"WELT"-Interview zum Krieg
Mit Alice Schwarzer ist gut Kirschen essen. Nicht dass die Publizistin nicht angreifen, nicht dass die Gründerin und Herausgeberin der EMMA nicht austeilen könnte. Die Republik kennt sie seit Jahrzehnten als wackere, entschlossene, auch furchtlose Kämpferin, die mitunter hart attackieren kann. Doch im Streitgespräch, zu dem sich der Autor mit der 80-Jährigen in ihrem Kölner Wehrturm aus dem 12. Jahrhundert verabredete – dort sitzt ihre Redaktion –, ist sie fern von jeglichem verbissenen Eifer. Der Autor hatte mit einem Schwall rhetorischer Imperative gerechnet – mit Worten, die wie Steine auf ihn herabfallen. Anstelle dessen ein listiges Lächeln, ein Parieren und Scherzen, ein Debattieren und Wiegen von Gründen und Gegengründen – hart in der Meinung, ohne selbstgefällig zu sein, geradezu charmant im Ton und jederzeit bereit zu einem vergnügten Lachen. Erwartungsgemäß konnte keiner den anderen überzeugen. Darum ging es auch nicht. Das Gespräch ist der Versuch, im Zeitalter der Unerbittlichkeit daran zu erinnern: Der Konflikt ist ein immanenter Bestandteil der offenen Gesellschaft. Konflikt ist Freiheit.
WELT AM SONNTAG: Frau Schwarzer, ich finde es wunderbar, dass wir zusammengekommen sind, um uns zu streiten. Die Leser müssen wissen: Ich schrieb Ihnen, dass ich Ihre Haltung zum Ukraine-Krieg nicht teile, aber mir die allgemeine geistige Mobilmachung auch nicht passt. Sie sagten spontan einem Treffen zu. Lassen Sie mich also ganz grundsätzlich beginnen: Gibt es für Sie „gerechte Kriege“?
ALICE SCHWARZER: Jeder Kriegsführende hält seinen Krieg für gerecht. Doch ich vermute, Sie haben den Zweiten Weltkrieg im Hinterkopf. Haben Sie Steven Spielbergs Film „Der Soldat James Ryan“ gesehen? In ihm wurde bitter klar, dass der Krieg als solcher immer eine Tragödie und absurd ist – für ein Volk, eine Gruppe, für das Individuum. Ich bin jedoch nicht jemand, der grundsätzlich für jede Gewaltfreiheit ist. Natürlich gibt es so etwas wie berechtigte Notwehr, aber ein gerechter Krieg?
War der Krieg gegen Hitler eine berechtigte Notwehr oder eben doch ein gerechter Krieg?
Krieg an sich verführt zur Ungerechtigkeit, zum Missbrauch von Macht. Natürlich ist Ihr Verweis auf den Zweiten Weltkrieg nahezu unschlagbar. Es ist richtig gewesen, dass die Welt gehandelt und Nazideutschland entmachtet hat. Trotzdem mag ich nicht von einem gerechten Krieg sprechen. Ich bin zum Beispiel entsetzt über die ukrainischen Opfer, aber kann auch nicht jubeln, wenn russische Panzer vernichtet werden – da drin sitzen Menschen.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat einmal gesagt: Für die Deutschen sei die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gewesen: „Nie wieder Krieg“. Für die Opfer der Deutschen sei – so Oz – die Lehre gewesen: „Nie wieder Aggression“. Wenn die letztgenannte Lehre für Sie legitim ist, dann müssten Sie doch akzeptieren, dass man militärisch gegen die Aggression der Russen in der Ukraine vorgehen sollte.
