"Diese Frauen bewundere ich"
Das Kopftuch: Symbol der Unterdrückung oder der religiösen Zugehörigkeit?
Alice Schwarzer: Ein Zeichen religiöser Zugehörigkeit ist das Kopftuch nicht. Das sieht man ja schon daran, dass laut einer Studie des Innenministeriums drei von vier Musliminnen in Deutschland kein Kopftuch tragen und sogar jede Zweite sich selbst als „strenggläubig“ bezeichnende Muslimin noch nie ein Kopftuch getragen hat. In den 60er und 70er Jahren lebten übrigens auch schon sehr viele Türken in Deutschland – aber das Kopftuch war kein Thema.
Warum nicht?
Das Kopftuch trugen höchstens alte Bäuerinnen aus Anatolien, so wie bei uns in Bayern oder Hinterfranken. Wann kam also das Kopftuch über alle Traditionen hinweg so richtig auf? Als Ayatollah Khomeini im Iran die Macht ergriff! Von da an war der Islam keine Glaubensfrage mehr, sondern eine ideologischeFrage, eine politische Strategie – und das Kopftuch wurde zur Flagge dieser Islamisten. Das Kopftuch ist im Jahr 2019 also objektiv ein politisches Signal. Auch wenn es so mancher Kopftuchtragenden selbst subjektiv nicht bewusst ist.
Lassen Sie es gelten, wenn junge Musliminnen ein Kopftuch aus freien Stücken zu tragen vorgeben?
Ob ich etwas „gelten“ lasse, spielt keine Rolle. Frauen brauchen für ihre Lebensweise nicht meine Erlaubnis. Die subjektiven Motive einer Frau, Kopftuch zu tragen, sind vielfältig und zu respektieren. Wer das hinterfragt, kann darüber mit den Frauen selber diskutieren. Aber der Begriff „freiwillig“ ist durchaus schillernd. So wie bei der angeblich „freiwilligen Prostitution“.
Die Frauen stehen unter Zwang.
Selbstverständlich spielen auch Familientradition und Gruppendruck bei so einerEntscheidung eine Rolle. Wir wissen ja heute aus Schulen, dass kleine Musliminnen ohne Kopftuch als „Schlampen“ oder gar „Huren“ beschimpft werden. Vor diesem Druck müssen wir zumindest die Kinder schützen. Und auch vor der Brandmarkung als die „andere“. Muslimische Mädchen müssen, zumindest in Deutschland, dieselben Rechte und Freiheiten haben wie nicht-muslimische Mädchen. Und wir müssen Staat und Religion trennen. Darum bin ich für ein Kopftuchverbot an Schulen und im Öffentlichen Dienst.
Haben die Gespräche in Algerien Ihren Blick auf das Kopftuch verändert?
Nein. Ich kenne Algerien ja schon seit über 20 Jahren. Und in der Familie, die ich exemplarisch porträtiert habe, gibt es Frauen mit Kopftuch und Frauen ohne. Die beiden Nichten meiner Kollegin Djamila zumBeispiel, die heuteAnfang 40 sind, haben es gewagt, in den sogenannten „schwarzen Jahren“ ohne Kopftuch zur Uni zu gehen. Da hingen Transparente, auf denen stand: „Jeder Frau ohne Kopftuch wird der Kopf abgeschlagen.“ Diese jungen Frauen bewundere ich wirklich! Das war in den 90ern, in denen die Islamisten einen Bürgerkrieg angezettelt hatten, der über 200 000 Menschen das Leben gekostet hat.
Sehen das alle algerische Frauen so?
Gleichzeitig bin ich eng befreundet mit Akila, Djamilas Schwester, die seit den 90ern ein Kopftuch trägt. Die Lebenswirklichkeit ist eben immer komplexer als die Theorie.
Worin unterscheiden sich die Ansprüche deutscher und algerischer Frauen?
Die Algerierinnen sind, wie die Frauen in allen islamischen Ländern, rein rechtlich unmündig. Das islamische Familienrecht macht sie abhängig von der Vormundschaft des Vaters, Bruders oder Ehemannes. Ihre Stimme wiegt vor Gericht nur halb so viel. Und so weiter und so fort. Ich würde sagen, die Algerierinnen sind heute auf dem Stand, auf dem wir in Westeuropa in den 50er Jahren waren, vor der Frauenbewegung. Es gibt also noch einiges nachzuholen.
Zwingen Sie algerischen Frauen Ihre eigenen Werte auf?
Aufzwingen? Die Algerierinnen träumen von mehr Rechten und Freiheit! Und davon, dass wir Frauen, denen es schon besser geht, ihnen beistehen. Im 21. Jahrhundert werden Millionen Frauen auf der Welt zwangsverschleiert, eingekerkert und von Bildung, Beruf und öffentlichem Leben ferngehalten. Diesen Frauen schulden wir Solidarität!
Unter den Männern, die in der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte Frauen sexuell belästigten und nötigten, waren auffallend viele algerischer Herkunft. Erkennen Sie darin einen Zusammenhang mit dem Frauen- und Geschlechterbild algerischer Männer?
