. Die nennen sich Mädchen von der Revolutionsstraße. Die machen das nämlich mitten im Zentrum in der Revolutionsstraße. Manche landen im Gefängnis und haben vieles zu befürchten. Sie werden von Polizisten gestoßen, aber sie machen weiter. Ich glaube, das wird zur echten zumindest Beunruhigung für das Regime, vielleicht sogar der Beginn einer Bedrohung.
Main: Sie stellen sich, diese meist jungen Frauen, auf Stromkästen und wedeln dann mit dem Kopftuch wie mit einer Friedensfahne. Für jemand, dessen Herz nicht aus Stein ist, wenn er in diese Frauengesichter schaut, in ihrer Geschichte, dann muss einen das bewegen. Sie haben sich aber bestimmt auch Gedanken darüber gemacht, ob Sie diese Frauen, die sich gegen den Gottesstaat wenden, ob die sich nicht durch diese Publikation zusätzlich in Gefahr bringen.
Schwarzer: Ja, nein, das tun sie nicht, weil ihr Protest ist ja öffentlich, und sie wollen öffentlich sein - und das wird auch im Internet gepostet, sonst würden wir das selbstverständlich nicht veröffentlichen. Alle Bilder, die Sie da in "Emma" sehen, sind mit den Betroffenen abgestimmt und alle Zitate. Also, da lassen wir eine große Sorgfalt walten.
Main: Wenn Religionsführer, in diesem Fall schiitische Muslime, politische Macht haben, dann werden Frauen zur Verschleierung gezwungen. Bei uns hier in Deutschland gibt es viele, die auf Biegen und Brechen das Kopftuch verteidigen. Wogegen richtet sich Ihr Unmut, gegen das Stück Stoff oder gegen politisch verstandene Islamherrschaft?
Schwarzer: Nein, wissen Sie, also das Kopftuch ist ja nicht religiös begründet. In Deutschland trägt ja überhaupt nur jede vierte Muslimin laut einer großen Studie des Innenministeriums überhaupt ein Kopftuch - und nur jede zweite, die sich selber als tiefreligiös bezeichnet.
Also, das Kopftuch ist eine Sitte - und seit wann ist es eine Sitte? Ich erinnere mich, ich bin alt genug, in den 60er- und 70er-Jahren hatten wir schon über eine Million Türken oder wie viele, auf jeden Fall sehr viele Gastarbeiter, so hieß das damals. Da war das Kopftuch kein Thema. Also, man sah schon einmal eine ältere Frau vom Land aus Anatolien, die trug so ein Kopftuch wie bei uns die Bäuerinnen in Hessen oder in der Eifel oder in Bayern, aber ansonsten, Kopftuch gab es nicht. Übrigens sehr interessant: Es gab auch nicht den Begriff Muslime.
Main: Wir sprachen von Gastarbeiterin oder Türken, was auch nicht immer nett war.
Schwarzer: Man bezeichnete die Türken nicht als Muslime - und sie selber bezeichneten sich nicht als Muslime. Das war kein öffentliches Thema. Türken waren Türken: Die waren irgendwie ein bisschen anders und rochen nach Knoblauch und die Frauen und Töchter sind nicht so ganz frei und so weiter - und es war eine soziale Frage. Klar, die kamen her, um bei uns zu arbeiten.
Aber die Religion hat überhaupt keine Rolle gespielt und die spielt eben, und da ist der Iran, über den wir gerade sprachen, ganz zentral, erst seit 1979, seit der Machtergreifung von Khomeini im Iran eine Rolle. Der Iran hat sozusagen die Religion in Geiselhaft genommen und missbraucht sie für eine politische Strategie. Und das ist dann ein weltweiter Kreuzzug geworden. Und da sind eben auch Länder wie Saudi-Arabien und jetzt auch die Türkei und so, die diese Propaganda für den politisierten Islam vorantreiben und finanzieren, bis mitten ins Herz der europäischen Städte.
Main: Was unterscheidet ein Kopftuch von einem öffentlich getragenen Kreuz oder einer Kippa?