Für uns alle lautete die Konsequenz aus den beiden Weltkriegen: Nie wieder Aggression. Allerdings wissen wir beide, dass die Stärkeren die Tendenz haben, sich daran nicht zu halten. Deswegen ist es wichtig, dass die Schwachen vor den Starken geschützt werden. Aber so einfach ist es im Fall des gegenwärtigen Konfliktes nicht. Ohne Zweifel hat Wladimir Putin diesen verbrecherischen Angriffskrieg begonnen. Aber dieser Kriegsausbruch hat auch eine Vorgeschichte. Und wir können den Schwachen vor dem Starken und dessen Aggression nur schützen, wenn man die Interessen beider Seiten berücksichtigt und letztendlich beide Gegner zu Kompromissen bewegt. Aggression nur mit Aggression, also mit militärischen Maßnahmen zu begegnen, wird auch diesen Krieg nur noch verheerender für beide Seiten sowie für Deutschland und die Welt noch gefährlicher machen. Am Anfang des Krieges hatte ich noch Verständnis für die Waffenlieferungen an Kiew. Aber wenn der ukrainische Präsident Selenskyj nach einem Jahr Krieg sagt, sein Kriegsziel sei der „Sieg über den Terrorstaat“, dann kann ich nur erwidern: Gerade wir Deutschen sollten da nicht mitmachen. Wir sind schon im Zweiten Weltkrieg für 27 Millionen tote Sowjetbürger verantwortlich gewesen, darunter Russen wie Ukrainer, inklusive sieben Millionen Zivilisten. Experten schätzen, dass in diesem Krieg auf beiden Seiten nach nur einem Jahr mindestens eine Viertelmillion Menschen getötet worden sind, Städte sind zerstört, Frauen vergewaltigt, Kinder traumatisiert worden. Wohin soll das führen? Wir haben bisher ja noch nicht einmal die
Ziele des Krieges definiert.
Und was sollten die Kriegsziele sein?
Der Rückzug der Russen auf das Terrain am Tag des kriegerischen Überfalls: Ja! Die Schwächung oder gar das Ziel eines Sieges über Russland: Nein! Russland ist die Macht mit dem größten Arsenal an Atomwaffen auf der Welt. Nicht einmal mithilfe des Westens könnte die Ukraine Russland besiegen, abgesehen davon, dass der Westen sich grundsätzlich von dieser Art Vernichtungssiegen verabschieden sollte.
Uns mag Selenskyjs Wortwahl missfallen, aber wir sollten nicht außer Acht lassen, dass hier ein in seiner Existenz bedrohter Präsident eine andere Rhetorik anstimmen muss, als uns in der gesicherten Bundesrepublik gefällt.
Muss er das? Eine solche aufhetzende Sprache geht grundsätzlich nicht! Sollte die Ukraine jetzt auch noch die Krim angreifen – Putins tiefrote Linie –, möchte ich nicht wissen, wie die russische Antwort lauten wird. Dann wird unvermeidlich auch Deutschland und der ganze Westen definitiv mittendrin sein im Weltkrieg. Ich gehöre zu denen, die im Februar 2022 nicht geglaubt haben, dass Putin in die Ukraine einmarschieren wird. Ich habe aus meinem Irrtum gelernt und nehme also den Aufmarsch der Atomwaffen in Belarus sehr, sehr ernst. Am Ende stehen Tod und Vernichtung. Auf allen Seiten.
Ihre Aussagen erinnern mich an Franz Werfels Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“.
Nein. Aber der Ermordete ist das erste Opfer. Noch zahlt doch vor allem die Ukraine den Preis für diesen andauernden Krieg. Dabei wissen wir doch alle, dass eines Tages verhandelt werden muss! Und wir wissen schon jetzt, wie die Ergebnisse dieser Verhandlungen im Kern aussehen werden. Es wird für beide zu schmerzhaften Kompromissen kommen müssen. Aber warum dann später und nicht jetzt? Die Medien führen neuerdings fast beiläufig das Wort Abnutzungskrieg im Mund. Der sogenannte Abnutzungskrieg erinnert mich in Bachmut an die Schlacht von Verdun. Auch da haben die Militärs gesagt: Es ist hoffnungslos, diese Schlacht ist von keiner Seite zu gewinnen. Doch die Politik befahl: Weitermachen! Rund eine Million junge Männer krepierten elendig in Verdun. Für nichts. Warum müssen also noch weitere Hunderttausende von Menschen sterben, wenn am Ende doch Verhandlungen stehen?
