Alice Schwarzer schreibt

Schwarzer meets Ayaan Hirsi Ali

Foto: Bettina Flitner
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Es ist das zweite Mal, dass ich die Ehre und die Freude habe, eine Laudatio auf dich zu halten, liebe Ayaan. Das erste Mal war im Jahr 2006, also vor 16 Jahren, beim Menschenrechts-Preis in Kassel. Ein Jahr zuvor hatte EMMA mit dir getitelt. Denn wir fanden deinen Mut großartig. Schon damals hattest du den Ruf, „rechts“ bzw. eine „Rassistin“ zu sein. Das kam von links und ist seither nicht verstummt. Der Umstand, dass du nach Amerika gegangen bist – auf der Flucht vor Häme, Hass und Todesdrohungen in Europa – hat es nicht besser gemacht. Seither lebst du dort, heute mit deinem Mann und zwei Kindern.

Was war und ist der Grund für den Hass auf dich? Du, die geborene Somalierin und Muslimin, hattest es gewagt, nicht nur den Islamismus – den politischen Islam, der den Glauben in Geiselhaft nimmt – zu kritisieren, sondern auch den Islam selbst. Gerade habe ich in einer Schweizer Zeitschrift gelesen, dass du eine zweite heilige Kuh der Linken angehst: den Gender-Feminismus und seine neuesten Auswüchse, die Trans-Ideologie. Doch begeben wir uns zunächst einmal auf die Spuren deines Lebens.

Wenn man von weit her kommt, macht man manchmal größere Schritte. Das hat Simone de Beauvoir im Jahr 1969 gesagt – in dem Jahr, in dem Ayaan Hirsi Magnan in Somalia zur Welt kam.

Da ist Ayaans Heimat geschüttelt von Bürgerkrieg und Korruption. Ihr Vater sitzt als Oppositionspolitiker im Gefängnis und flüchtet später ins Exil. Ihre Mutter ist eine orthodoxe Muslimin. Und die mit ihnen lebende Großmutter kommt, wie Ayaan sagt, „noch aus der Eisenzeit“. Wird sie gefragt, wie viele Kinder sie geboren habe, antwortet sie: „Eins.“ – Sie hatte einen Sohn und neun Töchter.

Unter diesen Voraussetzungen hätte aus Ayaan auch etwas ganz anderes werden können als die Frau, die wir heute für ihren Verstand, ihren Mut und ihre Ungebrochenheit ehren.

Ayaan hätte unter den brutalen Schlägen ihrer Mutter und ihres Koranlehrers tot liegen bleiben können, wie so manche ihrer Freundinnen. Ayaan hätte über all die Demütigungen, der Genitalverstümmelung und der Zwangsverheiratung den Verstand verlieren können - wie ihre Schwester.

Doch Ayaan wählte die dritte Option: Sie leistete Widerstand.

Verführt worden war Ayaan zum Denken und Träumen von westlicher Literatur in der Schule. Die hatten beide Töchter ihrer analphabetischen Mutter abgetrotzt. Dort werden Enid Blyton und Scarlett O’Hara ihre Heldinnen.

In ihrer Autobiografie erzählt Ayaan, wie sie 1992 auf dem Weg zu dem ungewollten Ehemann - einen Somalier in Kanada, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte - auf der Zwischenstation in Frankfurt flüchtete. In Holland erhält sie Asyl und lernt rasch, dass auch Frauen Menschen sind.

Sie legt das Kopftuch ab und nennt sich jetzt Hirsi Ali, damit die rächende Familie sie nicht aufspürt. Und sie lernt und lernt und lernt. Sie erkennt, dass es ein Leben gibt jenseits der Angst, jenseits der Sexualfeindlichkeit, jenseits der Unterwerfung. Europa kommt der jungen Afrikanerin vor wie ein Paradies. Ein Paradies für Frauen.

Von ihren eigenen Leuten will Ayaan nicht länger die ewige Entschuldigung hören: Wir sind Opfer, Opfer des westlichen Rassismus. Sie fordert Selbstkritik.

Wie nötig die ist, lernt sie nicht nur als Studentin der Politischen Wissenschaften. Sie lernt es auch als Übersetzerin für Somali in Frauenhäusern, wo sie erlebt, wie die Verhältnisse aus ihrer Heimat nach Europa importiert werden: mit gewalttätigen Männern und unmündigen Frauen.