Schwarzer: Das Kreuz hat auch eine Geschichte und zum Teil eine sehr politische und schmerzliche Geschichte, aber das ist zurzeit vorbei. Wir werden einmal sehen, wie es weitergeht. Jede Religion ist missbrauchbar.
Das Kreuz ist jetzt kein politisches Signal, aber das Kopftuch, unter das in den islamisch beherrschten Ländern Millionen Frauen gezwungen werden, mit Todesdrohung, also das ist eine Frage auf Leben und Tod.
Dieses Kopftuch, das eben manche hier jetzt auch sozusagen verteidigen und propagieren, das Kopftuch ist ein politisches Signal, unabhängig davon, lassen Sie mich das präzisieren, unabhängig von den Motiven der einzelnen Trägerin des Kopftuches. Diese Motive sind sehr unterschiedlich und sie mögen vielleicht auch überhaupt nicht bewusst politisch sein. Das kann sein, man will seine Identität demonstrieren, man will seine Glaubenszugehörigkeit demonstrieren, man will innerhalb seiner Community zeigen, dass man eine anständige Frau ist und so weiter und so fort, sodass ich meine, dass wir über das Kopftuch diskutieren können und müssen.
Ich will selbstverständlich das Kopftuch nicht verbieten, das ist ja klar. Ich möchte mit den Frauen diskutieren, aber das Kopftuch hat nichts zu suchen in Schulen und im öffentlichen Dienst. Da gehört es verboten.
Main: Ich möchte nämlich auch nicht jeder Frau, die ein Kopftuch trägt, gegenübertreten mit irgendwelchen negativen Gefühlen der Wut, der Verachtung oder Ähnlichem.
Schwarzer: Um Gottes Willen, das wäre ja schrecklich.
Main: Das führt dann ja zu so etwas, wie immer wieder berichtet wird, dass jungen Frauen, auch älteren Frauen, die Kopftücher vom Kopf gerissen werden. Wir wissen beide nicht, wie oft das passiert, aber das ist ein Angriff auf die Würde einer Frau.
Schwarzer: Also, so etwas habe ich noch nicht erlebt, noch nicht gesehen, aber das ist natürlich unsinnig.
Ich habe ja gerade ein Buch über Algerien geschrieben und ich selber habe viele islamische Freundinnen und Freunde, darunter auch sehr Gläubige und darunter auch Kopftuchträgerinnen. Wenn zum Beispiel eine Frau heute in Algerien Kopftuch trägt, 20 Jahre nach diesem furchtbaren Massaker, dem Versuch der Islamisten, die Macht zu ergreifen, aus Angst bis heute Kopftuch trägt, dann werde ich mir natürlich kein Urteil darüber erlauben. Ich denke aber, wir sollten uns kritisch anschauen, die Frauen, die jetzt mitten in den westeuropäischen Ländern sozusagen das Kopftuch als befreiend propagieren. Es sind oft gut ausgebildete Propagandistinnen, ausgebildet in Kairo und London, die genau wissen, was sie tun, und das scheint mir nun zynisch. Dass jemand das Kopftuch trägt, ja, und wenn man will, kann man darüber reden und nach den Motiven fragen, aber dass man es als emanzipatorischen Akt propagiert, das ist nun wirklich zynisch in einer Welt, in der Millionen Frauen unter dieses Kopftuch geprügelt und zwangsverschleiert sind. Also, ich würde dann eher aus Solidarität mit diesen Frauen das Kopftuch ablegen.
Main: Frau Schwarzer, eine Berliner Zeitung, die Tageszeitung, die hat Sie wegen Ihrer Äußerung zum Islam als "Rechtsfeministin" bezeichnet. Stimmen Sie dem zu - oder wie sehen Sie sich selbst?
Schwarzer: Ja, das ist wirklich unglaublich. Zunächst möchte ich einmal sagen, dass ich mich in meinem ganzen Leben noch nie zum Islam geäußert habe, auch wenn die taz das hundertmal behauptet, vielleicht sollte ich sie mal verklagen. Es gibt von mir keinen Satz zum Islam. Islam ist für mich Glaubenssache und Privatsache.