Wie sollte dieser Kompromiss aussehen?
Russland muss sich auf die Grenzen vom Tag vor dem Kriegsausbruch zurückziehen, der russisch orientierte Donbass sollte den schon in den Minsker Abkommen festgelegten Sonderstatus erhalten. Die Krim sollte zehn, 15 Jahre als Sonderverwaltungsgebiet aufseiten der Russen verbleiben. Dann sollte eine von der Uno durchgeführte und kontrollierte Volksabstimmung über die Frage erfolgen, zu welchem Land die Bewohner der Halbinsel gehören wollen. Die Ukraine sollte ihre Neutralität erklären, sie dürfte also nicht Mitglied der Nato werden. Und dafür müsste sie Sicherheitsgarantien des Westens erhalten.
Das könnte in der Tat so kommen. Was mich an dieser Haltung aber stört, ist, dass Sie über die Köpfe der Ukrainer hinweg entscheiden. Das ist eine üble deutsche Tradition seit den polnischen Teilungen, nach dem Motto: Zwischen Berlin und Moskau interessieren uns die Belange der Völker dazwischen nicht. Auch Sie müssen die Bedürfnisse der Ukrainer nach Freiheit, nationalem Bestand und Unabhängigkeit zur Kenntnis nehmen.
Selbstverständlich tue ich das. Und das hört sich auch edel an. Es ist aber nicht die Realität und nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist, dass auf den Schlachtfeldern der Ukraine die beiden Weltmächte zusammenprallen. Sind die Ukrainer, die im Schützengraben liegen, eigentlich gefragt worden, ob der Krieg nicht lieber beendet werden sollte? In Kiew herrscht Kriegsrecht. Von freien Meinungsäußerungen und freien Medien kann nicht die Rede sein. Alles, was auf ukrainischer Seite veröffentlicht wird, unterliegt der Zensur. Woher wollen Sie also wissen, dass alle als Helden in diesem Krieg krepieren wollen?
Ich weiß es genauso wenig wie Sie, aber mich beeindruckt der breite Wille zur Verteidigung des Landes. Wäre er nicht vorhanden, wäre der Krieg längst verloren.
Haben Sie schon einmal eine Waffe in der Hand gehabt?
Nein, aber ich weiß: Wenn ich sie in der Hand gehabt hätte und hätte kämpfen müssen, hätte meine Seite garantiert verloren. Bei den Ukrainern ist das offenbar anders. Und das ist ein Indiz dafür, dass die Mehrheit hinter diesem Krieg steht.
Die meisten der zwangsrekrutierten ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren sind doch noch nicht ganz in den Schützengraben gesprungen, da sind sie schon tot. Sind diese armen Teufel jemals gefragt worden, ob sie sterben wollen? Vom ukrainischen Präsidenten hört man nur Durchhalteparolen. Das Volk hat keine Stimme.
Nehmen wir an, es kommt zu einer Einigung zwischen der Ukraine und Russland wie der von Ihnen skizzierten. In diesem Fall würde Kiew verlangen, dass die USA und die EU Garantiemächte dieser Vereinbarungen werden, da Russland bisher jeden Vertrag mit der Ukraine gebrochen hat. Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Sollte Russland diesen Vertrag brechen und wieder einfallen, wären wir automatisch Kriegspartei.
So ist es. Aber der Westen ist schon jetzt Teil dieses Krieges. Ohne westliche Waffen stünde in der Ukraine kein Stein mehr auf dem anderen. Mit mehr Waffen wird es genauso gehen, nur ein bisschen später. Denn Waffen retten kein Leben, wie es die deutsche Außenministerin neulich so nett gesagt hat, sie töten es. Das Leben des Feindes wie das eigene.