Doch Ayaan Hirsi Ali schweigt nicht mehr. Sie benennt das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Kinder, die Entmündigung durch den Glauben, die Abhängigkeit vom Familienclan. Und: Sie legt sich mit den Kulturrelativisten an. Mit diesen pseudo-fortschrittlichen Westlern, die ihr zweierlei Maß im Namen anderer Kulturen und Religionen als ‚Toleranz’ verbrämen.

Prompt wird Ayaan, die afrikanische Migrantin, von diesen Europäern als „Rassistin“ diffamiert. Die „Anderen“ sollen die Anderen bleiben. Damit wir weiterhin die Einen bleiben können; die, die das Gesetz machen.

Ich weiß, wovon Ayaan Hirsi Ali redet. Als ich 1979 nach meiner Reise in Khomeinis Gottesstaat in Deutschland vor dem warnte, was sich da zusammenbraute, wurde auch ich prompt als „Rassistin“ geschmäht. EMMA war jahrzehntelang eine einsame Stimme im deutschsprachigen Raum, die über die Kreuzzüge der Islamisten informierte: von Pakistan und Afghanistan über Tschetschenien, nach Algerien und Libyen – bis mitten ins Herz von Europa.

Es hat lange gedauert, bis Europa aufgewacht ist. Und Deutschland, das jahrzehntelang als die „Europäische Drehscheibe“ des islamischen Terrorismus galt, wacht erst jetzt zögernd auf. Noch immer ist man nur beim islamischen Terror alarmiert, aber ignoriert den noch viel gefährlicheren legalistischen Islamismus. Zu tief sitzt das deutsche schlechte Gewissen wegen der Nazizeit. Doch, Ironie der Geschichte: Genau mit dieser falschen „Toleranz“ tragen wir ein zweites Mal zu einer neuen Spielart des Faschismus bei. Diesmal weltweit.

Im Jahr 1993 veröffentlichte EMMA das erste Dossier über die Folgen der Agitation islamistischer Fanatiker: „Mitten unter uns“. Schon damals hätte man es also wissen können - wenn man nur gewollt hätte. Dabei spielte die Linke eine fatale Rolle. Den Freunden der Stellvertreter-Politik war „das Proletariat“ verloren gegangen, sie suchten nach neuen Opfern, in deren Namen sie agieren konnten. Sie entdeckten die Muslime.

Doch Ayaan Hirsi Ali wollte nicht ihr Opfer sein. Sie machte sich selber ans Denken und Handeln. Sie ging in die Politik. Und sie wusste und weiß, wovon sie redet. Schließlich sind die Muslime – und allen voran die Musliminnen – die ersten Opfer der Orthodoxen und Fundamentalisten. Für diese Männerbünde steht die Unterwerfung der Frauen im Zentrum, ja ist ihr konstituierendes Moment. Ihre Flagge ist das Kopftuch. So wie seit 43 Jahren in Iran.

Die Kluft zwischen Frauen und Männern ist, im Islamismus wie im Faschismus, die erste und fundamentalste Einübung in ein Wir und ein Ihr: Ihr, ihr seid die Anderen, die Minderen. Wir, wir sind die Einen, die, die im Namen ihrer gerechten Sache das Gesetz machen.

Die Emanzipation der Muslime – und allen voran der Musliminnen! – ist darum der Schlüssel zur Modernisierung des Islam. Ein erster Schritt wäre die Aufhebung der Geschlechtertrennung, die schon bei den Kleinkindern beginnt. Und das Ende dieser falschen Toleranz mit dem Kopftuch, dieser schweren Behinderung und Stigmatisierung weiblicher Menschen. Nicht erst angesichts dessen, was heute in Iran passiert, müssten spätestens jetzt alle Kopftuchträgerinnen im Westen, Musliminnen wie Konvertitinnen, das Kopftuch ablegen! Aus Solidarität.

Ayaan Hirsi Ali forscht und lehrt heute in Amerika. Da bleibt auch die Auseinandersetzung mit dem Gender-Feminismus und der Trans-Ideologie nicht aus. Beides kommt ja von dort. Sie ist eine universalistische Feministin. Für sie sind alle Menschen gleich. Doch sie leugnet nicht die Realität. Sie protestiert dagegen, dass die Transideologen – die sehr oft selber gar nicht transsexuell sind, sondern eine Stellvertreterpolitik betreiben – die biologischen Geschlechter und die soziale Realität von Frauen leugnen.

Vorhin, Ayaan, als wir uns nach 16 Jahren jubelnd in die Arme fielen, hast du ungefragt zu mir gesagt: „Meine Probleme mit den Trans-Ideologen sind heute noch größer als die mit den Islamisten.“ Das ist wirklich bedrückend!

ALICE SCHWARZER

 

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