Mein Thema ist seit jetzt inzwischen 39 Jahren – die Zeit vergeht – der politisierte Islam, der Missbrauch des Islam, der Islamismus, also eine politische Strategie im Namen eines Glaubens; und ich wundere mich sehr, dass man sich bis heute in Deutschland erlaubt, nicht wirklich den Unterschied zu begreifen zwischen Islam und Islamismus. Denn der Islamismus nimmt den Islam in Geiselhaft. Die ersten Opfer des politisierten Islam sind nicht wir, sondern sind Muslime, und zwar Tausende und Millionen Muslime.
In Algerien, wo ich jetzt war und wo ich über eine Familie, eine exemplarische algerische Familie von drei Generationen, ein Buch geschrieben habe, da haben diese Islamisten in den 90er-Jahren über 200.000 Menschen ermordet. Die Algerier, auch und gerade die Gläubigen, sind bis heute traumatisiert davon, weil die Islamisten einen Gottesstaat in Algerien erzwingen wollten. Aber ein Land, das sich vor gar nicht so langer Zeit selber aus der Kolonialherrschaft befreit hat, aus der französischen, aus eigenen Kräften, das kriegt man nicht so leicht in die Knie.
Die Algerier haben das überlebt, aber sie sagen bis heute: Der Westen hat weggeguckt, das werden wir ihm nie verzeihen und sie sagen bis heute, wir hatten in den 90er-Jahren "unser Syrien" - und wir haben es überlebt, aber nur knapp.
Main: Sie haben dieses Buch gemacht, das Sie angesprochen haben. Es hat den Titel "Meine algerische Familie" - mit Fotografien von Bettina Flitner. Es ist ein sehr zärtliches Buch, einfühlsam, beschreibend eine Familie, mit der Sie seit langem befreundet sind. Das haben Sie auch schon angedeutet. All diese Freundinnen und Freunde sind Muslime, wenn ich so sagen darf, oder tue ich ihnen da Unrecht?
Schwarzer: Nein, nein, absolut und in dieser Großfamilie ist nur eine Person, meine Kollegin Djamila, die sagt, ich bin nicht gläubig. Alle anderen sagen, ich bin gläubig - und mindestens der Hälfte glaube ich es auch wirklich. Gläubig sein heißt ja dann, fünfmal am Tag beten und was ich wahrlich interessant fand, auch in all den Wochen, in denen ich in dieser Familie gelebt habe, mit der ich seit 25 Jahren befreundet bin, in all diesen Wochen, in denen die Fotografin und ich da gelebt haben, haben wir nicht einmal jemanden beten sehen. Warum nicht? Weil der normale Muslim in Algerien verlässt einfach kurz den Raum und kommt nach einer Viertelstunde wieder und hat gebetet.
Es gibt kein demonstratives öffentliches Beten in Algerien. Wenn man fragt, warum nicht, sagen sie, das ist überhaupt nicht unsere Tradition. Beten ist etwas sehr Intimes, sehr Privates, ein Zwiegespräch zwischen uns und Gott. Das ist wirklich einfach der Glaube - und der ist zu respektieren, wie Christentum, Judentum und so weiter. Das ist ja kein Thema. Und genau diese Menschen fragen mich: Wie kann das sein, dass ihr in Deutschland immer mit den Falschen redet, eben mit diesen Verbänden, die einen scharia-treuen Islam vertreten, die im besten Fall rückständig sind, wenn nicht sogar islamistisch sind und finanziert werden aus dem Ausland, aus Ägypten, aus Saudi-Arabien, aus der Türkei?
Wir wissen das, wir können das alle wissen, wenn wir wollten. Das sind die Leute, mit denen hier die Politik und auch die gesellschaftlichen Kräfte wie Kirchen reden. Ich meine, dass sie damit die Mehrheit der Muslime, die Demokratie und Frieden wollen, dass sie die damit verraten und ausliefern an diese Radikalen, die oft Kreide gefressen haben und nach außen so ganz liberal tun und nach innen die Scharia propagieren.