Noch sind wir keine Kriegspartei. Aber sollte dieser Waffenstillstand gebrochen werden, müssten wir mit der Bundeswehr in diesen Konflikt eingreifen. Ist Ihnen das klar?
Ja. Aber warum sollte Putin eine solche Vereinbarung brechen? Beide Seiten wissen inzwischen, wie sehr dieser Krieg ihr Leben kostet und wie er mit dem Feuer in der ganzen Welt spielt. Ich gehe übrigens davon aus, dass Putins Hauptmotiv für den Überfall die Sicherheit Russlands ist und die Befürchtung, dass sein Land gefährdet sei, wenn die Nato noch weiter gen Osten rückt.
Sie scheinen die einzige Person neben Putin selbst zu sein, die in seinen Kopf schauen kann. Noch einmal die Frage: Sollte Europa Garantiemacht einer solchen Vereinbarung werden und diese von russischer Seite gebrochen werden, würden Sie in diesem Fall bereit sein, dass die deutsche Garantiemacht die Bundeswehr in die Ukraine schickt?
Das wäre dann wohl unvermeidlich.
Wow! Die Gesinnungsethikerin Alice Schwarzer wird plötzlich zur leibhaftigen Realpolitikerin.
(Lacht) Ich war noch nie eine Ideologin und immer eine Realistin. Und ich war schon immer gegen Gewalt und sinnloses Blutvergießen!
Deutschland wäre in diesem Fall selbst direktes Opfer dieses Blutvergießens und damit viel tiefer verstrickt als heute. Aber ich möchte auf ein Grundirrtum von Ihnen zu sprechen kommen: Sie gehen davon aus, dass Putin zu Konzessionen bereit ist. Das ist nicht der Fall. Hören Sie sich seine Reden an.
Woher wissen Sie das? Wissen Sie, was mich wirklich aufregt? Dass viele auch in den Medien nicht bereit sind, wenigstens für einen Augenblick wirklich zuzuhören. China hat kürzlich einen Friedensplan vorgelegt, den kann man ablehnen oder begrüßen. Was aber machen die deutschen Medien daraus? Einen „sogenannten Friedensplan“. Und wenn Putin sagt, er begrüße diesen Plan und sei zu Gesprächen bereit, heißt es in den Medien hierzulande prompt: Putin lügt. Ja, so kommen wir nicht weiter.
Ich war von Anfang an der Meinung, dass man den Gesprächsfaden mit Putin niemals abreißen lassen darf. Ich bin auch für das beständige Ausloten von Friedenschancen. Nur: Auch beim besten Willen finde ich keinen Beleg dafür, dass Putin etwas anderes als die Unterwerfung der Ukraine wünscht.
Das hatte Putin mit seinem Marsch auf Kiew zweifellos beabsichtigt. Aber so ein Krieg ist kein Wunschkonzert. Die Ukraine hat sich zum Glück erfolgreich gewehrt. Aber es gibt von Putin auch Reden der Friedensbereitschaft und den Wunsch eines gemeinsamen Europas mit Russland. Denken Sie an seine Rede im Bundestag 2001.
Das ist sehr lange her. Da war er noch ein anderer.
Oder denken Sie an den Gastbeitrag, der noch im Juni 2021 in der „Zeit“ veröffentlicht worden ist. Unverlangt eingesandt. Der Präsident einer Weltmacht. Und was tut die „Zeit“? Sie setzt den Text auf eine Innenseite des Blattes und kommentiert ihn gleichzeitig kritisch. Statt so einen Text zum Anlass für eine offene Debatte zu machen. In diesem Beitrag versucht Putin noch einmal, mit uns in den Dialog zu treten. Doch es hieß, er versuche nur zu täuschen. Noch im März und April 2022 waren die Ukraine und Russland dann kurz vor einer Verständigung. Im letzten Moment ist das vom Westen torpediert worden, wie wir heute wissen. Der britische Premierminister Boris Johnson ist in die Ukraine gereist und ordnete an: Der Krieg muss weitergehen. Das sind die wahren Machtverhältnisse.
