Alice Schwarzer: "Ich bin ich!"

Alice Schwarzer debattiert im Mai 2017 mit StudentInnen an der Uni Würzburg. - Foto: Bettina Flitner
Artikel teilen

Wo bei anderen Menschen der Beruf steht, ist bei mir häufig zu lesen: „Alice Schwarzer, Feministin“. Als sei meine politische Haltung mein Beruf. Und als hätte der Feminismus nicht viele Facetten – und so manche sogar konträr zu meinen Überzeugungen. Nein, von Beruf bin ich Journalistin, von Überzeugung Humanistin, Pazifistin und Feministin – und als solche stehe ich in einer ganz bestimmten Tradition. Ansonsten stehe ich nur für mich, für das, was ich persönlich getan oder veröffentlicht habe. Ich rede nicht im Namen anderer oder Ideologien, sondern nur in meinem Namen. Ich bin Ich.

Die feministische Theorie und Praxis, die in der Moderne etwa seit 170 Jahren existiert, war nie einheitlich – so wenig wie der Sozialismus –, sondern hatte von Anfang an drei unterschiedliche Hauptströmungen: Erstens die Reformerinnen, die nicht auf Aufhebung der Geschlechterrolle (Gender) und uneingeschränkt gleichen Rechten und Chancen bestehen, jedoch die Lage der Frauen verbessern wollen. Zweitens die Differenzialistinnen, die von einer "Gleichwertigkeit" der Geschlechter im Unterschied ausgehen, angeboren oder irreversibel konditioniert. Drittens die Radikalen, deren Ziel die Aufhebung der Geschlechterrollen sowie gleiche Rechte und Chancen für beide Geschlechter sind. Zu Letzteren gehöre ich.

Denn ich glaube nicht an eine determinierende „Natur der Frau“, so wenig wie an eine Natur des Mannes bzw. des Menschen überhaupt. Ich gehe davon aus, dass der biologische Faktor nur einer von vielen ist, die den Menschen definieren, und dass die real existierenden Unterschiede, die heute zweifellos zwischen den Geschlechtern bestehen – und nicht nur zwischen ihnen –, „gemacht“ sind. Doing gender, wie das heute im Angelsächsischen heißt. Oder: „Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden es“, wie Simone de Beauvoir es vor über 70 Jahren formuliert hat.

Frauen sind keineswegs „von Natur aus friedlich“ und Männer nicht zwingend gewalttätig; Frauen sind nicht von Natur aus mütterlich und Männer nicht nicht fürsorglich; sie sind auch nicht von Natur aus emotional und Männer rational. Es gibt zahlreiche Beispiele individueller Abweichungen, die das Gegenteil belegen. Die vorgeblich „weiblichen“ und „männlichen“ Eigenschaften sind das Resultat tiefer Prägungen, langer Traditionen und täglich erneuerter Zu(recht)weisungen. Die Folge ist die Verstümmelung von Menschen zu „Frauen“ und „Männern“. Der überwältigenden Mehrheit der Menschen wird bis heute eine Geschlechterrolle zugewiesen: weiblich oder männlich. Die Möglichkeit auf Diversität und ein »queeres« Leben ist einer winzigen Szene vorbehalten und keineswegs gesichert. Mein Ideal jedoch sind nicht drei, vier, viele Geschlechter, sondern ist der ganzheitliche Mensch. Also ein Mensch, der sich – je nach Begabung, Interessen und Möglichkeiten – unabhängig von seiner Biologie sowohl „weibliche“ als auch „männliche“ Eigenschaften und Leidenschaften zugestehen kann und daran weder gehindert noch dafür bestraft wird. Doch davon sind wir in der westlichen Welt nach mindestens 4.000 Jahren Patriarchat und erst einem halben Jahrhundert neue Frauenbewegung noch ein gutes Stück entfernt, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Dennoch ist durchaus Einiges in Bewegung geraten: Männer schieben Kinderwagen und Frauen sitzen in Chefsesseln. Doch auch von diesen Rollenbrecherinnen wird weiterhin erwartet, dass sie trotz alledem „ganz Frau“ bleiben. Wenn nicht, wird das sanktioniert.