Main: Sie haben eben gesagt, dass Sie nie über 'den' Islam geredet haben, aber dennoch reden Sie ja mit ihren Freundinnen und Freunden und dieser Großfamilie durchaus auch über Religion. Was entsteht da für Sie für ein Bild? Was ist das für eine Religion, die diese, Ihre algerische Familie lebt?
Schwarzer: Also, ich lasse sie erzählen über ihr Leben und ihr Verständnis vom Islam, aber ich habe nie politisch thematisiert, den Islam. Das ist der Unterschied. Für mich ist der Islam eine Religion, der eineinhalb Milliarden angehören. Ich würde mir nicht erlauben, ihnen zu sagen, hallo, ihr habt euch vertan, das ist falsch oder jetzt ist aber mal Zeit, dass ihr ein bisschen euch reformiert. Natürlich gibt es einen gewissen Reformationsstau im Islam, die nicht die letzten 200 Jahre oder wie wir durchgemacht haben, aber das ist meiner Meinung nach die Angelegenheit der Muslime und nicht unsere.
Also, was klar ist, ist, dass der Islam, wenn er so liberal und gleichzeitig fromm gelebt wird wie in meiner Familie, dass er doch etwas stärker den Alltag prägt, dass er stärker in den Alltag eingreift, aber ebenso klar ist, dass zum Beispiel in Algerien, das 1962 unabhängig geworden ist vom Kolonialherrn und diese heroischen, revolutionären Jahrzehnte hatte, wo alle Revolutionäre aller Welt hin gepilgert sind und dann kamen diese furchtbaren Jahre.
Main: Die schwarzen Jahre.
Schwarzer: Die sogenannten schwarzen Jahre mit den über 200.000 Toten, weil die Islamisten hatten eine Wahlrunde gewonnen, die erste von zweien in den ersten freien Wahlen. Dann hat die Militärregierung gesagt, stopp, wir machen keine zweiten Wahlen und wir bleiben erst einmal an der Regierung. Viele Menschen in Europa erlauben sich bis heute zu sagen: "Ja, unerhört, das ist ja undemokratisch und so".
Meine Freundin Khalida Messaoudi, die ihren Mädchennamen Toumi wieder angenommen hat und in dieser Regierung, in der aktuellen, auch ein paar Jahre lang Kultusministerin war, die ist von den Islamisten gehetzt worden. Die hat fünf Jahre lang in den 90ern im Untergrund gelebt und jede Nacht das Bett gewechselt. Die sagt zu mir: "Weißt du, gerade die Deutschen hätten vielleicht besser 1933 auch die Wahlen gestoppt. Dann wäre die Geschichte anders weitergegangen."
Also, sie macht einen direkten Vergleich, wie viele meiner Freunde und Freundinnen, zwischen Faschismus und den Islamisten. Für sie ist das der neue Faschismus und alle Menschen, die einfach ihr Leben leben und gläubige Muslime sind, wollen endlich davon befreit werden und verstehen nicht, warum die Demokratien in dieser Welt nicht zu ihnen halten, sondern genau zu diesen Scharia-Muslimen, ich nenne sie einmal so, damit wir Begrifflichkeiten haben, die das ganze Elend angerichtet haben und weiterführen.
Main: Und Sie haben sich in den 90er-Jahren anders verhalten. Sie haben sich frühzeitig auf die Seite der Verfolgten gestellt und Sie haben eben – und daraus resultiert auch der Kontakt zu Ihrer algerischen Familie – Sie haben eine der bedrohten Frauen hier nach Köln geschafft.
Schwarzer: Ja, so ist es. Die Islamisten haben in Algerien als Erstes natürlich die Journalisten umgebracht. Jeder Vierte ist ermordet worden und die, und von denen, die noch leben, sind die meisten ins Exil geflohen.
Ich hatte meine Freundin Djamila kennengelernt bei einem Seminar in Tunis, das ich 1989 für Frauen in Nordafrika gegeben habe. Das war übrigens ein Abenteuer auch für mich. Und dann habe ich mitbekommen, wie sie in Lebensgefahr geriet und habe sie hergeholt. Sie hat dann fünf Jahre in Deutschland gelebt. Sie wäre sonst sicherlich nicht mehr am Leben. Natürlich hat ihre Familie sie besucht und hat mich besucht - und ich habe die besucht und so weiter.