Das hört man derzeit häufiger. Allerdings ist das nur der eine Teil der Wahrheit. In der Tat waren die beiden Gegner sich in verschiedenen Punkten nähergekommen. Doch diese Gespräche beendete nicht Johnson, sondern die Entdeckung des Massakers in Butscha. Nach den vielen von russischen Soldaten Ermordeten unterbrach Kiew diese Verhandlungen – und das aus verständlichen Gründen.
Wir hätten genau darum besser die Ukraine darin unterstützen sollen, diese Gespräche fortzusetzen. Damit nicht noch mehr Massaker à la Butscha stattfinden.
Nehmen Sie den SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich. Der war sein Leben lang ein Entspannungspolitiker und immer bereit, den Ausgleich mit Russland zu suchen. Wenn selbst er jetzt sagt, dass Putin nur gelogen und betrogen hat und man mit dem Russland Putins keine verlässlichen Vereinbarungen treffen kann, dann müsste Ihnen das doch zu denken geben.
Ist wirklich nur der Westen betrogen worden? Wie war es mit dem Minsker Abkommen? Bis vor Kurzem fand ich, dass eines der größten Verdienste von Frau Merkel war, das Minsker Abkommen zusammen mit den Franzosen hinbekommen zu haben. Ich glaubte, sie habe diese Vereinbarung geschafft, damit die Waffen schweigen. Plötzlich aber behauptet Angela Merkel, Minsk sei von Anfang an nur geschlossen worden, um der Ukraine Zeit zu verschaffen hochzurüsten. Und wohl nicht nur Großbritannien trainierte in der Tat seit 2014 ukrainische Soldaten. Also: April, April. Es ging uns gar nicht um einen Ausgleich zwischen Kiew und Moskau. Es ging dem Westen anscheinend nur darum, der Ukraine Luft für die Aufrüstung und Ausbildung ihrer Armee zu verschaffen. Das nenne ich auch einen Betrug, einen Betrug gegenüber Russland. Doch ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Kriege Zeiten der Lügen sind. Auf beiden Seiten. Denken Sie an die angeblichen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, die 2003 als Rechtfertigung für den völkerrechtswidrigen Überfall Amerikas und seiner Alliierten auf den Irak herhalten mussten. Es war eine von Anfang an durchschaubare Lüge und gilt heute als das „größte außenpolitische Desaster Amerikas“. Das Resultat: eine halbe Million Tote, verbrannte Erde, Chaos, die Erstarkung der Islamisten und die Erschütterung der gesamten arabischen Welt.
Ukrainer und Russen haben das Minsker Abkommen ignoriert …
Das weiß ich. Aber wir neigen dazu, nur einer Seite die Schuld zuzuschieben. Wir sollten uns stattdessen selbstkritisch fragen: Wie kann es sein, dass 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Krieg dieses Ausmaßes mitten in Europa ausbricht? Klar, es handelt sich um einen russischen Angriffskrieg, aber die totale Dämonisierung Putins bringt uns doch keinen Zentimeter weiter. Übrigens: Eine Post-Putin-Macht im Kreml könnte durchaus noch viel heikler werden.
Ich würde gern wissen, wie sich die Ukraine nach Ihren Vorstellungen an den Verhandlungstisch zwingen ließe.
Die Wahrheit ist: Das wird nicht in Kiew, sondern in Washington entschieden. Doch mir scheint, dass in Amerika gegenwärtig zunehmend Stimmen laut werden, die sich fragen: Wo soll das hinführen? Ja, wir unterstützen die Ukraine bei der Befreiung ihres Landes, aber nicht bei dem Ziel eines „Sieges über den Terrorstaat“ Russland, wie Selenskyj ihn fordert. Dieser Versuch würde schließlich die ganze Welt in Brand setzen.