Selbstverständlich! Über 2.000 Männer haben in dieser Nacht mindestens 624 Frauen sexuelle Gewalt angetan. Und zwar nach derselben Methode, wie sie es in Kairo gemacht haben: nach der Methode Höllenkreis.
Was ist die Methode Höllenkreis?
Dabei zingeln ein Dutzend Männer eine Frau ein, isolieren und bedrängen sie. Ein präziser Täter ist da nicht auszumachen. Es sind also alle Komplizen. Aber auch diese Männer sind ja nicht als Sexualverbrecher geboren, sie werden dazu gemacht.
Was macht sie zu Verbrechern?
Die frauenverachtende Tradition in ihren Ländern und die Scharia-gläubige Hetze mancher Imame in den Moscheen und mancher Islamverbände. Das sind entwurzelte, arbeitslose junge Männer, oft Illegale und Kleinkriminelle, die sich selbst aufwerten, indem sie Frauen abwerten. Sie versuchen, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verjagen. Diese Silvesternacht in Köln war ein „Schock“ – so habe ich ja auch die Anthologie genannt, die ich herausgegeben habe und in der acht Autoren und Autorinnen meine Analyse teilen, die Hälfte von ihnen übrigens muslimischer Herkunft.
Für Ihre Aussagen zur Silvesternacht sind Sie massiv gescholten worden. Fühlen Sie sich mit dem Attribut der „Rechtsfeministin“ angemessen charakterisiert?
Da kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Wer die Realität nicht wahrhaben will, belügt sich und die anderen – und will und kann an dieser Realität nichts ändern. Kamel Daoud, der algerische Schriftsteller, hat zu „Silvester in Köln“ gesagt: Diese Männer müssen die Tausende von Kilometern, die sie mit ihren Füßen zurückgelegt haben, auch im Kopf zurücklegen. So ist es.
Was meint Daoud damit?
Es ist doch selbstverständlich, dass Männer, die aus rückständigen, patriarchalen Ländern kommen, hier lernen und respektieren müssen, was wir uns in Jahrzehnten Jahrzehnten, ja Jahrhunderten errungen haben: Aufklärung! Meinungsfreiheit! Demokratie! Gleiche Rechte für Frauen und Männer! Keine Gewalt gegen Kinder! Und diese Haltung soll heute „rechts“ sein? Wer sagt das? Es ist fragwürdig, wenn man an die Zugezogenen nicht die gleichen Maßstäbe anlegt wie an die hier Geborenen. Das ist Rassismus! Auch die zugezogenen Frauen und Kinder müssen die gleichen Rechte haben wie wir.
Der CDU-Parteivorsitz wechselte von einer Frau zur nächsten. Messen Sie dieser Kontinuität eine Bedeutung für die Geschlechterverhältnisse bei?
Ja, eine große Bedeutung. Das zeigt, dass die eine Frau – in dem Fall Angela Merkel – kein „Unfall“ der Geschichte war, sondern es heute in Deutschland eine Kontinuität gibt: Frauen an der Spitze einer Partei fangen an, selbstverständlich zu werden. Jetzt muss das nur noch auch in der Wirtschaft eine Selbstverständlichkeit werden.
Gleichzeitig arbeiten sich die Parteien verbissen am Paragrafen 219a ab. Sind Sie der Diskussion inzwischen müde?
Der Paragraf 219a, der ungewollt Schwangere entmündigt und Ärzte, die bereit sind, medizinische Hilfe zu leisten, einschüchtert und bedroht, hätte schon längst gestrichen werden müssen! Er ist ein Relikt aus dunkler Zeit. Die Nazis haben ihn 1933 eingeführt, damit mehr „arische“ Frauen „dem Führer einKind schenken“. Gleichzeitig drohte abtreibenden Frauen die Todesstrafe. Wollen wir dahin zurück?
Schneidet das deutsche Recht besonders tief in die Freiheit der Frauen?
Es ist noch nie darumgegangen, ob eine Frau abtreibt, sondern nur darum, wie sie abtreibt. Denn eine ungewollt Schwangere treibt ab, unter allen Umständen. Schließlich weiß sie am allerbesten, was ein Kind für ihr Leben bedeutet. In allen westlichen Nachbarländern von Deutschland gilt heute die Fristenlösung, ist es selbstverständlich, dass eine Frau in den ersten drei Monaten entscheidet, ob sie abtreibt oder nicht. Nur in Deutschland müssen die Frauen noch immer Bittebitte machen. Abtreibende gelten als kriminell, aber man gewährt ihnen die Gnade.
Papst Franziskus vergleicht eine Abtreibung mit einem Auftragsmord.
Macht die katholische Kirche unsere Gesetze? Sollen Frauenwieder in die Illegalität getrieben werden? Bei Kurpfuschern und Engelmacherinnen abtreiben, und ihre Fruchtbarkeit oder sogar ihr Leben riskieren? Es ist eine Schande! Der Paragraf 219a gehört gestrichen und der Paragraf 218 gleich dazu. Wir brauchen die Fristenlösung! Für ein selbstbestimmtes Leben von Frauen.
Das Gespräch führte Christoph Hägele. Es erschien am 29.12.2018 im "Fränkischen Tag".