Die Familie ist natürlich mir sehr verbunden, weil ich Djamila, das kann man so sagen, das Leben gerettet habe. Also, sie betrachten mich als Familienmitglied und dass ich zum Beispiel keine Muslimin bin oder auch nicht sehr gläubig, das stört da niemanden. Also, die sind sehr tolerant. Also, es soll jeder nach seiner Façon leben.
Main: Frau Schwarzer, in einem Essay für die "Welt" haben Sie gefordert, aufgeklärte, friedliche Musliminnen und Muslime bräuchten Unterstützung dabei, den Islam vom Islamismus zu befreien.
Schwarzer: Ja.
Main: Wie können wir das tun? Was müssen wir tun?
Schwarzer: Ja, das ist kein Zufall, dass ich eben diesen Familienroman sozusagen geschrieben habe, der aber Realität ist, diese Geschichte der Familie. Es ist sicherlich eine Liebeserklärung an Algerien, an dieses tapfere Land, das in Nordafrika ein Schlüsselland ist. Wenn Algerien fällt, fällt ganz Nordafrika. Ich glaube, man hat inzwischen in Europa genug Fantasie, um zu verstehen, was das bedeuten würde, auch für Europa.
Wie könnte Algerien fallen? Algerien wird 2019 Wahlen haben im Frühling, und sie können zwar kein Gottesstaat mehr werden, weil das haben die Algerier ja begriffen, aber der Glaube hat sich radikalisiert. Also zum Beispiel, dass Alkohol "haram" ist, das gab es in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren nicht. Das ist jetzt so. Es wird strenger.
Es gibt zwar 60 Parteien, aber alles ist undurchsichtig; und hinter dem seit langem schwerkranken alten Präsidenten Bouteflika vermutet man, wie die Algerier sagen, eine mafiöse Kaste. Also, das Land ist in Gefahr. Es ist nicht auf einem stabilen Weg in die Demokratie; und ich meine, die Politik und die Wirtschaft sollte sich für Algerien interessieren; und ich hoffe, dass ich auch mit diesem Buch, wo ich auch viel über das Leben in Algerien und diese Traumlandschaft, das Meer, die Städte, die Kasbah erzähle, dass ich damit auch neugierig mache auf das Land und die Menschen hinfahren.
Main: Also, als erste politische Forderung: Algerien nicht hängenlassen! Zweiter Punkt, Sie haben eben schon den Kirchen und Politik vorgeworfen, mit der Minderheit der orthodoxen bis islamistischen Ideologen einen falschen Dialog zu führen.
Schwarzer: So ist es.
Main: Woran machen Sie das konkret fest?
Schwarzer: An der Realität, ich sehe sie ja jeden Tag da stehen.
Main: Fast immer Männer.
Schwarzer: Aber auch einige Frauen, die es faustdick hinter den Ohren haben. Die Rolle der Kirchen ist ja fatal. Da ist ja so: Die Kirchen, die katholische wie die evangelische, haben gewisse Privilegien in Deutschland, die durchaus diskutabel sind, Kirchensteuer et cetera. Die möchten sie ungerne aufgeben, das versteht man. Nun, damit sie sie erhalten können, sage ich, wollen sie die auch den Muslimen geben, ja, damit sie sagen können, ja, wir sind doch alle für alle, das gleiche Recht.
Nur: Die Muslime haben keine Kirche. Das gibt es nicht. Moscheen sind keine Gotteshäuser, sondern kulturelle und kommerzielle Treffpunkte und oft auch Zentren der Propaganda, wie wir wissen. Nicht alle, aber es gibt ja genug Moscheen, wo diese jungen Männer, die uns die großen Probleme machen, die entwurzelten, arbeitslosen, enthemmten jungen Männer, wo die noch radikalisiert werden durch die Imame, die ihnen sagen, ihr seid Gotteskrieger und ihr braucht nichts zu lernen und ihr seid eh mehr wert als die Frauen und die Ungläubigen und so weiter.