Inwieweit können Sie das Argument der Balten und Polen nachvollziehen, die sagen: Wenn Russland sich in der Ukraine durchsetzt, zieht Putin weiter?
Ich verstehe das Trauma der Balten und Polen sehr gut. Das sind Länder, die lagen unter dem Stiefel von Hitler und Stalin. Aber das ist Vergangenheit.
So, so. Und was ist mit Ihnen? Sie selbst sprechen oft von den Erzählungen Ihres Großvaters vom Ersten Weltkrieg. Sie haben zumindest unbewusst das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt und die Berichte ihrer Familie gehört. Könnte man nicht umgekehrt daraus ableiten, dass sie selbst zu Panik neigen? Zu Beginn des ersten Irakkriegs schrieben Sie in der EMMA: „Seit dem 17. Januar 1991 befinden wir uns im Dritten Weltkrieg.“ Was ist das anderes als Panik?
Das habe ich damals geschrieben? Ich bin die Erste, die sich freut, sich geirrt zu haben. Aber was heißt Panik? Angst zu haben ist ein Ausdruck von Vernunft. Und ernst zu nehmende Experten sowie unser gesunder Menschenverstand sagen uns: Wir waren noch nie so nah an einem dritten Weltkrieg wie heute. Eine falsche Bewegung genügt.
Sehen Sie wirklich die Gefahr eines drohenden Atomkrieges?
Absolut. Und nicht nur ich sehe das. Viele sehr ernst zu nehmende Menschen warnen, die Gefahr sei heute noch größer als während der Kubakrise. Der einzige Unterschied zwischen der Kubakrise und der aktuellen Lage ist: Damals war es der ganzen Welt klar, dass die Situation hochgefährlich ist. Heute scheint das niemand wissen zu wollen. Wenn der UN-Generalsekretär Guterres in Anspielung auf einen berühmten Buchtitel über den Ersten Weltkrieg davor warnt, dass wir diesmal nicht in einen Krieg hineinschlafwandeln, sondern offenen Auges auf einen dritten Weltkrieg zusteuern, dann nehme ich das sehr ernst. Nur: Es will keiner hören. Deswegen haben wir das „Manifest für Frieden“ initiiert. Wir müssen reden! Nur darum geht es mir. Zumal in einer Lage, in der die Mehrheit der Bevölkerung sich kritische Fragen stellt, aber 95 Prozent der Medien sich in ihrem waffenrasselnden Kriegskurs sicher sind. Daher bin ich mit dem, was wir in den letzten Wochen erreicht haben, schon zufrieden. Endlich wird geredet, endlich können sich zweifelnde Stimmen auch artikulieren und werden nicht gleich als Putin-Freunde diffamiert. Endlich berichten die Medien auch über die Kritik am Krieg. So wie Sie jetzt.
Bleiben wir noch kurz bei einer möglichen ukrainisch-russischen Vereinbarung. Sie sagten, die Ukraine dürfe nicht Nato-Mitglied werden. Sollte Kiew in diesem Fall als Kompensation der EU beitreten?
Das wäre sehr heikel, auch für die EU. Wir dürfen die Ukraine von vor dem Krieg mit ihren Oligarchen und der schweren Korruption nicht vergessen. Es gäbe auch außerhalb der EU privilegierte wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen, die wir anbieten könnten.
Na, viel gestehen Sie der Ukraine bei einer möglichen Friedensregel nicht gerade zu. Beeindruckt Sie nicht der Freiheitsdrang dieses Volkes in diesem Krieg?
Selbstverständlich! Dennoch stellt sich die Frage nach den realen Machtverhältnissen und der Verhältnismäßigkeit. Es ist unverantwortlich, der Ukraine Illusionen zu machen, die sie als Erste mit ihrem Leben bezahlt. Die Ukraine kann mit Unterstützung einzelne Schlachten gewinnen, aber nicht die Weltmacht Russland besiegen.