Ich zum Beispiel bin nach traditionellen Kriterien eigentlich eher „weiblich“, also fürsorglich und menschenorientiert, ich koche gerne und trage lieber Kleider. Gleichzeitig jedoch gestehe ich mir einige als „männlich“ konnotierte Eigenschaften zu: offene Konfliktfähigkeit, kein dauerdämliches Lächeln und nicht geleugnete Macht, auch wenn die sehr relativ ist. Was in meinem Fall schon genügt, mich als „Mannweib“ abzustempeln. Seit der Wiederbelebung des Feminismus in den 70er Jahren werden Abweichungen von der Geschlechterrolle bei Frauen schärfer sanktioniert als bei Männern. Darum tragen so viele besonders tüchtige Frauen zum Anzug besonders hohe High Heels. Sie wollen den Männern damit signalisieren: Keine Sorge, ich bin trotz alledem auch nur eine Frau. Was immer das heißen mag – eine Frau sein.

Ich stehe in der Tradition von Frauenrechtlerinnen wie Olympe de Gouges (1748–1793), die für ihre „Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin“ von den Revolutionären von 1789 unter die Guillotine geschleift wurde; Hedwig Dohm (1831–1919), die die Scharfsinnigste in der historischen Frauenbewegung war („Die Menschenrechte haben kein Geschlecht“) und heftig bekämpft wurde; Virginia Woolf (1882–1941), die geniale Schriftstellerin und Feministin, oder Simone de Beauvoir (1908–1986), die große Vordenkerin vom „Anderen Geschlecht“. Und auch von Weggefährtinnen wie in Amerika Kate Millett („Sexus und Herrschaft“) oder Shulamith Firestone („Die sexuelle Revolution“), beide leider schon tot. Mit Susan Faludi („Backlash“), der Interessantesten aus der Töchtergeneration, stehe ich seit Jahrzehnten in freundschaftlichem Austausch. Wir arbeiten als Autorinnen wohl nicht zufällig oft an den gleichen Themen: Gendergap, „neue“ Weiblichkeit, irritierte Männlichkeit oder Transsexualität.

Alle diese Frauen woll(t)en, ganz wie ich, nicht nur die Frauen befreien, sondern die Menschen. Wir radikalen Feministinnen sind gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung, gegen Gewalt und Machtmissbrauch. Innerhalb dieses Spektrums gehöre ich allerdings zu der gemäßigten Fraktion. Das heißt, ich bin immer auch offen für Kompromisse und Reformen, soweit sie den Menschen hier und heute nutzen – und sie kein Hindernis sind auf dem Weg zum Ziel oder gar ein Rückschlag. Aus diesem Grund habe ich früh auch den Schulterschluss mit „gemäßigten“ Frauenrechtlerinnen und frauen-bewussten Politikerinnen gesucht.

Gerade leben wir in einer Zeit, in der solche Koalitionen für Frauen wieder überlebenswichtig werden. Den letzten Teil dieser Standortbestimmung schreibe ich in den Monaten der Corona-Krise. Es ist eine eigenartige Atmosphäre, zwischen Nachdenklichkeit und Panik. Viele Menschen werden Schrammen davontragen. Und eines ist schon jetzt klar: Die Frauen werden besonders betroffen sein. Jobs brechen weg und das Homeoffice ist nicht nur Erleichterung, sondern auch Gefahr. Die gute alte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern feiert Urstände. Erste Studien zeigen, dass auch bei gleichberechtigt berufstätigen Eltern die Kinderversorgung und Hausarbeit wieder vor allem an den Frauen hängen bleibt. Vor einer „Retraditionalisierung der Geschlechterrollen“ wird gewarnt.

In den vergangenen Jahren haben mir manche Medien das Etikett "Alt-Feministin" verpasst. Als sei ich als Vertreterin einer politischen Theorie schon überholt, nur weil diese Theorie 50 Jahre alt ist oder 170 Jahre, rechnen wir die historische Frauenbewegung dazu, schließlich reden wir von einer Theorie und Praxis, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die tiefgreifendste soziale Revolution unserer Epoche ausgelöst und auch mein Leben radikal verändert hat.

Im ersten Teil meiner Lebenserinnerungen, in dem 2011 erschienenen „Lebenslauf“, bin ich der Frage nachgegangen: Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Wie bin ich zu der geworden, die ich bin? Es geht darin um die Jahre 1942 bis 1977. In diesem zweiten Teil setze ich nun den Akzent auf die publizistischen und politischen Aktivitäten meines Lebens. Ich beginne Mitte der 1970er Jahre und gehe bis ins Heute. 1975, das war der Turning Point meines Lebens. Seither bin ich eine öffentliche Person.

Der Text ist ein Auszug aus "Lebenswerk", dem zweiten Teil der Autobiografie von Alice Schwarzer (KiWi).

Artikel teilen
 
Zur Startseite