Also, wir müssen lernen zu unterscheiden, das zu sehen, dass der Islam ganz andere Strukturen hat und uns dann die Mühe machen, den Dialog zu suchen mit der immer noch Mehrheit der aufgeklärten Muslime und nicht mehr Schulter an Schulter da stehen mit Funktionären von hochsuspekten Verbänden, die oft über Jahre vom Verfassungsschutz beobachtet wurden, zu Recht.
Main: Den Kirchen unterstellen Sie, dass sie nicht aus inhaltlichen Gründen den Schulterschluss mit Islamverbänden suchen, sondern um ihre Privilegien zu bewahren, um es noch einmal so auf den Punkt zu bringen?
Schwarzer: Genau das unterstelle ich. Ich glaube, dass diese demonstrierte Toleranz eine verlogene und falsche Toleranz ist und dass in Wahrheit die christlichen Kirchen ihre Ruhe haben wollen und ihre islamischen Freunde da abfüttern, damit die nicht infrage gestellt werden, aber das ist sehr gefährlich und sehr falsch, denn die Islamisten sind keine Glaubensgemeinschaft, sondern sind eine politische Strategie, eine weltweite Strategie mit stark faschistoiden Zügen. Also wir müssen es unbedingt erst nehmen.
Main: Wenn wir jetzt abschließend weggehen vom "Dialog mit den Falschen" zum "Dialog mit den Richtigen". Ohne Sie jetzt nach Namen fragen zu wollen: Wo sind die Richtigen - oder wer sind die Richtigen? Ich spitze einmal zu, eher Frauen als Männer und eher Junge als Alte?
Schwarzer: Eher Frauen als Männer kann man nicht sagen, nein, überhaupt nicht, fast mehr Männer als Frauen, weil das ist ein hardcore-politisches Phänomen. Man muss schon viel politischen Verstand haben, um das zu durchschauen. Die Frauen mögen mir verzeihen, wenn ich sage, wir haben nicht so eine Tradition. Wir Frauen sind erst einmal mit unserem Leben beschäftigt und mit Vereinbarkeit von Familie und all diese Dinge, werden wir noch begehrt und sind wir auch nicht zu dick und so, also ganze Psycho- und scheinbar private Probleme, sodass wir nicht so trainiert sind, wir Frauen, politische Zusammenhänge im Weltmaßstab zu erkennen.
Hier haben wir es beim Islamismus mit einer politischen Gefahr im Weltmaßstab zu tun, die schon sehr, sehr weit gekommen ist. Sie haben bei uns agitiert. Man hat nichts dagegengesetzt. Das ist mein Hauptvorwurf. Die Islamisten sind in die muslimischen Communitys gegangen, haben Eltern Geld gezahlt, damit ihre Töchter verschleiert werden, haben versucht, die jungen Männer zu verführen, in den Dschihad zu schicken und wo waren wir? Wo sind unsere Werte? Wo ist Demokratie, Rechtsstaat, Gleichberechtigung, Chancen für jeden, auch für diese muslimischen jungen Männer und für die Frauen auch sowieso? Wo sind wir? Wann endlich stellen wir uns diesen Verbrechern entgegen?
Main: Jetzt haben Sie ganz stark mit "wir und die" argumentiert. Da muss ich einfach kurz nachhaken und gegenhalten: Grenzt das aus, wenn wir von "wir und die" sprechen?
Schwarzer: Ja, also "wir", mit "wir" meine ich, wir Demokraten, welchen Glaubens- und welcher Hautfarbe und Herkunft auch immer - und mit "die" meine ich die Gegner und Feinde der Demokratie, diese Leute, die einen Gottesstaat einführen wollen und für die die Scharia über dem Grundgesetz steht.
Main: Frau Schwarzer, danke für Ihren Besuch, danke für Ihre Einschätzung und Ihre Zeit.
Schwarzer: Ich danke Ihnen.
Das Gespräch mit Alice Schwarzer führte Andreas Main für den Deutschlandfunk. Hier das Gespräch zum Anhören