Wie stehen Sie eigentlich zur Anklage des Internationalen Strafgerichtshof gegen Putin?
Es wäre schön, wenn auf diesem Weg Gerechtigkeit geschaffen werden könnte. Aber ich halte das jetzt für Show und kontraproduktiv. Mal ganz davon abgesehen, dass dann zunächst die amerikanischen Präsidenten Bush jr. und Obama vor diesen Gerichtshof geholt werden müssten, für ihre völkerrechtswidrigen Kriege in Irak und Libyen. Und übrigens: Weder Russland noch Amerika oder Frankreich erkennen diesen Strafgerichtshof an. Wenn es mit Russland zu einer Verständigung kommen soll – und das muss es! –, dann bleibt nichts anderes übrig, als mit dessen Präsident zu verhandeln. Auch die Umfragen machen deutlich: Die Mehrheit der Deutschen ist gegen noch mehr Waffen und für Verhandlungen. Wie kann man aber von jemandem Kompromissbereitschaft erwarten, den man ins Gefängnis stecken will? Unser Ziel muss jetzt sein, dass Putin seine Truppen aus der Ukraine abzieht. Das sehe ich ähnlich. Mithilfe des Völkerrechts verbaut man sich womöglich entscheidende Chancen. Deshalb finde ich es richtig, dass Olaf Scholz immer wieder im Gespräch mit Putin die Möglichkeiten auslotet.
Sie hingegen kritisieren den Bundeskanzler beständig. Wie hätte sich die Regierung seit Kriegsbeginn verhalten sollen, damit sie in Ihren Augen Gnade gefunden hätte?
Ich kritisiere den Bundeskanzler? Im Gegenteil! Ich liefere ihm Argumente. Sowohl mit dem inzwischen von über einer halben Million unterzeichneten offenen Brief von April 2022 sowie mit dem jetzigen „Manifest für Frieden“, das demnächst von einer Million Bürgern und Bürgerinnen unterzeichnet sein wird, sowie mit der Kundgebung am Brandenburger Tor. Argumente für sein berechtigtes Zögern bei Waffenlieferungen und sein Bestehen auf weiteren Telefonaten mit Putin! Wir verhandeln ja sogar mit den Taliban! Schwer zu verstehen, warum der Kanzler die dank dieser Aktionen öffentlich gewordene Stimmung in der Bevölkerung nicht nutzt.
Wie geht es in diesem Krieg nun weiter?
Ich halte alles für möglich. Auf der einen Seite spüre ich, dass Amerika nervös wird. Wichtige Leute, die dort das Sagen haben, könnten die Ukraine drängen, den Ball flach zu halten. Auf der anderen Seite gibt es das amerikanische Ziel, Russland entscheidend zu schwächen. Ich hoffe, dass ich mit unseren Aufrufen und der Kundgebung die Pro-Frieden-Fraktion in Deutschland stärke und die Waffennarren nachdenklich mache. Es muss möglich sein, den Regierungskurs zu hinterfragen, ohne deswegen für verrückt erklärt zu werden.
Aber das tun Sie doch sehr erfolgreich.
Ich beklage mich auch nicht persönlich. Ich nutze meine Stimme, um anderen eine Stimme zu geben. In Deutschland leiden wir gerade an einem verschärften Schwarz-Weiß-Denken und einer schwer erträglichen Intoleranz. Das gefährdet die Demokratie. Wir müssen miteinander reden können, wir müssen Bedenken äußern dürfen, wir müssen uns gegen Unterstellungen und Diffamation wehren können. Und die Politik muss auch sehen, dass es beide Haltungen in der Bevölkerung gibt, ja, dass es durchaus von sehr vielen Menschen begrüßt wird, wenn jetzt nicht auch noch Kampfjets und Raketen an die Ukraine geliefert werden.
Gab es diese Unerbittlichkeit nicht schon immer in Deutschland? In den 70er-Jahren war die Stimmung doch ähnlich aufgeheizt.
Ja. Ich erinnere mich bestens, wie ich Mitte der 70er-Jahre aus Paris nach Berlin kam und völlig sprachlos war über diese dogmatische, radikalisierte Stimmung. Dieses absolute Freund-Feind-Denken bei den Söhnen und Töchtern der Nazis. Aber das war damals die Stimmung in Kreuzberg. Heute ist sie in Berlin-Mitte angekommen. So mancher Ex-Maoist, Ex-Leninist und all diese linken Sektierer, die schon damals entsetzlich waren, sind jetzt im Journalismus und in der Regierung angekommen, und ihre Russland- und China-Liebe ist in Hass umgeschlagen. Und so manche frühere Friedenstaube sieht sich jetzt als Haubitzen- und Panzerexperte. Das hat natürlich auch viel mit dem zu tun, was man in der Psychologie die „Reaffirmation von Männlichkeit“ nennt. Endlich kein Softie mehr sein müssen, sondern wieder ein ganzer Kerl sein dürfen.
Ist Annalena Baerbock ein Kerl?
Sie ist eine emanzipierte Frau. Das Säbelrasseln ist keine Frage des biologischen Geschlechts, sondern eine Machtfrage. Was mich angeht: Ich habe in meinem Leben selten etwas so Sinnvolles und Effektives gemacht wie in den vergangenen Wochen. Das ist für mich allenfalls vergleichbar mit der Aktion von 1971 „Wir haben abgetrieben“, dem Erscheinen vom „Kleinen Unterschied“ oder der Gründung von EMMA 1977. Ohne das Manifest würden wir zwei hier auch nicht sitzen und offen miteinander reden.
Ach, wir beide wahrscheinlich schon. Ich war stets der Meinung, dass es keine Schwarmintelligenz gibt. Aber wie geht es denn nun mit Ihrer Bewegung weiter?
Ich habe mit dem offenen Brief, dem Manifest und der Berliner Kundgebung einen Anstoß gegeben, und wir werden in EMMA die Lage weiter journalistisch begleiten. Aber ich habe nicht die Absicht, mich darüber hinaus weiter zu engagieren. Es ist alles gesagt. Sahra Wagenknecht wird das Ganze wohl in einer eigenen Partei münden lassen. Das macht ja auch Sinn für sie. In vielerlei Hinsicht.
Stört Sie der politische Hintergrund des einen oder anderen Unterstützers?
Nein. Ich finde Unterschiedlichkeit sogar gut. Die Kritik am Krieg kann gar nicht breit genug sein. Dass wir darüber hinaus unterschiedlicher Auffassungen sind, ist in einer pluralistischen Demokratie doch selbstverständlich. „Da kommen auch Rechte“, wurde geraunt, als Sahra und ich zur Kundgebung aufriefen. Doch wo fängt „rechts“ an? Und was bedeutet heute noch „links“? Relevant war für mich nur die Frage, ob es irgendwelchen rechtsradikalen – oder auch linksradikalen – Gruppen oder Führern wie AfD-Höcke gelingen könnte, unsere Kundgebung zu funktionalisieren. Das ist nicht geschehen, nicht zuletzt, weil wir es offensiv verhindert haben. Es waren Menschen aller politischen Richtungen da. Das wird auch ganz klar, wenn ich jetzt über die Straße gehe, in Köln oder Berlin. Frauen wie Männer, überwiegend mittleren Alters, winken mir zu und sagen Sätze wie: „Gut gemacht, Frau Schwarzer!“ Oder: „Weiter so, Alice, nicht einschüchtern lassen!“ Und: „Ich habe auch unterschrieben.“ Kurzum: Endlich ist sie sichtbar, die Hälfte der Bevölkerung, die gegen noch mehr Waffenlieferungen und für Verhandlungen ist, für Frieden statt Krieg.
Das Interview erschien zuerst in der Welt am Sonntag am 8. April 2023.